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TEILDOKUMENT:


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Wolfgang Franz
Herausforderungen an die Beschäftigungspolitik in Deutschland


Das Thema hat in jüngster Zeit wieder eine gewisse Brisanz erhalten, da der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung gesagt hat, daß auch bei einem sehr starken Wirtschaftswachstum die Arbeitslosenzahl nicht nennenswert unter die 3,5 Millionen-Grenze senken würde. Daher lautet die Frage, ob unsere Arbeitslosigkeit ein nicht mehr veränderbares Schicksal ist.

Wenn es um Herausforderungen an die Beschäftigungspolitik in Deutschland geht, so provoziert dieses Thema gleich zwei Fragen, nämlich einmal, wer überhaupt Beschäftigungspolitik betreiben soll, und zweitens, was für eine Art von Beschäftigungspolitik es sein soll, was also konkret gemacht werden sollte. Es ist offenkundig, daß beide Fragen nicht unabhängig voneinander zu sehen sind. Die Beantwortung hängt unter anderem davon ab, was man als Ursachen der Arbeitslosigkeit betrachtet. Insoweit ein gut Teil der Arbeitslosigkeit auf ein gesamtwirtschaftliches Nachfragedefizit zurückzuführen wäre, würde man eher eine Stabilisierungspolitik für wünschenswert halten und fragen, inwieweit sie unter den heutigen Bedingungen noch erfolgversprechend ist. Kommt man andererseits zu dem Schluß, daß es eher die hohen Lohnstückkosten sind, die unsere Beschäftigungsprobleme verursachen, dann wären natürlich die Tarifvertragsparteien in erster Linie am Zuge, und es müßte gefragt werden, wie eine beschäftigungsfreundliche Lohnpolitik im einzelnen und auch quantitativ betrachtet auszusehen hätte.

Ich möchte aber keine Ursachenanalyse der Arbeitslosigkeit geben, weil dies nahezu einen eigenen Beitrag erforderlich machen würde. Vielmehr darf ich die empirischen Studien von nationalen und internationalen Forschern und Institutionen zusammenfassen, die wohl zu dem Ergebnis kommen, daß der weitaus überwiegende Teil der Arbeitslosigkeit in Westdeutschland von Funktionsstörungen auf Arbeitsmärkten und auf Gütermärkten determiniert ist und weniger durch konjunkturelle Nachfrageschwächen bestimmt wird. Ein Teil dieser Ursachenanalyse trifft auch auf Ostdeutschland zu, jedoch wären hier zusätzliche Spezifika zu beachten. Selbstverständlich kann man gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwächen nicht ganz ausschließen, aber da wir nach den Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute vor einem beachtlichen Konjunkturaufschwung stehen, dürfte diese gesamtwirtschaftliche Nachfrageschwäche, so noch vorhanden, nahezu gänzlich an Bedeutung verlieren. Dann aber, nämlich wenn eine konjunkturell defizitäre Situation nicht vorliegt, sind natürlich Konjunkturprogramme fehl am Platz. Die verschiedenen fehlgeschlagenen Konjunkturprogramme in Japan liefern dafür ein Beispiel, denn die Ursachen der Beschäftigungskrise und der niedrigen Wachstumsraten des dortigen Bruttoinlandsprodukts waren eben nicht hauptsächlich auf konjunkturelle Faktoren zurückzuführen, sondern auf strukturelle Defizite auf den Finanz- und Arbeitsmärkten.

Ich möchte daher eine Eingrenzung vornehmen und mich ausschließlich auf die bereits genannten Funktionsstörungen auf Arbeitsmärkten konzentrieren und selbst

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dann noch eine Einengung vornehmen. Denn Funktionsstörungen können sehr unterschiedlicher Art sein, also beispielsweise, weil es nicht möglich oder sehr schwierig ist, Arbeitslose auf vorhandene freie Stellen zu vermitteln, sei es, weil die Qualifikationen nicht übereinstimmen, sei es, daß regionale Mobilitätshemmnisse vorliegen. Diese so genannte Mismatch-Arbeitslosigkeit werde ich ebenso wie andere Funktionsstörungen ausblenden und mich ausschließlich auf die Lohnpolitik beschränken und die Rolle analysieren, welche die Lohnpolitik zum Abbau der Beschäftigung spielen kann und muß.

