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TEILDOKUMENT:


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CHRISTOPH HUBIG
TECHNIK UND GESELLSCHAFT:
UNSERE VERANTWORTUNG VOR DER ZUKUNFT


1. Orientierung?

Nach der langen Reihe von Beiträgen, in denen eine ganze Reihe von Sachthemen und Perspektiven diskutiert worden sind, mag die Erwartung an einen philosophischen Beitrag zum Thema sich auf eine Einschätzung der Philosophen als „Spezialisten für das Allgemeine" stützen und nun einige grundsätzliche Erwägungen fordern. So abgegriffen jene Formulierung ist, so repräsentiert sie doch ein Vorurteil, das den Philosophen eine Kompetenz zur allgemeinen Orientierung unterstellt und zugleich von der Anstrengung entlasten kann, in eigener Kompetenz sich zu orientieren.

Oberste Grundsätze bedürfen einer Anerkennung, die nicht auf die Philosophie abgeschoben werden sollte. Grundsatzdebatten werden zur Bequemlichkeitsübung, wenn sie das alltägliche Entscheiden lediglich kompensieren - und die Zahl der Feiertagsreden zum Thema ist ja wohl umgekehrt proportional zu ihrer Wirkung auf Technikbewertungen und Entscheidungen zur Technikgestaltung in der Praxis. „Sich orientieren", wie Immanuel Kant diese Formulierung durchgängig gebraucht, erfordert freilich einen Kompaß zur Standortbestimmung, einen Kompaß, der bekanntlich die Ziele des weiteren Weges nicht vorschreibt. So wie ein Kompaß den Horizont nach Himmelsrichtungen ausdifferenziert, vermag vielleicht die Philosophie durch ihre begrifflichen Differenzierungsanstrengungen die nötigen Voraussetzungen für Entscheidungen beizubringen, die aber immer dem Einzelnen obliegen. Dies bedeutet jedoch keineswegs umgekehrt, daß diese Entscheidungen dann der persönlichen Willkür überantwortet wären. Denn die Freiheit des Entscheidens hat ihrerseits Voraussetzungen, die aus philosophischer Sicht offengelegt werden können, und deren Einhaltung dann sehr wohl einklagbar ist. Der oft als Gefahr für eine schlüssige Orientierung immer wieder ins Spiel gebrachte Pluralismus von Einstellungen, Werten, kulturellen Verfaßtheiten und Interessen beruht seinerseits auf einem stillschweigenden Konsens über individuelle Freiheiten, deren Fundament allerdings durchaus bedroht werden kann. Diese Bedrohung bloß zu beschwören hilft allerdings nicht weiter. Daher möchte ich zunächst einige Schlaglichter auf neuere Diskussionen zum Thema Technikentwicklung und Zukunftsgestaltung werfen, um dann einige begriffliche Differenzierungen anzubieten, die möglicherweise eine Orientierung befördern.

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2. Verantwortung?

Unsere Verantwortung vor der Zukunft: In diesem Tonfall kann ein gesellschaftliches Verantwortungskollektiv gefordert werden, das in dieser Rigidität auf Verrechtlichung, Eingrenzung, Vorschreiben oder Prohibition hinausläuft. Ohne daß ich in Abrede stellen will, daß dies in bestimmten noch näher zu bezeichnenden Fällen notwendig ist, finden wir in diesem Bereich sicherlich nicht die geeigneten Methoden zur Technikgestaltung, zur Wahrnehmung von Chancen oder zur Verhinderung von Risiken. Jegliche Prohibition fordert komplexe Umgehungsstrategien heraus, wenn sie von den Betroffenen nicht mitgetragen und anerkannt ist. Dies setzt bereits im anschaulichen Bereich ein bei den Tricks, ein vollbesetztes Fahrzeug zu suggerieren durch Beifahrerattrappen oder die Nutzung professioneller Anhaltertrios, um in den USA oder Holland das Privileg bevorzugter Fahrspuren genießen zu dürfen, oder durch die Einrichtung privater Müllverbrennung, die im Zuge der rigiden Entsorgungspolitik in Baden-Württemberg inzwischen zu einem entsprechenden Gestank über den Dörfern führt (was in seltsamem Verhältnis zum allgemein anerkannten Protest gegen die Installierung großer Müllverbrennungsanlagen steht, die mit den entsprechenden Filtern ausgestattet sind). Komplexere Umgehungsstrategien liegen in der Verlagerung problematischer Produktionsweisen ins Ausland oder der dortigen Nutzung von Deponiemöglichkeiten bzw. - zu Ende gedacht - in jeglicher reparaturethisch orientierten Maßnahme, die problematische Verfahren und Technologien durch das Kurieren an unerwünschten Nebenfolgen dennoch tragbar machen will und damit die Folgelasten lediglich verlagert (End-of-the-pipe-technologies).

Neben der Verrechtlichung als kollektiv getragener Verantwortungswahrnehmung bietet sich natürlich das Einwerben von Zustimmung in bestimmten Grundsatzfragen an. Hier scheint sich ein deutlich positiveres Bild zu ergeben: Wer ist schon gegen Ressourcenschonung, Umweltschutz, Favorisierung von Techniken mit möglichst geringer Eingriffstiefe, Beförderung recyclinggerechten Konstruierens oder eine ökologische Steuerreform als Anreizsystem, wie kürzlich bei der Debatte von Wissenschaftlern und Wirtschaftsexponenten mit den Grünen ersichtlich wurde: Wenn von den Grünen über die Daimler-Benz-Vertreter Ambos und Pollmann bis hin zu dem Wirtschaftsminister und natürlich der SPD ein solcher Grundkonsens besteht, scheint dies doch die Orientierungsunsicherheit in starkem Maße zu relativieren. Allerdings dürfte der Dissens sofort ersichtlich werden, wenn es um die konkrete Ausgestaltung und entsprechende Neufassung von Rahmenbedingungen der Techniknutzung gehen wird. Gerade dieser, oft nicht schlüssig zu leistende Übergang von Grundsatzerwägungen zu gut gerechtfertigten aktualen Entscheidungen in der Praxis hatte bereits Aristoteles veranlaßt, für den Bereich des Praktischen einen eigenen Typ von Philosophie zu fordern, der nicht die übliche Architektur aufweist, die jeweiligen konkreten Fälle in die Schubladen der Zugehörigkeit unter abstrakte Prinzipien einzuweisen. Denn die Sprengsätze werden erst dann ersichtlich, wenn man daran geht, diese abstrakten Grundsätze genauer zu interpretieren, z. B. den akzeptierten Grundsatz des Wirtschaftens in Kreisläufen: Auf diesen berufen sich sowohl die Befürworter als auch die Gegner des Einsatzes von Phosphaten in der Landwirtschaft oder des PVC-Recyclings, Die Fragen betreffen dann das Thema, wie sektoral oder umfassend ein solchermaßen installierter Kreislauf der Wiedergewinnung beispielsweise sein müßte, um dem Kriterium einer Kreislaufwirtschaft zu genügen. Der Dissens beruht auf dem Ausschluß oder dem Einbezug weiterer Parameter, wie z. B. der Frage des Aufwandes an Energie, die für das

