FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 62 ]


RAY MARSHALL
TECHNIK UND GESELLSCHAFT: EINE SICHTWEISE AUS DEN USA


1. Einleitung

Die Technik, definiert als die Art und Weise, in der etwas getan wird, ist eine mächtige Kraft im menschlichen Leben, doch sie ist nicht unabhängig von öffentlichen und privaten Maßnahmen. Eine gute Richtschnur ist die Hypothese, daß die Technik selbst neutral ist und daher eingesetzt werden kann, um entweder Arbeitsbedingungen und Realeinkommen zu verbessern oder die Arbeit einfacher, gefährlicher und langweiliger zu machen, die Arbeitslosigkeit zu steigern und die Sicherheit der Beschäftigung zu reduzieren. Die Technik kann man auch nutzen, um entweder Demagogen und Autokraten oder aber demokratische Institutionen zu stärken und die Lebensqualität der Menschen überall zu verbessern. Meine Grundhypothese ist jedenfalls, daß die beste Nutzung der Technik wahrscheinlich darin besteht, ihre Steuerung und Entwicklung dezentral an den Arbeitsplatz in hochleistungsfähigen Organisationen zu verlagern, die hauptsächlich durch den Grad der Mitbestimmung und der Befugnis der Arbeiter charakterisiert sind, Produktivität, Qualität, Flexibilität und industrielle Demokratie zu verbessern. Leider sind positive Ergebnisse weniger automatisch zu erreichen als negative, die man oft erhält, wenn die Entscheidungen ganz den Kräften des Marktes überlassen werden. Kurz gesagt, positive Ergebnisse erfordern Strategien und Maßnahmen zum effektiven Einsatz der Kräfte des Marktes. Effektive Strategien beruhen ihrerseits auf einer starken Untermauerung durch Fakten und Analyse, die auf Forschung und kontinuierlichem interaktivem Lernen basiert.

Es gibt eine enge Symbiose zwischen wissenschaftlicher Forschung und Entwicklung und dem Einsatz von Technik. Doch unter gegenwärtigen Bedingungen kann die Forschung nicht mehr nur in Labors stattfinden, denn in einem wissensintensiven, stark wettbewerbsorientierten dynamischen Umfeld wird mehr Technik während des Einsatzes in Büros, Fabriken und im Unterricht entwickelt. In der Vergangenheit war die Entwicklung der Technik insofern linear, als sie in Labors entwickelt und dann zu den Arbeitern, Ingenieuren und Managern in der Arbeitswelt „rübergeschickt" wurde. Heute jedoch diktiert eine zunehmend wettbewerbsorientierte und dynamische Wirtschaft in Verbindung mit kürzeren Produktionszyklen einen verstärkt interaktiven Prozeß, in dem die Forscher eng

[Seite der Druckausg.: 63 ]

mit Arbeitern, Managern, Zulieferern und Kunden zusammenarbeiten. Das bedeutet auch, daß mehr Arbeiter und Aufseher forscherische Fähigkeiten benötigen werden, um die fernab des Arbeitsplatzes entwickelte Technik ihrem Anwendungsfeld anzupassen und die von der modernen Informatik gelieferten großen Informationsmengen so effektiv wie möglich zu nutzen.

Meiner Meinung nach bestehen die besten Einsatzmöglichkeiten für Informatik

  1. am Ort der Produktion,
  2. in der Erweiterung menschlicher Fähigkeiten, damit Menschen nicht entlassen werden, und
  3. dort, wo Arbeiter anspruchsvollere Tätigkeiten ausüben und positive Belohnungssysteme vorfinden.

Ich sehe das jedoch vorwiegend als noch zu überprüfende Hypothesen an, nicht als feststehende Schlußfolgerungen. Wir benötigen weitere eingehende Forschung zur Beziehung zwischen Technik, Arbeitsplatzsicherheit und Gesundheit, Entwicklung von Fähigkeiten, Produktivität, Mitbestimmung, Belohnungssystemen, Arbeitsorganisation und zu den Wechselbeziehungen zwischen diesen Mikroelementen und den Makroelementen Gesellschaft, Politik und Wirtschaft.

