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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 91 ]


MICHAEL POHR
WIE STELLT SICH DIE INDUSTRIE AUF ZUKÜNFTIGE TECHNOLOGIEN UND AUF DIE VERÄNDERUNGEN IN DER GESELLSCHAFT EIN?


Wie stellt sich die Industrie auf den raschen Wandel der Technik und der Technologie und auf die schnellen Veränderungen in der Gesellschaft ein? Und wie bewältigt sie diese Herausforderungen in der heutigen wirtschaftlichen Situation und unter den gegebenen strukturellen Rahmenbedingungen?

Mittel- und langfristige Prognosen, wie die Welt morgen aussehen wird, gestalten sich immer schwieriger. Nur eines ist sicher: Das Tempo des Wandels wird steigen.

Das betrifft natürlich ganz besonders die Industrie. Die Innovationszyklen werden immer kürzer, die Lebensdauer neuer Produkte wird immer geringer. Die Forschung bringt immer neue Erkenntnisse. In der Mikroelektronik, in der Kommunikationstechnologie, in der Gen- und Biotechnik, in der Verkehrstechnik und der Umwelttechnik ist die Entwicklung rasant. Früher sicherten neue Produkte den Unternehmen oft über Jahre Wettbewerbsvorteile. Heute beträgt dieser Zeitraum in einigen Branchen nur Monate. Langfristige Wettbewerbsvorteile lassen sich über Technologieführerschaft allein kaum noch erzielen.

Wie also kann sich die Industrie auf zukünftige Technologien einstellen, wenn heute teilweise nur noch technologische Trends erkennbar sind, aber die konkreten Planungshorizonte in den Unternehmen für Forschung und Entwicklung immer kürzer werden?

Eine Antwort darauf ist: Die Industrie muß schneller, flexibler und anpassungsfähiger werden, um auf solche kürzeren Technologiezyklen schneller und flexibler reagieren zu können. Viele Unternehmen in Deutschland weisen heute aber ein Kreativitäts- und Innovationsdefizit auf. Das Hervorbringen marktreifer Produkte dauert zu lange. Entscheidungsabläufe sind oft langwierig und ineffizient. Ein Prozeß- und Kostenbewußtsein ist zwar heute allgemein vorhanden, aber ungenügend ausgeprägt- auch in Forschung und Entwicklung.

Nicht nur der technologische Wandel, sondern auch der Wandel unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft und unserer politischen Rahmenbedingungen stellt neue Anforderungen an die Industrie. Ich betrachte das als Chance! Auf einige dieser veränderten Rahmenbedingungen möchte ich im folgenden kurz eingehen:

Das Wachstum in den Industrienationen hat sich unabhängig von der Rezession verlangsamt. Die Märkte dieser Länder für Konsumgüter sind weitgehend gesättigt. Dies spüren natürlich auch die Hersteller von Investitionsgütern, weil zum Beispiel weniger Produktionsanlagen und weniger Energie benötigt werden.

Wachstumsmärkte liegen vor allem in Südostasien. Anbieter aus Europa, Amerika, Japan und zunehmend auch den anderen asiatisch-pazifischen Staaten drängen auf diese Wachstumsmärkte. Eine globale Verschärfung des Wettbewerbs ist die Folge. Für die Unternehmen bedeutet das: In vielen Bereichen sind Kostensenkungen von bis zu 30 Prozent erforderlich. Das gilt natürlich insbesondere für die deutschen Unternehmen. Eine weitere Rahmenbedingung ist die Öffnung Osteuropas mit seinen Niedriglohnressourcen. Die Arbeitskosten dort liegen bei etwa einem Zehntel des deutschen Niveaus. Dies ist eine

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Chance für die deutschen Unternehmen, durch arbeitsteilige Zusammenarbeit die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig zu verbessern.

Dies kann sich für die Zukunft unseres Wirtschaftsstandorts und damit unserer Gesellschaft positiv auswirken. Auf der einen Seite, weil die Nutzung Osteuropas als Produktionsstandorte die Volkswirtschaften dort wirtschaftlich gesunden läßt. Die Finanzmittel, die ihnen so zufließen, ermöglichen wirtschaftliches Wachstum. Von den dadurch entstehenden neuen Märkten wird dann auch die deutsche Industrie wiederum profitieren können.