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Recycling bereitgestellt werden muß, allgemeiner: Er bezieht sich auf die Zulässigkeit der Isolierung bestimmter Teilbereiche aus einem Gesamtkreislauf, dem möglicherweise höhere Relevanz zuzusprechen ist als der Effektivität eines kleinen Verfahrens der Nutzensoptimierung.

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3. Zukunft?

Desgleichen ist die Redeweise von der Zukunft eine begriffliche Erschleichung. Natürlich ist es durchaus sinnvoll, davon zu sprechen, daß wir in höherem Maße unsere Zukunft gestalten könnten bzw. in geringerem Maße Schicksalsschlägen ausgeliefert wären als die Alten. Allerdings erweist sich die Zukunft als Kollektivsingular oder monolithischer Block allenfalls demjenigen als etwas Einziges, der globale Gefahren, etwa für das Ökosystem, im Auge hat, oder - optimistisch - globale Maßnahmen zur Eindämmung bestimmter erwarteter Schäden, wie sie durch Unterernährung, Erbkrankheiten oder Kommunikationsdefizite hervorgerufen werden könnten. Wer solche Gesamtszenarien entwirft, so notwendig diese sind, gerät leicht in Versuchung zu übersehen, daß ein vielfältiges Arsenal von Zukünften als möglichen Kontexten unseres Weiterlebens zur Disposition steht. Damit ist das Stichwort gefallen: Möglichkeiten. Jede Entscheidung vernichtet eine ganze Reihe von Möglichkeiten, vernichtet damit auch ein Stück Zukunft und eröffnet aber zugleich eine ganze Reihe von Zukünften, die vorher als solche nicht realisierbar erschienen und allenfalls als logische Konstruktionen denkbar waren.

Diese Binsenweisheit wird allerdings dann zum ernsthaften Gegenstand des Nachdenkens, wenn man den Begriff der Möglichkeiten weiter differenziert. Unser Umgang mit Möglichkeiten, gerade im Bereich der Technikgestaltung, bezieht sich dabei auf dreierlei:

Erstens zerstören und schaffen wir ständig reale Möglichkeiten. Jede Güterabwägung im Umgang mit Chancen und Risiken bewegt sich in diesem Feld, Voraussetzung dafür ist, daß wir uns ein notwendiges Wissen über den Bereich des Eintretens der entsprechenden Nutzen- oder Schadensereignisse zutrauen, um auf dieser Basis ein Stück Zukunft ersichtlich werden zu lassen, was ja die Voraussetzung dafür ist, daß wir Verantwortung übernehmen können. Nutzenprognosen, Fehlerbaumanalysen, Ausfallsimulationen etc. auf einer wie auch immer gearteten statistischen Basis sollen unser Verhältnis zur Zukunft als dasjenige einer rationalen Gestaltung modellieren. Dabei ist die Rolle zwischen Experten und Betroffenen relativ klar gefaßt: Die Experten versuchen auf der Basis ihres Wissens die entsprechenden Schadens- oder Nutzensereignisse möglichst deutlich vorzustellen (meist auf quantitativem Wege), und den Betroffenen obliegt der Anerkennungsakt, ob sie zur Erreichung des Nutzens den entsprechenden Aufwand erbringen wollen oder einen möglichen Schaden in Kauf nehmen oder ablehnen. Jeder, der mit Technik umgeht, kennt diese Abwägungsprozesse, wie sie bereits bei der Nutzung von Verkehrsmitteln einsetzen. Das ist aber nicht die Zukunft im eigentlichen Sinne. Es ist sozusagen ein Stück verlängerte Gegenwart, Trendextrapolation, Vertrauen darauf, daß unser Abschätzungswissen hinreichend ist.

Brisant wird das Problem im zweiten Feld von Möglichkeiten, den hypothetischen oder theoretischen Möglichkeiten. Um diese kreisen schon in viel eklatanterem Sinne die differierenden Debatten, die auf Grund fehlender Wissensbasis zu bestimmten Grundsätzen Zuflucht suchen, Hypothetische oder theoretische Möglichkeiten erscheinen als solche