Es ist unmöglich, die notwendige Forschung genau zu spezifizieren, doch zweifellos wird sie effektiver sein, wenn Forscher den wirtschaftlichen und organisatorischen Kontext für die Entwicklung und den Einsatz der Technik verstehen. Zur Förderung dieses Verständnisses will ich zunächst die sich wandelnde Rolle der Technik für die wirtschaftliche Leistung beschreiben, danach die Herausforderungen diskutieren, denen sich Länder gegenübersehen, die unter gegenwärtigen Bedingungen das Einkommen der Bevölkerung sichern und steigern wollen.

Page Top

2. Technik und wirtschaftliche Entwicklung

Technik definiert man am besten als die Art und Weise, in der etwas getan wird; anders gesagt, als Ideen, Fähigkeiten und Wissen, das in Maschinen und Produktionssystemen verkörpert ist. In bedeutendem Maße ersetzt die Technik physische Ressourcen durch Ideen Fähigkeiten und Wissen. Technik und menschliche Ressourcen sind daher die Haupt quelle von Produktivitätsverbesserungen, wie ein großer Teil der wissenschaftlichen For schung zeigt [Fn.1: Anthony Carnevale: Human Capital: A High-Yield Corporate Investment, Washington, D.C.: American Society fo Training and Development 1983. - Die Bedeutung der Technik zeigt sich anhand der Erfahrungen der amerikanischen Landwirtschaft. Verschiedenen Studien zufolge sind der amerikanischen Landwirtschaft seit den zwanziger Jahren keine physischen Ressourcen zugeflossen, und dennoch haben wir die Gesamtproduktion enorm gesteigert (Theodore Schultz; Investing in People, Berkeley, CA: Univ. of California Press 1981). Anders gesagt wurde mit der gleichen Menge an Boden, Arbeitskraft und Kapital die Produktion dadurch gesteigert, daß physische Ressourcen durch Ideen, Fähigkeiten und Wissen ersetzt wurden. Dieser Prozeß lief auch in anderen Branchen ab, Peter Drucker weist darauf hin, daß das grundlegende Produkt der zwanziger Jahre das Automobil war, in das 40 Prozent Ideen, Fähigkeiten und Wissen und 60 Prozent Energie und Rohstoffe einflossen. Das grundlegende Produkt der neunziger Jahre ist der Computerchip mit einem nur zweiprozentigen Anteil an Energie und Rohstoffen (Peter Drucker; Managing for the Future: The 1990s and Beyond, New York: Dutton 1992).].

[Seite der Druckausg.: 64 ]

Die Geschwindigkeit von Entwicklung und Einsatz der Technik in jeder Gesellschaft hängt von einer Reihe von Faktoren ab. Der erste ist die Entwicklung von Ideen und Wissen durch wissenschaftliche Forschung. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind zwar wichtig, bringen aber keinen wirtschaftlichen Vorteil, solange sie nicht in Güter und Dienstleistungen umgesetzt werden. Während die Wirtschaftssysteme zunehmend Wettbewerbs orientiert und wissensintensiv werden, hängt die Entwicklung der Technik immer stärker von anderen Faktoren als wissenschaftlichen Erkenntnissen ab, z. B. von den Fähigkeiten der Arbeiter und Unternehmer, von der Arbeitsorganisation, allgemeinen Bedingungen für Unternehmen und von der Wirtschaftsstruktur. Menschliche Ressourcen sind besonders bedeutsam für Entwicklung und Einsatz der Technik. Die Natur der technischen Innovation beruht in großem Maße auf der Menge des Lernens in der Arbeitswelt, in Schulen, Familien und Gemeinschaftseinrichtungen.