Um nicht mißverstanden zu werden: Weder ist die Lohnpolitik allein an unserer Misere auf dem Arbeitsmarkt schuld, noch kann man mit Lohnpolitik allein die Arbeitslosigkeit beseitigen. Aber auch die Lohnpolitik muß ihren Beitrag zur Schaffung neuer wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze leisten, und worin dieser Beitrag genau bestehen kann, das möchte ich genauer beleuchten. Noch einmal: Ich stelle nicht in Abrede, daß noch andere wirtschaftspolitische Maßnahmen zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit ergriffen werden müssen, also beispielsweise eine wirksame und nachhaltige Unternehmenssteuerreform oder die Beseitigung bestimmter Kartelle auf den Arbeits- und Gütermärkten, etwa in Form des Großen Befähigungsnachweises im Handwerk.

Mein Hauptaugenmerk richtet sich auf die Lohnpolitik, und in diesem Zusammenhang sind drei Fragen zu behandeln. Erstens: Hat sich die Lohnpolitik in Deutschland in den vergangenen Jahren eher beschäftigungsfreundlich oder eher beschäftigungsfeindlich verhalten, und aufgrund welcher Überlegungen kann man zu einem diesbezüglichen Urteil kommen? Zweitens: Muß die Lohnpolitik nicht in gewissem Umfang zur Stärkung der Binnennachfrage beitragen, und hat in diesem Zusammenhang der vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung vorgeschlagene angebotspolitische Kurs der Lohnpolitik nicht versagt? Drittens: Wie hilfreich kann ein Bündnis für Arbeit sein?

Ich beginne mit der ersten Frage, nämlich inwieweit der lohnpolitische Kurs der vergangenen Jahre beschäftigungsfreundlich oder beschäftigungsfeindlich war. Der Sachverständigenrat hat zur Beantwortung dieser Frage in den letzten Jahren ein Konzept entwickelt, mit dessen Hilfe man quantitative Aussagen über die Angemessenheit eines lohnpolitischen Kurses machen kann. Im Mittelpunkt steht dabei die Forderung, daß auch die Lohnpolitik einen Beitrag zur Schaffung neuer Arbeitsplätze leisten muß. Um zu beurteilen, ob sie das tatsächlich getan hat, wendet das Konzept des Sachverständigenrates einen gedanklichen Kunstgriff an. Es wird zunächst gefragt, wie eine Lohnpolitik in einer Situation der Normalbeschäftigung oder gar einer Vollbeschäftigung aussehen könnte. Angenommen, diese Frage sei numerisch zu beantworten, dann wäre der nächste Schritt zu prüfen, ob angesichts der hohen Arbeitslosigkeit die Lohnkostenentwicklung unterhalb dieser Marke bei Normal- oder Vollbeschäftigung geblieben ist, um damit einen Beitrag zum Beschäftigungsaufbau zu leisten. Anders formuliert: in diesem Fall haben die Tarifvertragsparteien den Verteilungsspielraum nicht voll ausgeschöpft.

Mit anderen Worten: die Analyse muß in zwei Schritten vollzogen werden. Zum einen muß gefragt werden, wie denn ein lohnpolitischer Kurs in einer Situation der

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Normalbeschäftigung gestaltet werden kann, zum anderen muß dieses Ergebnis dann mit der tatsächlichen Entwicklung der Lohnkosten verglichen werden.