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erst im Lichte von Theorien oder Hypothesen. Diese Hypothesen oder Theorien beziehen sich erstens darauf, daß eine hinreichende Menge relevanter Parameter bei den entsprechenden Simulationen zukünftiger Ereignisse berücksichtigt worden sind und daß die Szenarien so entworfen sind, daß alle relevanten Zielvorstellungen und Absichten der in ihnen agierenden Subjekte triftig erfaßt sind - oder nicht. Sie beziehen sich zweitens darauf - nun als Theorien über die Relevanz der Nachweismethoden und Meßinstrumente - , daß dasjenige, was unter den Nachweisgrenzen liegt, auch wirklich irrelevant wäre und deshalb ein bestimmtes Risiko oder ein bestimmter Nutzen so und so modellierbar wären. Von den realen Möglichkeiten unterscheidet sich dieses Stück Zukunft dadurch, daß eine Wissensbasis als Ausgangspunkt der Zukunftserfassung keineswegs als gesichert anerkannt wird, so daß die relative Unsicherheit des ersten Aspektes von Zukunft nun ersetzt wird durch eine absolute Unsicherheit, absolut in dem Sinne, daß sie, wie das Wort sagt, losgelöst ist von einer gemeinsamen theoretischen Basis, und strikt abhängt von einem ersten Akt einer grundsätzlichen Anerkennung der theoretischen Grundlage. Man kann den Unterschied gut erkennen, wenn man das inzwischen oft geforderte Prinzip der Beweislastumkehrung in diesem Bereich wirksam werden lassen will: Wie soll ein Experte ein Risiko ausschließen, daß als hypothetisch möglich, aber unter der bisher erreichbaren Nachweisgrenze angesiedelt modelliert wird, z. B. der Elektrosmog oder die Krebssensitivität im Zusammenhang des Einsatzes bestimmter Technologien. Gleichwohl darf der Hinweis auf diesen Bereich keineswegs als Killerargument verstanden werden, etwa in dem Sinne, daß über hypothetische Möglichkeiten überhaupt nicht zu reden wäre. Nur sollte zunächst klar sein, daß hier eine Konfrontation bestimmter Theorien über die Zukunft überhaupt zur Diskussion steht und zu entsprechenden Entscheidungsstrategien zwingt und nicht ein Umgang mit wie auch immer modellierten Wahrscheinlichkeiten.

Aber mit diesen problematischen Feld ist das Spektrum der Zukünfte keineswegs erschöpft: Neben einer Unsicherheit auf einer anerkannten Wissensbasis (erster Fall) und einer Unsicherheit im Blick auf die Frage, wie Zukunft überhaupt zu modellieren wäre (zweiter Fall) haben wir inzwischen die Möglichkeit, den Kandidat der Zukunft überhaupt, sozusagen die Menge aller möglicherweise auftretenden Fälle, irreversibel zu erweitern oder einzuschränken. Wir sind inzwischen in der Lage, dasjenige, was man als Welt insgesamt bezeichnen würde, von uns aus zu erweitern oder in Teilbereichen oder als Gesamtheit zu zerstören. Damit haben wir Zugriffsmöglichkeit auf den Bereich überhaupt, innerhalb dessen allererst reale Möglichkeiten (als Chancen und Risiken) oder hypothetische Möglichkeiten (als Perspektiven der Erfassung dieses Weltbereiches) relevant sein können und zum Gegenstand von Streitigkeiten werden. Wenn Ökosysteme in Gänze zerstört oder künstliche Welten realisiert werden (von den Transuranen bis zur Erweiterung derjenigen Realität, mit der wir als Menschen umgehen im Zuge unserer Informationsverarbeitung, vom Eingriff in die Selbstorganisationsmechanismen der Evolution bis hin zur Erweiterung oder Einschränkung desjenigen, was bisher als menschliche Identität gefaßt wurde), dann richten wir unser Handeln auf die Möglichkeiten von Möglichkeiten. Und dieser kurze Blick auf die Zukunft möge vielleicht gezeigt haben, daß es fast verantwortungslos ist, von der Verantwortung für die Zukunft zu sprechen.

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4. Beispiele

Falls Ihnen diese Überlegungen haarspalterisch erscheinen sollten, so wird ein kurzer Blick auf Beispiele schnell zeigen, daß diese Dreiteilung der Typen von Zukunft noch viel zu grob ist. Natürlich lassen sich Beispiele für eine eindeutige Zuordnung leicht finden. Nehmen wir den ersten Bereich, die realen Möglichkeiten, somit das Feld einer wie auch immer gearteten Verantwortung für eine halbwegs erfaßbare Zukunft, die in ihren Eigenschaften abgeschätzt werden kann. Wenn die Briefpost ihre Bahntransporte nunmehr drastisch reduziert und ein erheblicher Teil der Brief- und Paketsendungen von der Bahn auf eigene oder angemietete LKWs verlagert werden soll, die in Autobahnnähe gebaute neue Frachtpostzentren zu beliefern haben, anstelle der bisher nachts eingesetzten Postzüge, so ist diese Reaktion auf das Fehlmanagement der Bahn, die die Postfracht aus schnellen Zügen ausgelagert hat und versäumt hat, moderne Ladesysteme einzusetzen, in ihren Folgen absehbar. Vermutlich hat keine Technikbewertung stattgefunden, wenngleich durch den Amortisationszwang der nun alternativ eingesetzten Technik weitreichende Folgen gezeitigt werden. Ökobilanzierungen haben vermutlich keine Rolle gespielt gegenüber der pragmatisch gebotenen Notwendigkeit, die in Mißkredit geratenen Transportmechanismen der Bundespost wieder konkurrenzfähig zu machen. Wenn aber eine Bewertung stattgefunden hätte, in diesem Fall als eine sogenannte reaktive oder technikinduzierte Bewertung vorliegender Verfahrensmöglichkeiten, so hätte diese sich im Bereich realer Möglichkeiten bewegt. Wenn eine hier anzusetzende Verantwortung vor der Zukunft bloß pragmatisch begründet werden sollte, so wäre dem entgegenzuhalten, daß hier doch eine Systeminnovation stattfindet, die weit mehr als eine bloß pragmatische Verbesserung der Verfahren beinhaltet. Der gesellschaftliche Dissens, der vermutlich über diese Innovation ausbrechen wird, dürfte begründet sein in unterschiedlichen Interessen der Beteiligten und Betroffenen. Dies erzwingt einen Mechanismus des Konfliktmanagements, der möglicherweise als Interessenausgleich, somit als Anerkennungsprozedur gestaltet werden könnte. Dazu später.