Auf der anderen Seite führt internationale Arbeitsteilung über verbesserte Wettbewerbsfähigkeit zu wieder mehr Beschäftigung. Nur wenn die deutsche Wirtschaft sich im internationalen Vergleich behaupten kann, werden neue Arbeitsplätze entstehen. Gleichzeitig muß die deutsche Wirtschaft sich verstärkt auf das Hervorbringen von Hoch- und Hochnutzentechnologien konzentrieren. Also Technologien, zu deren Entwicklung und Anwendung Qualifikationen und Prozeßkompetenzen notwendig sind, wie wir sie ja in Deutschland als Standortvorteil besitzen.

Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie wird zusätzlich durch die Strukturkrise des Standorts belastet. Und an dieser Strukturkrise ändert auch die Tatsache nichts, daß die Rezession allmählich überwunden scheint.

  • Die Lohnstückkosten liegen um rund 20 Prozent höher als etwa in Großbritannien oder in Frankreich.
  • Bei den Fehlzeiten liegt die deutsche Industrie in der Spitzengruppe.
  • Die Arbeitsmärkte sind verhältnismäßig unflexibel, was die Einstellung neuer Arbeitskräfte und vor allem den flexiblen Einsatz der Beschäftigten erschwert. Hier wurden zwar in letzter Zeit Fortschritte erzielt, doch noch steht die Umsetzung der ausgehandelten Bedingungen aus.
  • Bei den Menschen macht sich eine zunehmende Technologieverdrossenheit und Technologiemüdigkeit breit, die zu einer Verschlechterung des Innovationsklimas führt.
  • Die Genehmigungsverfahren sind immer noch zu lang und komplex.
  • Der nur langsam voranschreitende Aufschwung Ostdeutschlands belastet die öffentlichen Haushalte und die Wirtschaft.

Die deutsche Industrie kann vor diesem Hintergrund ihre Wettbewerbsfähigkeit nur dann sichern, wenn sie ihre Kosten nachhaltig senkt.

Kostensenkung ist aber nur eine der Maßnahmen, die die deutsche Industrie ergreifen muß, um sich auf die Veränderungen der Wirtschaft und der Gesellschaft einzustellen. Andererseits muß sie mehr Flexibilität, Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit zeigen. Dies deckt sich mit der Forderung, die ich vorhin im Zusammenhang mit den Aussagen gestellt habe, wie sich die Industrie auf zukünftige Technologien einstellen kann.

Wie aber erreicht man Flexibilität, Geschwindigkeit und Anpassungsfähigkeit? Grundsätzlich, indem man alle Abläufe im Unternehmen konsequent untersucht und optimiert und sie auf das wirklich Notwendige zurückführt. Ziel ist es, die Vielzahl der einzelnen Prozesse so zu vereinfachen, daß Fehler weitgehend ausgeschlossen sind, Durchlaufzeiten verkürzt und damit auch Kosten gesenkt werden. Am Ende dieses komplexen Änderungsprozesses stehen hohe Qualität, kurze Lieferfristen und wettbewerbsfähige Kosten. Dies

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ist eine Voraussetzung, um schnell und flexibel auf Marktveränderungen reagieren zu können.

Prozeßverbesserung darf sich allerdings nicht allein auf die Produktion beschränken. Eine bürokratische Verwaltung hebt die Wirkung einer „schlanken Fabrik" auf. Es gilt, alle Arbeitsbereiche im Unternehmen unter die Lupe zu nehmen, zu vereinfachen und zu vernetzen, um hohe Qualität, kurze Bearbeitungszeiten und niedrige Kosten entlang der gesamten Wertschöpfungskette zu erreichen.

Davon sind die Bereiche Forschung und Entwicklung nicht ausgenommen. Um die Innovationsfähigkeit der Unternehmen zu verbessern, dürfen Forschung und Entwicklung nicht Selbstzweck sein, sondern müssen sich an den Bedürfnissen des Marktes orientieren. Die Geschwindigkeit, mit der ein neues Produkt hervorgebracht wird, ist oft entscheidender als seine technische Finesse. Schlanke Prozesse auch in Forschung und Entwicklung beschleunigen Innovationen und tragen damit zur Wettbewerbsfähigkeit bei.