In einer Situation der Normal- oder gar Vollbeschäftigung, die derzeit selbstverständlich rein hypothetisch ist und nur zur Darstellung des Konzeptes dient, können die realen Lohnkosten in etwa im Ausmaß des echten Produktivitätsfortschritts zunehmen. Die Begründung dafür lautet stark vereinfacht, daß in einem solchen Fall, wenn nämlich die realen Lohnkosten im Ausmaß des echten Produktivitätsfortschritts steigen, die Lohnstückkosten konstant bleiben. Bei Konstanz der Lohnstückkosten, also der Lohnkosten pro produzierter Einheit, hat das Unternehmen zwar keine Veranlassung, zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen, aber dies ist in einer solchen Situation der Normal- oder gar Vollbeschäftigung auch nicht erforderlich. Auf der anderen Seite besteht bei Konstanz der Lohnstückkosten, wenn sonst alles andere gleich bleibt, auch keine Notwendigkeit, Arbeitskräfte freizusetzen, wobei beide Argumente gesamtwirtschaftlich zu betrachten sind, also nicht notwendigerweise für jedes individuelle Unternehmen zu jedem Zeitpunkt gelten.

Wenn es um den Produktivitätsfortschritt geht, so habe ich eben großen Wert auf die Bezeichnung „echter" Produktivitätsfortschritt gelegt. Warum? Die Begründung lautet, daß als Produktivitätsfortschritt in diesem Zusammenhang nicht der statistisch ausgewiesene Produktivitätsfortschritt dienen kann. Um dies zu verdeutlichen stelle man sich bitte für einen Moment vor, in einem Land hätte eine völlig überzogene Lohnpolitik stattgefunden. Daraufhin werden die Unternehmen Arbeitskräfte freisetzen, und allein aufgrund dieses Freisetzungseffektes steigt die statistisch gemessene Arbeitsproduktivität, weil die Unternehmen in etwa dieselbe Produktion mit weniger Arbeitskräften bewerkstelligen können. Es ist von vornherein klar, daß der Teil des Produktivitätszuwachses, der ausschließlich auf den Abbau der Beschäftigung zurückzuführen ist, in Lohnverhandlungen nicht verteilt werden kann, denn es ist kein echter Produktivitätsfortschritt, der beispielsweise durch eine verbesserte Infrastruktur, einen technischen Fortschritt oder eine verbesserte Qualifikation der Arbeitnehmer zustande kommt. Daher muß man die statistisch ausgewiesene Produktivität um diesen Beschäftigungsabbau bereinigen und erhält dann die um den Beschäftigungsabbau bereinigte Fortschrittsrate der Arbeitsproduktivität. Das ist die maßgebliche Größe, wenn es darum geht, für eine Situation der Vollbeschäftigung oder der Normalbeschäftigung den maximal möglichen Verteilungsspielraum auszurechnen. Die Unterschiede der echten Produktivität zur statistisch ausgemessenen Produktivität können durchaus beachtlich sein, also etwa 0,5 bis 1,0 Prozentpunkte betragen. Das sind keine vernachlässigbaren Größen.

Es ist noch eine weitere Ergänzung erforderlich. Die Tarifvertragsparteien verhandeln nicht über die Zunahme der realen Löhne, sondern über die Entwicklung der nominalen Löhne. Es erhebt sich also die Frage, inwieweit ein Ausgleich für zu erwartende Preissteigerungen gewährt werden kann. Zunächst hängt dies entscheidend davon ab, wie die Preissteigerungen zustande gekommen sind. Wenn die Preissteigerungen wie in Deutschland auf die Erhöhung indirekter Steuern zurückzuführen sind - also etwa aufgrund einer höheren Mehrwertsteuer oder Mineralölsteuer -, dann kann bezüglich dieser Inflationsraten kein Ausgleich in Form höherer Nominallöhne gegeben werden. Denn das, was der Staat gewollt über höhere Steu-