Wenn man aber bereits die Diskussionen um den Einsatz des Transrapid betrachtet, wird man feststellen, daß nicht bloß unterschiedliche Interessen in unterschiedlicher Weise Nutzen und Schaden, Chancen und Risiken ins Auge fassen. Vielmehr ist der Dissens geprägt durch völlig unterschiedliche Herangehensweisen an das Phänomen überhaupt. Zwar haben wir es auch hier mit einer technikinduzierten, reaktiven Technikbewertung zu tun, denn das Produkt ist ja bereits entwickelt. Wenn allerdings die Gegner des Transrapid von ihm als Fremdkörper in einem hochintegrierten und zunehmend weiter auszubauenden System europäischer Schnellverbindungen sprechen, und die Befürworter im Gegenzug darauf verweisen, daß neue Systeme mit später hoher Akzeptanz wie etwa die erste Eisenbahnverbindung zwischen zwei einzelnen Städten zunächst auch als Fremdkörper begriffen wurden, so zeigt sich, daß hier völlig unterschiedliche Paradigmen der Modellierung der entsprechenden Systeme einander gegenüberstehen. Im ersten Fall ist die Basis der Modellierung ein als anerkannt begriffenes und im dynamischen Ausbau befindliches System der Ermöglichung von Mobilität. Im zweiten Fall beruht das Szenario auf einem bloß anfänglich gefaßten Zusatznutzen, der aber zu einer Gesamtrevolutionierung unseres Verkehrsverhaltens führen soll, erst recht, wenn dieses Szenario begleitet wird von demjenigen anderer Kommunkationsverbindungen, die die bisherigen Mobilitätstraditionen als überholt erscheinen lassen. Wiederum fundamental hiervon verschieden ist eine

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dritte Problemmodellierung, die den Transrapid als Demonstrationsprojekt in wirtschaftlicher, genauer: exportorientierter Hinsicht betrachtet, sozusagen als überdimensioniertes Schaufensterelement, und ihn damit aus einer europäischen Mobilitätsdiskussion heraushebt, hier also nicht ein System einem anderen gegenübergestellt wird, sondern einem alten System lediglich ein neues Systemsegment beiordnet, das überdies noch anderen Zielen untergeordnet bzw. funktional verpflichtet ist. Von dieser Modellierung wiederum unterschieden ist eine vierte, die die Magnetbahntechnologie für durchaus begrüßenswert hält, z. B. im Blick auf Ökobilanzeffekte oder ähnliches, aber nicht dem Teilsystem der Personenmobilität unterstellt, sondern als unbedingt zu fordernde überlebenswichtige Innovation für den Bereich effektiven Gütertransportes reklamiert, wie in der ITG-Studie geschehen. Der Transrapid erscheint dann als abgefallener Sprößling einer begrüßenswerten Technologie, und die Gefahr wird ersichtlich, daß mit einem möglichen ökonomischen oder wie auch immer gearteten Scheitern des Projektes eine gesamte Technologie auf längere Sicht disqualifiziert ist. Schließlich erscheint denjenigen, die den Transrapid überhaupt als mißliche Optimierung von Mobilität betrachten, die für sich als (abgeleiteter) Wert zu kritisieren wäre, das Problem wiederum in anderem Lichte, z. B. dem der Ressourcenvergeudung. Und zwischen all diesen Positionen sind Vermittlungsformen denkbar, etwa der Befürwortung nur für Exportzwecke oder der kompromißlosen Ablehnung wegen der aufwendigen Landschaftsumgestaltung etc. Es wird leicht ersichtlich, daß eine Risiko- oder Chancenabwägung hier nicht auf einem gemeinsamen Definitionsbereich ausgetragen wird, sondern je nach Absicht Risiko- und Chancenkonzepte völlig unterschiedlich modelliert sind. Das gilt gerade auch für die Sicherheits- und Aufwandsmodellierungen. Wer den Transrapid als Vorreiter eines neuen Systems mit einer entsprechenden Umgestaltung von Landschaft und Ökosystemen, Städten und Transportstrategien begreift, im Unterschied zu denjenigen, die hier ein regionales Demonstrationsobjekt zu Exportzwecken zur Basis ihrer Argumentation nimmt, kommt zu unterschiedlichen Resultaten bezüglich des zu erbringenden Aufwandes für die Transportsicherheit - für den Einzelfall oder für ein größeres System hochzurechnen.

Ähnliches gilt für den Streit um die Just-in-time-Anlieferung. Der kürzlich nachgewiesene Sachverhalt, daß im wesentlichen die Automobilproduzenten diese Anlieferungsstrategie nutzen, die ihrerseits in extensivem Maße genau die Dienstleistungen jener Industriesparte in Anspruch nimmt einschließlich aller externalisierten Folgekosten, läßt die Gestaltung völlig unterschiedlicher Szenarien zu im Blick auf eine Kritik dieses Zustandes als überwindenswert oder als erster Weg zu einer Lean-Production, die lediglich noch der Effektivierung der Transportmechanismen bedarf, die durch Straße oder Schiene in diesem Umfang dann nicht mehr erbracht werden können.

Der Umgang mit den entsprechenden hypothetischen Möglichkeiten hat aber auch die bereits erwähnte andere Komponente, daß je nach dem Strickmuster der entsprechenden Hypothesen auch die Nachweisschwierigkeiten für den entsprechenden zu erwartenden Schaden oder möglicherweise zu projektierenden Nutzen völlig unterschiedlich gefaßt werden können. Von Argumenten, die zu hören waren, daß unser Umgang mit starken Magnetfeldern noch keineswegs in seinen möglichen Folgen auch nur halbwegs modelliert wäre mangels Nachweismethoden bis hin zu den Hinweisen, daß bestimmte Emissionen, wenn auch nicht monokausal, so doch in ihrer synergetischen Wirkung möglicherweise für bestimmte Schäden in Anschlag zu bringen sind, reicht ein weites Feld von Argumentatio-

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nen, oft verbunden mit Forderungen nach Beweislastumkehrung für die Verursacher im Blick auf den Ausschluß der entsprechenden Risiken.