Page Top

3. Das System der Massenproduktion

Die grundlegende Herausforderung für die hochentwickelten Volkswirtschaften besteht darin, sich ausgehend von Systemen der Massenproduktion an ein völlig andersartiges, stark wettbewerbsorientiertes, wissensintensives globales Umfeld anzupassen. In der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts beruhte wirtschaftlicher Erfolg in hohem Maße auf der Verfügbarkeit natürlicher Ressourcen, auf der Entwicklung und Verbreitung fortschrittlicher Technik, auf dem System der Massenproduktion, die durch große und wachsende einheimische Märkte oder leichten Zugang zu internationalen Märkten ermöglicht wurde, und auf der stetigen Versorgung mit Arbeitskräften aus anderen Ländern, durch Bevölkerungswachstum und durch freigesetzte landwirtschaftliche Arbeitskräfte. Die Hauptstärken dieses Systems bestanden in rapiden Produktivitätssteigerungen durch Großunternehmen, beiderseitig vorteilhaften Verbesserungen in Industriebranchen (z. B. Verbreitung von massenhaft produzierter Technik; Produktivitätssteigerungen im Stahlbereich, wodurch in Branchen, die Stahl benötigten, die Produktionskosten gesenkt wurden) und der Umverteilung von Ressourcen aus weniger produktiven Sektoren (Landwirtschaft) in produktivere (Industrie).

Das System der Massenproduktion war so organisiert, daß nur Manager, Fachleute und Techniker höher entwickelte Qualifikationen brauchten. Für die meisten einfachen Arbeiter reichte eine Basisausbildung für die Ausführung von Routinearbeiten mit Standardtechnik aus. Andere Lernsysteme (Familien, Schulen, Arbeitswelt) reflektierten die Bedürfnisse der Wirtschaft: Eliteschulen und Universitäten brachten Arbeiter mit hochentwickelten Qualifikationen hervor, während die meisten staatlichen Schulen Arbeiter mit grundlegenden Fähigkeiten für die Systeme der Massenproduktion heranzogen [Fn.2: Ray Marshall, MarcTucker; Thinking for a Living: Education and Ihe Wealth of Nations, New York: Basic Books 1992.] Obwohl die Produktion in den meisten Ländern überwiegend auf große und wachsende einheimische Märkte abgestellt war, brachten Betriebsgrößenvorteile (economies of scale) für Unternehmen auch enorme Vorteile auf ausländischen Märkten.

Das Massenproduktionssystem hatte drei Hauptprobleme. Das erste war die Preisinstabilität als Ergebnis des hohen Fixkostenanteils an den gesamten Kosten und des ho-

[Seite der Druckausg.: 65 ]

hen Bedarfs an Kapitalinvestition. Unternehmen reagierten mit verschiedenen Maßnahmen zur Begrenzung des Preiswettbewerbs. Das zweite Problem bestand in der Tendenz zur Überproduktion bei festen Preisen. Dagegen wurden Keynessche makroökonomische Maßnahmen eingesetzt, um die Kaufkraft durch monetär-fiskalische Maßnahmen, Tarifverträge, Arbeitslosenunterstützung und andere Unterstützungssysteme zu erhalten. Das dritte Problem war der Verlust an Fähigkeiten und die Verringerung der Kontrolle der Arbeiter über ihre eigene Arbeit. Man begegnete dem teilweise mit der Schaffung von Arbeiterorganisationen zum Schutz und zur Förderung der Arbeiterinteressen in Arbeitswelt und Gesellschaft.

Die gesteigerte Produktivität trug zur Schaffung eines hohen und steigenden Lebensstandards bei, erleichterte Kapitalakkumulation und Investition und schuf Mittel für einkommensunterstützende Systeme für diejenigen, von denen keine Arbeit erwartet wurde, für Sozialsysteme wie Gesundheitsfürsorge, Rentenzahlung, Arbeitslosenunterstützung sowie für Forschung und Entwicklung an Universitäten und in öffentlichen und privaten Labors.