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ern und damit höhere Preise an sich zieht, ist ja längst verteilt und im Zweifelsfall als Betrag auch schon längst ausgegeben. Ähnliches gilt für Preiserhöhungen von Rohstoffen, denn die Rohstoffproduzenten realisieren durch diese Preiserhöhungen einen Anspruch auf das deutsche Sozialprodukt, der nicht nochmals in Lohnverhandlungen verteilt werden kann. Diese bittere Erfahrung haben wir bereits in den 70er Jahren erleben müssen, als versucht wurde, die damals exorbitant gestiegenen Ölpreise durch höhere Nominallohnabschlüsse wieder zu kompensieren. Das Ergebnis war sowohl eine höhere Inflationsrate als auch eine gestiegene Arbeitslosigkeit. Schließlich muß man bei der Frage eines möglichen Ausgleichs für Preissteigerungen beachten, ob es sich bei den Tarifverhandlungen um einen Sektor handelt, der sehr stark im internationalen Wettbewerb steht. Dann muß nämlich gefragt werden, ob und inwieweit diese Unternehmen auf den Weltmärkten durch inländische Kostensteigerungen induzierte Preissteigerungen an ihre Abnehmer weiterwälzen können. In vielen Fällen ist dies nicht möglich, wie die Berechnungen des Sachverständigenrates zur sogenannten Exportpreis-Drift nahe legen, bei der vereinfacht ausgedrückt die Entwicklung der Weltmarktpreise mit den inländischen Preissteigerungen verglichen wird.

Als Ergebnis dieser Überlegungen erhalten wir somit die mögliche Steigerungsrate der nominalen Lohnkosten für eine Situation der Normalbeschäftigung oder Vollbeschäftigung. Als zweiter Schritt muß nunmehr dieses Ergebnis mit der tatsächlichen Entwicklung der nominalen Lohnkosten verglichen werden. Liegen die tatsächlichen Steigerungsraten der Lohnkosten unter der Marke, die für Normal- oder Vollbeschäftigung gilt, dann haben sich die Tarifvertragsparteien beschäftigungsfreundlich verhalten.

Wie lautet das Ergebnis? Für die westdeutsche Gesamtwirtschaft kommt man aufgrund des dargestellten Vergleichs zu dem Ergebnis, daß sich die Lohnpolitik in den Jahren 1996 bis 1998 insgesamt eher beschäftigungsfreundlich verhalten hat, wenn auch mit unterschiedlichen Gewichten in den einzelnen Jahren. Für 1999 muß man allerdings sagen, daß die Lohnpolitik einen eindeutig beschäftigungsfeindlichen Kurs gefahren hat, wobei ich nochmals betonen möchte, daß diese Aussagen für die Gesamtwirtschaft gelten, nicht notwendigerweise für jede einzelne Branche.

Wenn sich mithin die Lohnpolitik in den Jahren 1996 bis 1998 in Westdeutschland insgesamt betrachtet beschäftigungsfreundlich verhalten hat, dann erhebt sich sofort die Frage, warum denn dann nicht die in Aussicht gestellten Arbeitsplätze geschaffen worden sind. Ich möchte diese Frage gleich mit einer zweiten Frage verbinden: Wie sind die Vorwürfe zu beurteilen, die dem Sachverständigenrat seinerzeit von Regierungsseite, insbesondere von dem seinerzeitigen Finanzminister Lafontaine, gemacht wurden, nämlich daß Lohnerhöhungen unterhalb der Produktivitätsentwicklung aufgrund eines damit verbundenen Nachfrageausfalls zu weiteren rezessiven Tendenzen führen würden. Wohlgemerkt: Die Kritik behauptet nicht, daß die Lohnerhöhungen oberhalb der Produktivitätsentwicklung vorzunehmen seien, es wird also nicht die naive Kaufkrafttheorie des Lohnes vertreten, sondern es wird gefordert, die Löhne entlang der Produktivitätslinie steigen zu lassen.