Maßgeblich für die Gestaltung der Abläufe in den Unternehmen sind die Anforderungen der Kunden. Alle Bereiche im Unternehmen sind dafür verantwortlich, daß die Kunden zeit-, qualitäts- und kostengerecht genau die Produkte, Systeme und Dienstleistungen erhalten, die sie benötigen, um wiederum ihre Kunden zeit-, qualitäts- und kostengerecht zu bedienen. Damit müssen alle Prozesse auf den Kundennutzen hin optimiert werden.

Eine solche gesamtprozeßorientierte Unternehmensführung verlangt flache Hierarchien und kurze Entscheidungsabläufe und damit die Bereitschaft möglichst vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Verantwortung zu übernehmen. Dafür sind die Basisvoraussetzungen am Standort Deutschland hervorragend. Wir verfügen über qualifizierte, kritische und selbstkritische Menschen, die willens und fähig sind, sich zu engagieren. Es liegt an den Unternehmen, sich diese Vorteile zunutze zu machen, indem sie mehr Vertrauen in die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter setzen. Wir als Unternehmer sind aufgefordert, diese Stärken ständig weiter auszubauen, zum Beispiel durch breit angelegte Qualifizierungsprogramme. Auf diesem Wege gelangen die Unternehmen zu fortlaufenden und notwendigen Produktivitätsverbesserungen.

Lassen Sie mich das Konzept der gesamtprozeßorientierten Unternehmensführung und die Maßnahmen zur Steigerung der Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Kundenorientierung verdeutlichen - am Beispiel meines Unternehmens, der deutschen ABB.

ABB ist ein weltweit führender Technologiekonzern in der Energie-, Verkehrs- und Umwelttechnik und entstand 1988 durch den Zusammenschluß von Asea und BBC. Das Unternehmen beschäftigt heute rund 206000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in 140 Ländern, Der Umsatz liegt bei zirka 50 Milliarden Mark im Jahr. ABB Deutschland, die größte Landesgesellschaft des Konzerns, erwirtschaftet mit rund 36 000 Mitarbeitern knapp 10 Milliarden Mark Umsatz.

Wir haben unser Unternehmen 1988 völlig neu strukturiert. Wir haben konsequent dezentralisiert und uns kleine überschaubare Einheiten geschaffen, die flexibel und schnell auf Kunden- und Marktbedürfnisse reagieren können - und zwar unabhängig von Rezession und Strukturkrise. Wir haben Verantwortung delegiert und festgestellt, daß die Zahl der Mitarbeiter, die Verantwortung tragen wollen und können, viel größer ist, als wir früher glaubten. Unsere dezentrale Struktur hilft uns, das unübersichtliche Knäuel der unzähligen einzelnen Prozesse in einem Großunternehmen entlang der Wertschöpfungskette zu entwirren und zu beherrschen.

Wir arbeiten heute in allen unseren Tochtergesellschaften nicht mehr funktionsorien-

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tiert, sondern weitgehend prozeßorientiert in bereichsübergreifenden Projektteams. Solche Projektteams setzen sich bedarfsgerecht aus Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Funktionen wie Entwicklung, Engineering, Einkauf, Produktion oder Montage zusammen. Sie konzipieren gemeinsam gesamtprozeßorientiert Systeme und Anlagen und stellen dabei sicher, daß das, was entsteht, auf die Bedürfnisse des Kunden ausgerichtet ist.

Obwohl wir bei ABB mit der Umsetzung dieser prozeßorientierten Konzeption erst am Anfang stehen, haben wir bereits gute Erfolge erzielt. Viele unserer Tochtergesellschaften haben ihre Durchlaufzeiten bis zu 50 Prozent reduziert, ihre Kosten um ein Drittel vermindert, die Qualität maßgeblich verbessert und ihre Lagerbestände deutlich gesenkt. Wir versuchen, unsere Produkte und Systeme mit unseren Kunden gemeinsam für deren Kunden zu erstellen. In diese Partnerschaft beziehen wir auch unsere Lieferanten mit ein.