Und für den letzten Bereich, denjenigen der Zerstörung von Welt bzw. der Erweiterung von Welt im Blick auf die Gegenstände unseres Umgangs durch den Einsatz bestimmter Techniken mögen die Hinweise auf die Intervention in die Evolution etwa durch Genrekombination freizusetzender Organismen auf der einen Seite oder der Herstellung künstlicher Welten durch die Vernetzung von Kommunikationssträngen andererseits ausreichen. Während die Gentechnologiediskussion soweit geführt ist, daß ich sie hier nicht noch einmal auszubreiten brauche, sei im Blick auf den zweiten Bereich neben der nachweisbaren Veränderung von Lern- und Kreativitätsprozessen durch den Einsatz bestimmter Kommunikationstechnologien oder Technologien der Informationsverarbeitung auf ein kürzlich in die Diskussion gebrachtes Problem verwiesen, nämlich das der Erweiterung der Welt unseres Wirtschaftens, sprich unseres Umganges mit Gütern: Die überproportional und exponentiell wachsende Welt des Rechnens, Kalkulierens, Entscheidens - somit des Hoffens, Erwartens, Befürchtens oder Verhinderns - im Umgang mit sogenannten Derivaten, Finanzkunstprodukten, im wesentlichen Optionen für Optionen des Handels („Wetten"), die in ihrer Virtualität überhaupt nicht modellierbar wären, wenn nicht die Techniken zur Gestaltung dieser Finanzkunstprodukte bereitständen, die durch die Art der Kommunikation über diese Kunstprodukte diese zugleich definieren. Denn interessant in diesem Zusammenhang ist die operationale Definition dieser „Optionen über Optionen" durch die Zeitpunkte möglicher Reaktionen auf entsprechende Entwicklungen, den sogenannten Ein- oder Ausstieg in ein entsprechendes virtuelles Geschäft. Bezeichnenderweise tauchen diese künstlichen Märkte in den Bilanzen selbst überhaupt nicht auf, können aber sehr wohl auf diese Märkte zurückwirken.

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5. Verantwortungsübernahme? Pragmatiker und Idealisten

Wie kann aber nun ein derartig ausdifferenziertes Feld von Zukünften überhaupt auf entscheidungsfähige Größen insoweit reduziert werden, daß in sinnvoller Weise von Verantwortungsübernahme gesprochen werden kann? Bekanntlich gibt es zwei Grundstrategien, sich diesem Problem zu stellen, die ich unter die Klischees des pragmatischen oder idealistischen Vorgehens, die Figur des Pragmatikers oder des Idealisten stellen will. Daß dies zwei völlig konträre Positionen sind, scheint auf den ersten Blick deutlich zu werden, wenn wir sie in Verhältnis setzen zu der Forderung von Hans Jonas, die jeweils schlechteste Prognose zum Ausgangspunkt der Bewertung zu nehmen. Der Pragmatiker wird kritisch darauf verweisen, daß ihn dies zur Handlungsunfähigkeit überhaupt verdamme, der Idealist wird dies zum Anlaß nehmen, gerade für solche Bereiche das Nichthandeln einzufordern. Den radikalen Idealisten wird dabei wenig beeindrucken, daß sofort der Hinweis auf die Notwendigkeit erfolgt, in weiten Bereichen die Weiterentwicklung überhaupt einzustellen. Interessant aber ist wohl ein Blick auf die Karriere, die jene beiden Entscheidungstypen genommen haben, wobei sich schnell erweisen wird, daß unsere Klischees hier nicht sehr weit tragen: Die Haltung des Pragmatikers war in den Auseinandersetzungen der 70er Jahre unter das Leitwort der sogenannten Stückwerktechnologie gestellt. Gemeint war damit, daß eine Innovationsstrategie der kleinen Schritte garantieren sollte, daß in abgegrenzten Bereichen der jeweilige Effekt der Interventionen ersichtlich, somit mögli-

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cherweise revidierbar oder kompensierbar ist. Getragen werden sollte dieses Verfahren vom permanent fortgeschriebenen Kompromiß- und Interessenausgleich. Ein vorsichtiges Konfliktmanagement sollte garantieren, daß bei jeder Intervention möglichst viele Handlungsoptionen offen gehalten werden, was seinerseits als Basis dafür angesehen wurde, daß für die meisten Probleme ein Konsens als realer Konsens der beteiligten gesellschaftlichen Gruppen erreichbar wäre, insbesondere wenn eingrenzbare Risiken begleitet werden von Anreizen, Chancen und Gratifikationen. Diese von Karl R. Popper und Helmut Schmidt favorisierte Stückwerktechnologie als Politik der kleinen Schritte und behutsame Annäherung und Gestaltung der Zukunft scheint die Fronten gewechselt zu haben, wenn man an die Forderung nach kleinen Schritten und der Zurückhaltung vor Systeminnovationen (etwa den Einsatz genrekombinierter Einzeller in der Müllverwertung) denkt: Die entsprechende Strategie wird nun von den ökologisch orientierten Warnern und Mahnern eingeklagt, denen der Fortschrittsoptimismus im Blick auf neue technische Großsysteme ungerechtfertigt erscheint.

Ursprünglich nun sahen sich die Stückwerktechnologen den Idealisten, Ganzheitsdenkern oder „Holisten" gegenüber, die eine universelle Renovierung oder Ablösung der alten Systeme unter dem Hinweis forderten, daß die faktisch vorliegenden Interessen, auch auf dem Wege ihres Ausgleiches und erst recht dadurch, uns in verhängnisvolle Entwicklungen hineintreiben. Für die Holisten - wie in polemischer Absicht auch die Vertreter der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule bezeichnet wurden - konnte nicht ein faktischer Konsens als kompromißlerischer Interessenausgleich maßgeblich sein. Instanz und Richtschnur des Planens sollte vielmehr ein hypothetischer Konsens werden, also einer, der durchaus gegen die realen Interessen den entsprechenden Beteiligten unterstellbar wäre, wenn sie „frei" und „autonom", nicht „ideologisch deformiert" oder „eindimensional" entscheiden würden. Während für die Pragmatiker Personen als Träger von realen Interessen definiert sind, sind hier die Personen als Träger von Freiheit und Autonomie gefaßt, die gegenüber ihren eigenen Interessen regelrecht in bestimmten Fällen zu schützen wären. Nicht das Offenhalten von realen Optionen leitet im wesentlichen die Strategie dieser Argumentation, sondern der Verweis auf den Wert menschlicher Identität als auf Freiheit und Autonomie gegründet. Im Interesse von deren Erhaltung sieht der Idealist die Mittel der Verrechtlichung, des Verbotes und der Prohibition als geeignete Maßnahmen zur Erhaltung der Autonomie entgegen den faktischen Interessen an Wohlbefinden, Wohlfahrt oder ähnlichem als durchaus primär an. Auch hier nun ein Frontenwechsel: Holistische Einstellungen sind inzwischen durchaus auch bei denjenigen zu finden, die, von einem ungebrochenen Technikoptimismus getragen, die Technik als unbedingt weiterzuentwickelndes Allheilmittel für globale Probleme der gegenwärtigen Welt ansehen, von der Nutzpflanzenoptimierung zur Bewältigung der Welthungerkrise, von der Verteilungsoptimierung zum Abbau von Ungerechtigkeiten, von der Kernkraftoptimierung zur Vermeidung der Klimakatastrophe bis hin zur Optimierung von Kommunikation als Herstellung eines Menschen, der der steigenden Komplexität der Gesellschaft, die als Informationsüberflutung wahrgenommen wird, Herr werden sollte. Daß gerade die Informatisierung unserer Gesellschaft holistische Züge hat, dürfte unbestreitbar sein.