Page Top

4. Wettbewerbspolitik

Die deutlichste wirtschaftliche Herausforderung an öffentliche und private Entscheidungsträger besteht in den neunziger Jahren und darüber hinaus darin, eine Politik zu entwickeln, die der zunehmend wettbewerbsorientierten globalen Wirtschaft, wie sie durch die moderne Informations- und Verkehrstechnik entstand, angemessen ist. Die meisten industrialisierten Demokratien haben Prozesse der Konsensbildung oder des gemeinsamen Lernens entwickelt, welche bei der Entscheidungsfindung und bei der Strukturierung wirtschaftlicher Aktivitäten bedeutende Vorteile bringen [Fn.3: Ray Marshall: Unheard Voices, New York: Basic Books 1987.] . Ein Hauptvorteil ist die allgemeine Zugänglichkeit von Informationen über die Stärken, Schwächen und das Wettbewerbspotential der Wirtschaftssysteme. Es ist überaus wichtig, daß Länder zu einem Konsens über die richtigen Erfolgsstrategien in einer stärker wettbewerbsorientierten, hochtechnisierten globalen Wirtschaft finden. Die Auswahlmöglichkeiten sind ganz klar: Wettbewerb kann darin bestehen, die Löhne zu senken oder die Produktivität und die Qualität der Produkte zu steigern. Die meisten entwickelten Demokratien haben sich gegen Niedriglohnstrategien entschieden, da sie zu niedrigeren Einkommen und größeren Einkommensunterschieden führen. Die Erfahrung lehrt nur allzu deutlich, daß sehr große Einkommensunterschiede eine Bedrohung für die nationale Einheit, die wirtschaftliche Leistung sowie für demokratische und soziale Institutionen darstellen. Die Entscheidung für den Niedriglohnwettbewerb beschränkt außerdem den wirtschaftlichen Fortschritt darauf, härter zu arbeiten.

[Seite der Druckausg.: 66 ]

Page Top

5. Die Hochleistungsoption

Technik und andere Maßnahmen sind also durch die grundlegende Wettbewerbsstrategie bestimmt. Die Hochlohnoption erfordert die Schaffung von hochleistungsfähigen Arbeitsorganisationen zur Entwicklung und zum Einsatz von Spitzentechnologie [Fn.4: Ray Marshall: Organizations and Learning Systems for a High-Wage Economy, in: Clark Kerr, Paul D. Staudohar (Eds ): Labor Economics and Industrial Relations: Marketsand Institutions, Cambridge, MA: Harvard University Press 1994).] . Die aus der Massenproduktion bekannte Praxis, ungelernte Arbeiter und Standardtechnik zu kombinieren, ist für Hochlohnländer in der globalen Wirtschaft nicht anwendbar, denn die Standardtechnik wird in Niedriglohnländer streben. Entwicklung und Einsatz von Spitzentechnologie verändern sowohl die geforderten Fähigkeiten als auch die Arbeitsorganisation. Ein auf Qualität und Befriedigung der Kundenbedürfnisse ausgerichtetes System muß Spitzentechnologie einsetzen, um nicht nur diesen Bedürfnissen gerecht zu werden, sondern auch die erforderliche Flexibilität zu schaffen, um auf den Wandel der Märkte und der Technik reagieren zu können. Hochleistungsfähige Produktionsprozesse mit Einsatz von Spitzentechnologie verlagern Entscheidungen dezentral an den Produktionsort und verändern damit die Natur der technischen Innovation und der Produktentwicklung. Technische Innovation wird zu einem verstärkt koordinierten und interaktiven Prozeß zwischen Kunden, Zulieferern und verschiedenen Arbeiterkategorien; sie tritt im Produktionsprozeß auf;

und sie ist sowohl kontinuierlich als auch interaktiv zwischen Forschung, Entwicklung, Fertigung und den Benutzern von Gütern und Dienstleistungen. In einem derartigen Prozeß schafft die Geschwindigkeit bei der Herstellung neuer Produkte und die Flexibilität bei der Befriedigung der Kundenbedürfnisse große Vorteile. In einem solchen System müssen auch die einfachen Arbeiter und nicht nur die Manager, Techniker und Ingenieure höherentwickelte Qualifikationen haben. Diese Arbeiter müssen in der Lage sein,