Auch unsere Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten sind fest in dieses Konzept der prozeßorientierten Unternehmensführung eingebunden.

Im Mittelpunkt unserer Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen stehen daher Lösungen für die heutigen und zukünftigen Probleme unserer Kunden. Wir definieren in vielen Fällen unsere Entwicklungsziele gemeinsam mit den Kunden und richten unsere Produkte und Systeme auf deren Bedürfnisse aus.

Jüngstes und vielleicht prominentestes Beispiel für den Erfolg dieses Forschungs- und Entwicklungskonzeptes ist unser neues Gasturbinenkonzept, mit dem sich im Kombibetrieb Wirkungsgrade von über 58 Prozent erzielen lassen - ein Quantensprung, wir wir meinen. An diesem richtungsweisenden Beitrag zur Senkung der Emissionen und zur Einsparung von Primärenergie haben rund 100 Mitarbeiter aus 20 Ländern mitgewirkt. Wir bei ABB sind davon überzeugt, daß die Zukunft technologische Spitzenprodukte verlangt, die sich zeit-, qualitäts-, kosten- und umweltgerecht produzieren und betreiben lassen.

Bei diesem Veränderungsprozeß haben wir bei ABB auch eine Reihe von Rückschlägen hinnehmen müssen. Und wir haben noch einiges vor uns, um unsere anspruchsvollen Ziele zu erreichen. Aber wir haben bewiesen, daß die Industrie einiges tun kann, um sich auf zukünftige Technologien und die Veränderungen in der Gesellschaft einzustellen. Sie muß Dynamik und Flexibilität entwickeln, ihre Prozesse straffen und ihre Organisationen effizient und mit oberster Priorität auf die Bedürfnisse der Kunden ausrichten.

Sie ist darüber hinaus aber auch auf die Hilfe des Staates angewiesen. Quantensprünge in Zukunftstechnologien zum Beispiel lassen sich nur erreichen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen. Es ist daher notwendig, daß der Staat sich an der Schaffung eines innovationsfreundlichen und investitionsfreudigen Klimas aktiv beteiligt.

Unsere Gesellschaft muß genau wie ihre Wirtschaft flexibler werden. Möglichst viele Menschen müssen sich mit ihren Ideen, ihrer Kreativität und ihrem Engagement an der Gestaltung des Wandels beteiligen. Es muß allen bewußt werden, daß die Herausforderungen der Zukunft zu groß, die Probleme zu vernetzt sind, um sie einzelnen oder kleinen Gruppen einzelner Menschen überlassen zu können.

Der Standort Deutschland zeichnet sich - dies habe ich vorhin erwähnt - durch gut qualifizierte, kritische und selbstkritische Menschen aus. Unser Ausbildungssystem ist trotz aller Schwächen weltweit mit führend. Wir müssen in den Unternehmen diese Standortvorteile nutzen, indem wir unsere Strukturen so gestalten, daß sich möglichst viele Menschen an unternehmerischen Entscheidungsfindungsprozessen beteiligen können. Durch die zentrale Lage im Herzen Europas und die vielfältigen Wirtschaftsbeziehungen wird unser Industriestandort auch weiterhin eine zentrale Rolle spielen.

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Doch dazu müssen wir einigen Herausforderungen beherzt entgegengehen:

  • Wir müssen - nach wie vor - bei der Gestaltung unserer Arbeitszeiten und in unserem Tarifsystem zu mehr Flexibilität gelangen.
  • Wir müssen unsere technologischen Kompetenzen stärken und unsere Forschungs- und Entwicklungstechnologien konzentrieren. Dies ist in erster Linie eine Aufgabe der Wirtschaft. Der Staat kann aber dazu die notwendigen Rahmenbedingungen schaffen.
  • Wir müssen unser Aus- und Weiterbildungssystem weiter verbessern und damit möglichst viele Menschen für das Arbeiten mit komplexen Technologien und in vernetzten Strukturen qualifizieren.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

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