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Ich möchte die zuletzt genannte Frage als erstes beantworten, und zwar dahingehend, daß ich behaupte und zu beweisen versuche, daß Lohnerhöhungen unterhalb der Produktivitätsentwicklung eben keinen Nachfrageausfall darstellen. Wie ist dies zu begründen? Bei Lohnerhöhungen unterhalb der echten Produktivitätsentwicklung entstehen ebenfalls zusätzliche Einkommen, in diesem Fall zwar zu einem gewissen Teil nicht bei den Arbeitnehmern, dafür aber bei den Unternehmen in Form höherer Gewinne. Bezüglich der Verwendung dieser Gewinne gibt es nun zwei Möglichkeiten: Entweder die Unternehmen behalten diese Gewinne ein oder sie schütten sie aus. Im zuerst genannten Fall gibt es wiederum zwei Alternativen, nämlich zum einen, daß die Unternehmen die einbehaltenen Gewinne für Käufe von Gütern und Dienstleistungen verwenden, damit also Nachfrage entfalten, oder diese Gewinne auf dem Kapitalmarkt anlegen. Wenn die Unternehmen die Gewinne verausgaben, existieren wiederum zwei Verwendungsarten, nämlich: die Gewinnempfängerhaushalte können die empfangenen Gewinneinkommen entweder konsumieren oder sparen. Vermutlich gehören die Gewinnempfängerhaushalte eher den oberen Einkommensschichten an, bei denen die Sparquote oberhalb des Durchschnitts liegen dürfte. Insgesamt betrachtet kann der behauptete Nachfrageausfall, wenn überhaupt, dann nur aufgrund der Ersparnis der Unternehmen oder der Gewinnempfängerhaushalte entstehen. Zusätzlich ist aber zu bedenken, daß dieser potentielle Nachfrageausfall durch einen Gegeneffekt zumindest kompensiert wird. Aufgrund der dargestellten zurückhaltenden Lohnpolitik verbessert sich die Wettbewerbsposition inländischer Unternehmen auf den Weltmärkten, d.h. unter anderem, daß die Exporte und damit die gesamtwirtschaftliche Nachfrage steigen. Insgesamt betrachtet entsteht vor diesem Hintergrund überhaupt kein Nachfrageausfall.

Gegen diese Argumentation ist nun wiederum eingewandt worden, daß aufgrund der gestiegenen Exporte Deutschland durch eine zurückhaltende Lohnpolitik im Prinzip seine Beschäftigungsprobleme in andere Länder exportieren würde, weil deutsche Exporte ja nichts anderes seien als Importe anderer Länder. Aber auch dieses Argument ist nicht stichhaltig. Zwar stimmt die einfache Saldenmechanik, daß die Exporte Deutschlands gleich den Importen anderer Länder sein müssen, jedoch ist das Welthandelsvolumen keine fest vorgegebene Größe, bei der es im Sinne eines Nullsummenspiels nur darum gehen kann, daß der eine das gewinnt, was der andere verliert. Wenn alle Länder sich anstrengen und wettbewerbsfähiger werden, dann steigt das Welthandelsvolumen und alle Länder können gewinnen, immer vorausgesetzt, sie unternehmen hinreichende Anstrengungen, um bezüglich ihrer Wettbewerbsfähigkeit mit anderen Ländern Schritt zu halten. Natürlich wird es im Zuge der Internationalisierung der Märkte auch Verlierer geben, insbesondere solche Gruppen, die sich nicht anpassen können oder wollen. Hier ist insbesondere das Hauptaugenmerk auf die Anbieter gering qualifizierter Arbeit zu lenken. Aber dies ist ein anderes Thema.