  1. Maschinen bei der Produktion kleinerer Serien verschiedenartiger Produkte zu überwachen;
  2. die Technik kontinuierlich zu warten und zu verbessern;
  3. ohne direkte Aufsicht und detaillierte Anweisungen zu arbeiten;
  4. gut mit anderen zusammenzuarbeiten und präzise zu kommunizieren;
  5. mehr Verantwortung für ihre eigene Arbeit zu übernehmen; und
  6. was das Wichtigste ist, über hochentwickelte Lernfähigkeiten verfügen, mit denen sie Produktivität, Qualität und Flexibilität zu steigern in der Lage sind, indem sie die von der Informatik bereitgestellten großen chaotischen Datenmengen ordnen.

Es gibt zunehmend Anzeichen dafür, daß Entwicklung und Einsatz von Spitzentechnologie die dezentrale Verlagerung der Arbeit auf die Arbeiter erfordern, die dann Entscheidungen zur Steigerung der Qualität und der Produktivität treffen [Fn.5: Eileen Appelbaum, Rosemary Batt: High Performance Work Systems, Washington, D.C.: Economic Policy Institute 1993; Ray Marshall: Organizations and Learning Systems for a High-Wage Economy, a.a.O.] . Diese Freiheit gibt den Arbeitern mehr Entscheidungsspielraum und erfordert die Schaffung positiver Belohnungssysteme anstelle von Regeln, Vorschriften, Aufsehern, Inspektoren und negativen oder sogar perversen Anreizen im Taylorschen Massenproduktionssystem. Positive Belohnungssysteme bieten Beschäftigungssicherheit, um die Perversitäten des Massenproduktions-

[Seite der Druckausg.: 67 ]

Systems zu überwinden (z. B. Arbeitsplatzverlust nach Produktivitätssteigerung) und verbinden materielle und nichtmaterielle Belohnungen mit Ergebnissen (z. B. Qualität oder Produktivität). Da wirtschaftliche Leistungsfähigkeit von starkem Einsatz der Arbeiter abhängt, wird das System solange nicht effektiv sein, wie Arbeiter keine unabhängigen Quellen von Macht haben, mit denen sie ihre Interessen vertreten können. Das ist einer der Gründe dafür, daß Betriebsräte und starke Gewerkschaften in den meisten Ländern zur Steigerung der wirtschaftlichen Wettbewerbsfähigkeit beigetragen haben.

Page Top

6. Kooperative Einrichtungen

Internationale Vergleiche zeigen, daß Unternehmen in sehr verschiedenem Ausmaß den Übergang von der Massenproduktion zur „Hochleistung" geschafft haben. Dafür sind wiederum eine Reihe von Faktoren ausschlaggebend. Erstens die Machtbasis von Arbeitern aufgrund von Gesetzen, starken Gewerkschaften oder beidem. Da die Rationalisierung der Arbeit oder Qualitätszirkel als eine Form der Arbeitnehmerbeteiligung überall als förderlich für die Wettbewerbsfähigkeit angesehen wird, werden die Unternehmen bei einer schwachen Stellung der Gewerkschaften gegenüber den Arbeitgebern Systeme mit „schlanker Produktion" mit beschränkter Mitbestimmung entwickeln, wie es in einigen japanischen und amerikanischen Firmen geschehen ist. Diese Organisationen sind nicht die hier beschriebenen Hochleistungsunternehmen. Sie werden wahrscheinlich nicht die langfristige Lebensfähigkeit und Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen haben, in denen Arbeiter

  • auf jeder Unternehmensebene Kompetenzen erhalten;
  • ihre Interessen vertreten können und am Erfolg des Unternehmens gleichberechtigt teilhaben, so daß sie
  • hochgradig zur Steigerung von Produktivität und Qualität motiviert sind.