Aus philosophischer und vielleicht orientierungsstiftender Sicht ist festzuhalten, daß den beiden Einstellungen völlig unterschiedliche Auffassungen von dem zugrunde liegen, was eine betroffene „Person" ausmacht, und dem, was Ziel des Konfliktmanagements sein sollte: Der Pragmatiker begreift Personen als Träger von Interessen, und diese Posi-

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tion hat mannigfache Auswirkungen auch auf die Diskussionen um den Einsatz moderner Technologien im biowissenschaftlichen und medizinischen Bereich: Sie grenzt diejenigen aus, die nicht als Träger von Interessen angesehen werden können, und sie verweist auf die Unmöglichkeit, etwa für zukünftige Generationen bestimmte Interessen zu unterstellen, da sich die Vorstellung von dem, was erstrebenswert sei, bekanntlich in einem rasanten Wandel befindet. Das bedeutet weiterhin, daß Optionen nur für diejenigen aufrecht zu erhalten sind, denen Interessen daran unterstellt werden können, später mögliche Interessen zu realisieren, z. B. also nicht für ungeborenes Leben. Umgekehrt betrachten diejenigen, die als Idealisten oder Holisten etikettiert wurden, die Person als durch Freiheit und Autonomie definiert. Autonomie als nicht differenzierbare und nicht teilbare Instanz bedeutet die unbedingte Fähigkeit zur Selbstbestimmung. Im radikalen Fall bedeutet diese Fähigkeit zur Selbstbestimmung sogar, daß die entsprechende Person bestimmen kann, was sie überhaupt unter Selbstbestimmung versteht. Daraus resultiert die radikale Ablehnung von Freiheitseinschränkungen, selbst wenn sie von Wohlfahrtsleistungen und Glücksvermittlung kompensiert wird, weil damit das Spektrum der Selbstbestimmung unzulässig eingeschränkt wird. Mit Hinweis auf uns fremde Einstellungen der Selbstbestimmung bei anderen Personen, die oft als „nicht normal" gelten, oder bei der zu unterstellenden Selbstbestimmung zukünftiger Generationen, geht diese Haltung mit einer radikalen Verurteilung von Eingriffen in eine Welt einher, die die entsprechenden Personen insofern unter Folgelasten setzt, als ihnen unsere Vorstellung von Autonomie aufgedrängt würde. Die radikale Forderung nach einem „kontrafaktischen" oder „hypothetischen" Konsens meint damit in ihrer (problematischsten) Form, daß die Identität des Menschen als Selbstbestimmungsfähigkeit in keiner Weise zu tangieren wäre. Aus dieser Haltung speist sich auch die radikale Ablehnung der gentechnischen, auch therapeutischen Gestaltung von menschlichen Lebewesen. Insbesondere die technische Prägung der menschlichen Ausstattung durch andere Menschen wird hier kritisiert, während die Vorgabe entsprechender Bedingungen durch „natürliche" Prozesse qualitativ anders gefaßt wird, insofern, als eine nichtmenschliche Herausforderung durch äußere Handlungsbedingungen den Einzelnen nicht in einer Autonomiekonkurrenz oder einen Autonomiekonflikt bringt, sondern auf sich selbst zurückwerfe.

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6. Institutionen und Dissensmanagement

Der Rückzug auf Konfliktmanagement als Interessenausgleich beim Pragmatiker oder auf die idealistische Forderung der bedingungslosen Erhaltung von Freiheit hat aber in beiden Fällen eine brüchige Basis: Sie überfordern das einzelne Individuum in unerträglicher Weise und verfehlen eine wichtige Dimension des Handelns überhaupt, das nicht bloß von Individuen in individuellen Interaktionen realisiert wird, sondern einer sozialen Basis bedarf, die wir in unserer institutionalisierten Gesellschaft zu realisieren versuchen. Der Fehler der Individualisierung der Entscheidungslast setzt sich auch in das Konfliktmanagement zwischen Individuen fort. Ein zweiter Fehler liegt darin, die individuelle Gestaltungsleistung im Blick auf die Herstellung größtmöglicher Sicherheit zu überfordern - die alte Auffassung, daß das Zufällige, Ungeordnete, nicht Gestaltete, insgesamt das „Böse" und zu Bekämpfende ausmachen.