Nebenbei bemerkt, findet sich die irrige Vorstellung, daß ökonomische Größen fest vorgegebene Werte annähmen, sehr häufig. Ein anderes Beispiel ist die flächendeckende und erzwungene Arbeitszeitverkürzung. Dahinter steckt wiederum die Annahme, wir hätten ein fest vorgegebenes Arbeitsvolumen, welches umverteilt werden müßte, nämlich entweder von Alt nach Jung (Rente mit 60) oder von den Arbeitsplatzbesitzern zu den Arbeitslosen (flächendeckende oder erzwungene Arbeitszeit-

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verkürzung). Auch diese Vorstellung ist irrig, denn es ist wesentlich besser, eine kluge Wachstumspolitik zu betreiben und das Arbeitsvolumen insgesamt zu steigern, so daß sowohl Alt und Jung als auch die Arbeitslosen allgemein davon profitieren. Die Behauptung, dies sei nicht möglich, weil es bei uns nicht genug zu tun gäbe, läßt sich leicht widerlegen. In den USA steigt seit Jahren, wenn nicht seit Jahrzehnten die Beschäftigung, weil neue Arbeitsplätze in beachtlichem Umfang geschaffen werden. Man muß die Strategie der USA nicht 1:1 übernehmen, also beispielsweise das Problem der „working poor" zu vermeiden suchen. Dafür gibt es einige intelligente Denkansätze und Modellversuche in Deutschland.

Ich kehre nun zur ersten Frage zurück, nämlich warum trotz einer beschäftigungsfreundlichen Lohnpolitik kein Beschäftigungsaufbau stattgefunden habe. Stimmt also die Behauptung, daß die angebotsorientierte Wirtschaftspolitik - hier in Form einer zurückhaltenden Lohnpolitik - versagt hat? Der Schlüssel zur Beantwortung dieser Frage liegt im Vergleich von zwei Lohnvarianten. Den Arbeitnehmer interessiert naturgemäß der reale Nettolohn, also das, was er nach Abzug von Steuern und Abgaben und unter Berücksichtigung von Preissteigerungsraten tatsächlich zur Verfügung hat. Dieser sogenannte Konsumlohn ist in den letzten ungefähr fünf Jahren um größenordnungsmäßig 2% absolut gesunken. Von daher ist es sehr verständlich, wenn die Arbeitnehmer die Erfolgsaussichten einer Lohnzurückhaltung ablehnend beurteilen.

Betrachten wir aber für denselben Zeitraum die andere Lohnvariante, wobei ich mich ebenfalls wieder auf Westdeutschland beziehe. Für die Entscheidung des Unternehmens, wieviel Arbeit es in seinem Produktionsprozeß einsetzt, ist nicht der reale Nettolohn entscheidend, sondern es sind die realen Bruttolohnkosten, die hier relevant sind. Das heißt zum einen, daß Unternehmen die Personalzusatzkosten etwa in Form der Beiträge zur sozialen Sicherung ebenso einkalkulieren wie die Preisentwicklung auf ihren Absatzmärkten (im Gegensatz zu den Konsumenten, für die der Preisindex für die Lebenshaltung die relevante Größe ist). Dieser für die Unternehmen relevante sogenannte Produktlohn ist in dem genannten Zeitraum um gut 8% gestiegen. Mit anderen Worten: Es wurde ein immer größerer Keil geschoben zwischen dem Betrag, den die Arbeitnehmer netto und real zur Verfügung haben, und dem Betrag, den die Unternehmen aufwenden müssen, wenn sie Arbeit einsetzen. Verantwortlich für diesen Keil sind höhere Steuern und vor allem gestiegene Abgaben zur sozialen Sicherung, also etwa höhere Rentenversicherungsbeiträge, höhere Beiträge zur Pflege- und Krankenversicherung. Obwohl es eine gewisse Berechtigung hat, erscheint es mir gleichwohl zu oberflächlich zu sein, nun der Sozialpolitik die alleinige Schuld aufzubürden. Zwar hat die Sozialpolitik in den letzten beiden Dekaden viele neue und erweiterte soziale Leistungen dadurch finanziert, daß immer mehr Lasten auf die Entlohnung des Faktors Arbeit geschultert wurden. Das war zweifellos ein Fehler und den Vorwurf muß die Sozialpolitik sich gefallen lassen, daß sie die daraus resultierenden Beschäftigungsprobleme nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte. Auf der anderen Seite ist es nicht so, daß die Sozialpolitiker die sozialen Leistungen gegen den erbitterten Widerstand der Betroffenen eingeführt hätten. Letztlich haben sie nur das Anspruchsdenken dieser Gesellschaft vollzogen. Daran sollte man denken, wenn es um Schuldzuweisungen für den genannten Keil geht.