Schlanke, rationalisierte Produktionssysteme können die Produktivität und Qualität im Vergleich zu tayloristischen Organisationen steigern, doch langfristig werden sie weniger wettbewerbsfähig als hochleistungsfähige Organisationen sein und eher gespannte Beziehungen und weniger effektive Lernprozesse hervorbringen.

International besteht ein weiterer großer Unterschied im Grad der Förderung oder Behinderung hochleistungsfähiger Organisationen durch nationale politische Maßnahmen und Institutionen. Maßnahmen zur Förderung von Hochleistung sind unter anderem:

  • ein nationaler Konsens zugunsten der Hochlohnoption mit hoher Produktivität;
  • Maßnahmen, die die Entwicklung von Schulen, Familien und anderen Institutionen zu leistungsfähigen Lernsystemen fördern;
  • Marktbedingungen zur Förderung von Zulieferern, qualifizierten Kunden und des Preis- und Qualitätswettbewerbs;
  • Infrastrukturen, insbesondere moderne Digital- und Glasfasernetze;
  • Maßnahmen zur Förderung von Kapitalbildung, Investition und technischer Innovation;
  • makroökonomische und internationale Maßnahmen zur Stimulierung des Weltwirt-

[Seite der Druckausg.: 68 ]

    schaftswachstums, damit Rationalisierung und Bevölkerungswachstum nicht zu erhöhter Arbeitslosigkeit führen:

  • auf Familien ausgerichtete öffentliche und private Maßnahmen, um Eltern in ihrer Doppelrolle als Eltern und Beschäftigte zu unterstützen;
  • schließlich Netze für Gesundheit und soziale Sicherheit zur Förderung der Entwicklung menschlicher Arbeitskraft, um zu verhindern, daß die Kosten des wirtschaftlichen Wandels allein den schwächsten Gliedern der Gesellschaft aufgebürdet werden, sowie zur Schaffung von Möglichkeiten für Arbeiter, niedere, schlecht bezahlte Arbeit abzulehnen.

Meiner Meinung nach haben etwa Deutschland und Skandinavien bessere Bedingungen für die Förderung hochleistungsfähiger Organisationen als Japan oder die Vereinigten Staaten [Fn.6: In den USA wird oft behauptet, das deutsche System sei zu starr und habe steigende Arbeitslosenzahlen hervorgebracht. Hier soll diese Frage nicht weiter verfolgt werden, es soll nur gesagt werden, daß die Arbeitslosigkeit in den neunziger Jahren in Westdeutschland niedriger als in den USA war und daß steigende Arbeitslosigkeit in Deutschland und in den USA hauptsächlich als Weg gesehen und in Kauf genommen wird, um für manche Entscheidungsträger inflationäre Prozesse zu bremsen. Es gibt keine Anzeichen dafür, daß die deutsche Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik erheblichen Einfluß auf Marktanpassungsstrategien haben Es gibt dagegen zunehmende Anzeichen dafür, daß eine ausgeglichene Einkommensstruktur als Folge von Vollbeschäftigung und Investitionen in menschliche Arbeitskraft zu schnellerem Wirtschaftswachstum führen als eine Politik auf Kosten der Beschäftigten. (Nancy Birdsall, Richard Sabot: Irtequality and Growth Reconsidered, presentation to American Economics Association, Boston, Mass Jan. 1994; Robert Solow: Europe's Unnecessary Unemployment, in: International Economic Insights, March/April 1994; Katherine Abraham, Susan Houseman; Job Security in America, in: Brookings Review, Summer 1993.)]