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Bereits Kant hat an einer wenig beachteten Stelle (Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, 1. Abschn.) den Konflikt zwischen einem radikalen Beharren auf Erhaltung freien Handelns, also der Autonomie auf der einen Seite und der Herstellung einer entsprechenden pragmatisch begründeten Wohlfahrt auf der anderen Seite gesehen. Da erst ein hinreichendes Maß an Wohlfahrt uns überhaupt moralitätsfähig mache, in dem Sinne, daß wir dann von unseren direkten lebensnotwendigen Interessen und Neigungen, die uns zu bestimmten Verhaltensweisen zwingen, absehen könnten und uns weiterreichenden Gestaltungsprozessen in Form einer Reflexion über die Rechtfertigungsgründe unseres Handelns zuwenden könnten, gebe es eine Pflicht zur Wohlfahrt. Not lehrt gerade nicht Denken, sondern Not lehrt nur geschicktes Reagieren. Die Erfahrung der Endlichkeit jeglicher individueller Handlungs- und Entscheidungskompetenz läßt die Artikulation von Forderungen an Institutionen zu, auf der Basis, daß Institutionen im wesentlichen ihre Existenzberechtigung in der Erhaltung individueller Handlungskompetenz haben. Sie stellen die materiellen und wissensmäßigen Voraussetzungen bereit, die dem Einzelnen überhaupt das Handeln ermöglichen. Wenn Individuen unterschiedliche Vorstellungen vom guten Leben haben und sich diese Vorstellungen auch in der Zeit radikal ändern können, so ist eine Funktion der Institutionen, diesen Wandel und diese Unterschiedlichkeit zu garantieren. Das betrifft gerade den Umgang mit der Zukunft als Möglichkeit: Institutionen sind die Subjekte, die diese Möglichkeiten im wesentlichen gestalten.

Die Orientierung auf Konsens - und wir haben in unserer Gesellschaft in vielen zukunftsträchtigen Fragen meines Erachtens zu viel „schlechten" Konsens, d. h. eine unreflektierte Überlassung an das, was allgemein für zwangsläufig und richtig erachtet wird - müßte deshalb eher einem Dissensmanagement wachen: Dieses hätte Konflikte insofern zu regeln, als es jeden einzelnen Fall in viererlei Hinsicht prüft:

  • (1) Ob die Entscheidung in die Kompetenz des Einzelnen zu stellen ist - insofern also die Konflikte neutralisiert und ausgehalten werden. Eine solche Reprivatisierung oder Individualisierung des Dissenses wäre in unserer Gesellschaft z. B. in der Frage der Geburtenregelung und des Schwangerschaftsabbruches anzumahnen, nicht jedoch wohl in bestimmten Ländern der Dritten Welt.
  • (2) Ob die Entscheidung zu realisieren ist im Blick auf die Gefahr, daß die Befolgung einer Entscheidungsstrategie die Entscheidungskompetenz aller gefährdet. Die Entscheidungskompetenz - die Fähigkeit zu wählen - jedes Einzelnen muß dann im Blick auf ihre Erhaltung angemahnt werden, und deshalb wären Ad-hoc-Entscheidungen entweder einzugrenzen oder umgekehrt zu befördern, wenn sie dieser allgemeinen Kompetenz dienen. Institutionen geführte Diskurse könnten in solchen Fällen an die parlamentarischen Gremien die Forderung nach Verrechtlichung im bestimmten Fall erheben und begründen.
  • (3) Ob eine Konfliktverlagerung auf „Nebenkriegsschauplätze" möglich ist, also eine Konfliktvermeidungsstrategie in Sicht ist, z. B. Optimierung der Energiedienstleistungen anstelle des Streites um die Energiebereitstellung, Optimieren der Güterverteilung - statt des Streites um Nutzpflanzenoptimierung. Auch hier ist das Problem je nach Kontext durchaus unterschiedlich strukturiert (gerade im Blick auf die „Dritte Welt"),

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  • (4) Ob die schlechteste Lösung, der Kompromiß, unausweichlich ist. Jeder Kompromiß schreibt Mängel fort und akkumuliert sie. In vielen Fällen kommen wir aber um Kompromisse nicht herum.

Konkreter: Im Blick auf die Technikgestaltung der Zukunft würde dies bedeuten, daß (1) im allgemeinsten Sinne zunächst einmal Institutionen dafür Sorge zu tragen ist, daß die Bewertung des Einsatzes von Technik überhaupt für die Einzelnen wieder möglich wird. „Die Einzelnen" bedeutet in diesem Zusammenhang sowohl die individuellen Techniknutzer, als auch die Unternehmen, die Techniken entwickeln, als auch die gesellschaftlichen Gruppen, die Techniken im Sinne ihrer Interessen einsetzen. Sowohl wissensmäßig als auch was die materiellen Grundlagen angeht, sind diese Instanzen der Technikbewertung überfordert, wenn sie nicht institutioneil unterstützt werden: Dies gilt für die einzelnen Techniknutzer im Blick auf eine transparente Darstellung kontroversen Expertenwissens;

das gilt für die industriellen Technikentwickler im Blick auf die Notwendigkeit einer Koordinierung der Entwicklungsarbeit und eine Kompensation der durch Konkurrenzverhalten verunmöglichten oder verzerrten Bewertungsprozesse zum Schaden derjenigen, die die Bewertung vornehmen, etwa in Folge des zeitlichen Verzuges der Entwicklung.

Zu (2): Für die gesellschaftlichen Gruppen überhaupt im Blick auf die Bereitstellung von Regulationen, die bei kontroversen Gruppenhaltungen für eine Chancen- und Risikoverteilung bzw. einen kompetenzerhaltenden Umgang bis hin zur Möglichkeit einer Ablehnung von Risikoübernahme sorgen, müßte etwa eine Technikgerichtsbarkeit, die analog verfährt wie die Kartellgerichtsbarkeit im ökonomischen Bereich, die Grenzen des Handelns in bestimmten Fällen festlegen können.

Zu (3): Hier wäre die wichtigste Aufgabe der entsprechenden Institutionen, Themenfindungsdiskurse und Problemevaluierung zu betreiben: Was wollen wir überhaupt, wo drückt uns der Schuh? Zu vielen gerade umstrittenen Techniken fehlen ersichtlicherweise die brisanten Probleme, die durch sie gelöst werden sollen (Nutzpflanzenoptimierung), während andernorts Problemdruck herrscht (Gütertransport).

Zu (4): Kompromisse sind oft inhaltlich und organisatorisch unumgänglich: So im Bereich der Energiebereitstellung auf der Basis des „Energie-Mix", in der Ingenieur-Ausbildung zwischen Fach- und allgemeiner Ausbildung zum Umgang mit Technik etc.