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Dies ist auch der Hintergrund, warum vielerorts für eine Reform der Systeme der sozialen Sicherung plädiert wird, etwa im Hinblick auf mehr Eigenvorsorge und Eigenverantwortung. Ich möchte an einem kleinen Beispiel zeigen, was ich konkret meine. Es geht um die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, die von der derzeitigen Bundesregierung wieder auf eine Ersatzleistung in Höhe von 100% vom ersten Tage an ausgestaltet wurde, unbeschadet der Tatsache, daß vieles in Tarifverträgen geregelt ist. Damit hat die jetzige Bundesregierung die zaghaften Reformversuche der Vorgängerregierung wieder rückgängig gemacht. Jedoch können beide Ansätze nicht zufrieden stellen, es gibt eine wesentlich bessere Strategie. Man könnte beispielsweise daran denken, daß die Unternehmen die durchschnittlichen Kosten für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall nach einem noch festzulegenden Schlüssel als Lohnbestandteil auf die Arbeitnehmer verteilen, und fortan sind ausschließlich die Arbeitnehmer für die Versicherung im Krankheitsfall im Hinblick auf die Lohnfortzahlung zuständig und verantwortlich. Die Arbeitnehmer müssen eine Pflichtversicherung abschließen, um mögliche Moral-Hazard-Probleme zu vermeiden, die darin bestehen mögen, daß jemand darauf vertrauen kann, daß ihm geholfen wird, obwohl er sich nicht versichert hat. Diese Pflichtversicherung soll aber in Form einer Grundversicherung ausgestaltet sein. Was darüber hinausgeht, steht im Belieben der Arbeitnehmer. Wenn der Vergleich auch etwas gewagt ist und möglicherweise hinkt, so könnte man diese Versicherung zur Lohnfortzahlung im Krankheitsfall mit der Kraftfahrzeugversicherung vergleichen. Auch dort besteht für einen gewissen Versicherungsschutz eine Pflichtversicherung, aber man kann sich auch Vollkasko versichern, dies ist dann allerdings teurer. Wenn also im Krankheitsfall jemand vom ersten Tage an 100% seines letzten Nettolohnes ersetzt bekommen will, so kann er eine entsprechende Vollkaskoversicherung abschließen. Hingegen wird es genügend Arbeitnehmer geben, die eine solche Vollkaskoversicherung nicht benötigen und nicht wollen, etwa weil sie den Lohnausfall im Krankheitsfall bis zu einem bestimmten Zeitpunkt aus anderen Einkommen oder aus Ersparnissen finanzieren können. Man könnte auch daran denken, mit Beitragsrückgewähr und Rabatten zu arbeiten, wenn der Arbeitnehmer die Versicherung eine Zeitlang nicht in Anspruch genommen hat. Damit würden allfällige Probleme eines „blauen" Montags oder Freitags zumindest abgemildert. Selbstverständlich müßten für chronisch kranke Menschen Sonderregelungen geschaffen werden. Wie gesagt, dieses Beispiel dient nur dazu, zu verdeutlichen, was mit mehr Eigenvorsorge und mehr Eigenverantwortung gemeint ist. Es geht nicht darum, puren Sozialabbau zu betreiben, sondern die Systeme der sozialen Sicherung zielgenauer und effizienter zu gestalten und damit einen Beitrag zur Senkung der Personalzusatzkosten zu leisten.