Page Top

7. Auswirkungen auf die Gesellschaft

Wie bereits festgestellt, hängen die Auswirkungen der Technik weitgehend von der Politik von Unternehmen, politischen Entscheidungsträgern und Arbeiterorganisationen ab. Wo alle diese Kräfte gemeinsam hinter der Hochlohnoption mit hoher Produktivität stehen, sind beiderseitig vorteilhafte Ergebnisse wahrscheinlich. Weiterhin hat die Hochlohnoption eindeutig positive gesellschaftliche Auswirkungen. Die Hochlohnoption fördert die Entwicklung qualitativ hochwertiger Lernsysteme und des kontinuierlichen Lernens für alle Arbeiter und könnte zur Verringerung des Bildungs- und Einkommensgefälles beitragen. Diese Prozesse könnten wiederum die Entwicklung von Informationsnetzen und -technologien erleichtern. Daher liegt in dieser Alternative ein wesentlich größeres Potential zur Steigerung von Lebensstandard und Lebensqualität. Da hohe Produktivität in großem Maße von einem hohen Grad der Mitbestimmung abhängt, könnte die Verfolgung dieser Option auch demokratische Institutionen erheblich stärken. So wie die Informatik durch Bereitstellung von mehr Informationen und Optionen für Entscheidungsträger, Produzenten und Verbraucher den Wettbewerb intensiviert hat, könnte diese Technik demokratische politische Prozesse stärken, indem sie Informationen für politische und lokale Führungspersonen und ihre Wählerschaft leichter zugänglich macht und den Wählern ein größeres Interesse an den von ihnen gesteuerten politischen Prozessen vermittelt. Die Vielfalt der Informationstechnologie macht es für autoritäre Regimes wesentlich schwerer, Informationen zu kontrollieren und zu steuern.

[Seite der Druckausg.: 69 ]

Die aktuelle Entwicklung birgt allerdings auch die Möglichkeit ernsthafter negativer Folgen von Niedriglohnstrategien, die

  • Arbeiter zwingen würden, härter zu arbeiten, um das Familieneinkommen zu sichern;
  • die Einkommensunterschiede vergrößern würden;
  • den wirtschaftlichen Fortschritt beschränken würden;
  • weniger Ressourcen für die technische Entwicklung bereitstellen würden;
  • den Zugang zu modernster Informatik auf Unternehmen und Gruppen mit hohem Einkommen beschränken würden;
  • verschärfte Spannungen zwischen Altersgruppen, ethnischen, rassischen und Einkommensgruppen sowie zwischen Ländern erzeugen würden.

Diese Spannungen und die daraus resultierenden Konflikte würden wiederum die Gewerkschaften und die Mitbestimmung schwächen. Die Schwächung demokratischer Institutionen würde Demagogen Vorschub leisten, die mit Hilfe der Medien ihr Spiel mit den Emotionen einer schlecht informierten Wählerschaft treiben könnten. Es kann dann leicht geschehen, daß sich die Wählerschaft nicht nur von der Geschwindigkeit des Wandels sondern auch von der Demokratie bedroht fühlt, weil sie allen Gruppen gleiche Rechte gewährt -auch denen, die von den Demagogen zum Objekt kollektiven Hasses erklärt wurden.

Von dem Weg, den wir wählen, hängt sehr viel ab. Daher haben Forscher und Demokraten überall ein großes Interesse daran, die Voraussetzungen für die Förderung der politischen, sozialen, industriellen und wirtschaftlichen Demokratie zu fördern. Es ist kaum vorstellbar, daß eine gut informierte Bevölkerung nach gründlicher Betrachtung und Diskussion der Alternativen bewußt die Niedriglohnoption wählen würde.

Page Top

8. Schlußbemerkungen

Wie zu Beginn festgestellt, sollten die hier diskutierten Entwicklungen als Hypothesen und nicht als Schlußfolgerungen verstanden werden. Es gibt zunehmende Anzeichen dafür, daß hochleistungsfähige Organisationen mit dezentralisierten, mitbestimmungsorientierten Führungssystemen, in denen Spitzentechnologie entwickelt und eingesetzt wird, die Produktivität enorm steigern und überall den Lebensstandard und die Arbeitsbedingungen verbessern können. Es bedarf jedoch noch weiterer Untersuchungen und Forschungen, um die Basis für eine Politik zu schaffen, die die gesamten Vorteile der modernen Technik entfaltet und nutzbar macht.

Übersetzung: Werner Töpperwien


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2001

Previous Page TOC Next Page