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7. Subsidiarität

Wenn institutionelles Handeln als Garantierung der Möglichkeit eines kritischen individuellen Umgangs einschließlich relativ individueller unternehmensbezogener Technikentwicklung und -gestaltung zu fassen ist, bedeutet dies, daß in diesem Bereich das Subsidiaritätsprinzip wieder zu seinem vollen Recht kommen muß, was insbesondere impliziert, daß die Lasten, die der Einzelne nicht übernehmen kann, von jeweils höheren Institutionen getragen werden. Eine entsprechende Institutionenethik, die ich an anderer Stelle entworfen habe, zielt darauf ab, jenseits der individuellen Realisierung von Interessen und des Interessenausgleiches als Kompromiß die Handlungsbedingungen und die Kompetenz zum Handeln überhaupt zu erhalten. Dies bedeutet insbesondere, daß die bereitzustellenden Optionen des individuellen Handelns (Verkehr, Kommunikation) mit der Erhaltung der

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Identität des Handelnden (Privatheit, Datenschutz, Integrität der Person, Gesundheit) ausgeglichen werden müssen, also nicht durch die Optimierung bestimmter Effekte die Kompetenz zum Umgang mit Problemen eingeschränkt wird, wie wir es beobachten können bei der Entwicklung, Vermarktung und dem Einsatz von Techniken, die lediglich einen Zusatznutzen erbringen. Dafür kann es keine Patentrezepte geben, sondern nur eine adäquate Einzelfallbetrachtung: In bestimmten Situationen ist durchaus ein Systemwechsel auf dem Boden eines Kompromisses in der Gegenwart für die Zukunft anzumahnen, z. B. wenn es um Strategien der Energiebereitstellung geht. In anderen Situationen ist ein Moratorium der Systemkonkurrenz zu fordern zugunsten einer dritten Lösung, die diese Konkurrenz erübrigt, wie es etwa bei den Entsorgungssystemen angesichts der Möglichkeiten der Einsparung von Abfall und Folgelasten oder bei der Nutzpflanzenoptimierung angesichts der möglichen Verbesserung der Verteilungswege ins Blickfeld gerät. Dissensmanagement kann als m. E. beste Strategie diejenige erweisen, von einem Dissens auf einen anderen Schauplatz überzuleiten (um nicht zu sagen abzulenken), bis die einzelnen Positionen in sich fundierter und in ihrem Verhältnis genauer bestimmt sind. Ich erinnere an das Beispiel Transrapid.

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8. Institutionen als Träger von „Gemeinsinn"

Es ist kein Zufall, daß allerorten neben der verrechtlichenden Tätigkeit des Staates und dem Beharren auf dem Wertpluralismus der Individuen der Ruf nach neuer institutioneller Verantwortungsübernahme ertönt, wie er z. B. die letzte Tagung des Bergedorfer Gesprächskreises (Biedenkopf) prägte, wie er das Aufkommen organisierter Initiativen im Zwischenbereich zwischen Experten, Wirtschaft und Techniknutzern leitete, z. B. die Verbraucherverbände und Initiativgruppen, wie er allgemein - sieht man von den ideologiebelasteten Auswüchsen einmal ab - neue Zwischeninstanzen zwischen Staat und Individuum fordert (und als Träger eines solchen Gemeinsinnes haben die Philosophen die Institutionen immer bezeichnet). Es ist kein Zufall, daß in der gleichen Situation aus gewerkschaftlicher Sicht die Gratifikation für das Individuum in den Tarifauseinandersetzungen nur noch zu einem Aspekt neben einer institutionell getragenen qualitativen Umgestaltung von Arbeit wird, begleitet von Anreizsystemen, die eine weitere Aufgabe der Institutionen ausmachen, vermöge ihrer Leistung, Angebote, also Kandidaten der Zwecksetzung und Mittelwahl, für das einzelne Individuum bereitzustellen.

In summa: Verantwortung vor der Zukunft kann angesichts der diversifizierten Zukünfte im wesentlichen nur durch eine institutionell unterstützte und institutionell getragene Sensibilisierung der Einzelnen für dieses Problem stattfinden. Individuen sind auf den Umweg über die Institutionen angewiesen, wenn sie Zukunft gestalten wollen. Im Sinne des Subsidiaritätsprinzipes sind die Institutionen in neuer Weise gefordert, angesichts der Überlastung der Individuen in handlungs- und wissensmäßiger Hinsicht beim Umgang mit ihren Zukünften diejenigen Aspekte zu verwalten, die die Erhaltung der Kompetenz individueller Technikgestaltung und individuellen Entscheidens betreffen. Das berührt den einzelnen Ingenieur in seinen abhängigen Arbeitsverhältnissen genauso wie den in den widersprechenden Expertenmeinungen alleingelassenen Techniknutzer; das betrifft den in der Entwicklungskonkurrenz befindlichen Unternehmer genauso wie den langfristig denkenden Gewerkschaftler, der für qualitatives Wachstum eintritt.

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Schließlich sei angemerkt, daß der wiederholt proklamierte Weg in die Dienstleistungsgesellschaft angesichts unserer hochtechnisierten Kultur eine logische Konsequenz des zunehmenden Bedarfs an Kompetenzerhaltung ist: Beratung wird zum wichtigeren Erfordernis als die Bereitstellung neuer technischer Artefakte; der Beratungsingenieur im Bereich der Energiedienstleistungen (z. B. bei der Gestaltung einer Hausheizungsanlage, die für jedes Haus aus einem Baukastensystem anders zusammenzusetzen wäre), wird wichtiger, als derjenige, der immer weiter (an bestimmten Heizkesseln) optimiert, abgesehen davon, daß dies zunehmend von Expertensystemen übernommen wird. Der Weg in die Dienstleistungsgesellschaft kann aber nur durch eine Senkung der Lohnnebenkosten befördert werden, denn Dienstleistungen sind personalintensiv, und diese Senkung der Lohnnebenkosten wird, wie ich denke, nicht zufälligerweise auch von denjenigen gefordert, die eine ökologische Steuerreformen von Entlastungen auf anderen Gebieten begleitet sehen wollen.

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Literatur

Christoph Hubig: Technik-und Wissenschaftsethik. Ein Leitfaden. Berlin-Heidelberg-New York: Springer 1993


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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