In diesem Zusammenhang ist auch die Unterscheidung in Arbeitgeberbeiträge und Arbeitnehmerbeiträge zu thematisieren, weil sie irreführend ist. Zwar obliegt bei den Arbeitgeberbeiträgen den Unternehmen die Zahllast, aber die Traglast dieser Arbeitgeberbeiträge liegt letztlich und nach Beendigung aller Anpassungsprozesse bei den Arbeitnehmern. Denn entweder können die Unternehmen diese Arbeitgeberbeiträge über erhöhte Preise weiterwälzen, dann sinkt der Reallohn. Wenn dies nicht möglich ist, werden die Unternehmen Arbeit freisetzen, und es entsteht höhere Arbeitslosigkeit. In beiden Fällen liegt mithin die Traglast auch der Arbeitgeberbeiträge bei den Arbeitnehmern. Zu kritisieren ist ferner die starke Fokussierung auf Lohnzu-

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Satzkosten in der öffentlichen Debatte. Für die Unternehmen spielt es keine Rolle, ob sie Lohnbestandteile bar auszahlen oder an die Sozialversicherungsträger überweisen. Arbeitskosten bleiben Arbeitskosten. Anders formuliert: Arbeitnehmer können sehr wohl einen gut ausgebauten sozialen Schutz beanspruchen, vorausgesetzt, sie üben an anderer Stelle Zurückhaltung, also entweder bei der Entlohnung oder in Form einer höheren Arbeitszeit.

Abschließend möchte ich noch kurz auf die Frage eingehen, inwieweit das Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerbsfähigkeit hilfreich sein kann. Zu diesem Zweck möchte ich das Augenmerk auf die seinerzeitige Koalitionsvereinbarung dieser Bundesregierung richten. Dort steht, daß die Bundesregierung von insgesamt drei Grundsätzen ausgehen wolle. Beim ersten Grundsatz wird festgehalten, daß die Gewerkschaften und Unternehmen für eine beschäftigungsorientierte Tarifpolitik und für eine Organisation der Arbeit, die dem Flexibilisierungsbedarf der Betriebe und dem Wunsch der Beschäftigten nach mehr Zeitsouveränität Rechnung tragen solle, zuständig seien. Das ist wohlgemerkt der erste Grundsatz, und damit anerkennt die Bundesregierung die Führungsrolle der Tarifvertragsparteien, wenn es um die Frage der Beschäftigung geht. Folgerichtig war es dann eigentlich, daß Anfang Juli 1999 im Bündnis ein gemeinsames Papier sowohl vom Deutschen Gewerkschaftsbund wie von der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände unterschrieben wurde, in dem es hieß, daß Produktivitätszuwächse vorrangig zur Beschäftigungsförderung verwendet werden sollten. Dies wurde Anfang Januar 2000 bekräftigt. Wenn man beide Dokumente zusammenfaßt, dann lautet die Aufforderung an die Tarifvertragsparteien im Bündnis: Halten Sie sich bitte an das, was Sie selbst unterschrieben und damit für richtig anerkannt haben, nämlich eine beschäftigungsfreundliche Tariflohnpolitik. Davon war im Jahre 1999 nichts zu spüren, und insoweit hat sich bis jetzt jedenfalls das Bündnis als Fehlschlag erwiesen.

Der zweite Grundsatz in der seinerzeitigen Koalitionsvereinbarung besagt, daß es Aufgabe der Wirtschaft sei, die Anstrengungen für Investitionen und Innovationen zu verstärken. Wirtschaft und Verwaltung stünden in der Pflicht, durch Erhöhung der Lehrstellenzahl für jeden Jugendlichen einen qualifizierten Ausbildungsplatz bereitzustellen. Auch diesen Grundsatz kann man wie schon den ersten voll unterschreiben, diesmal vielleicht mit leichten Vorbehalten. Selbstverständlich sollen Unternehmer etwas unternehmen, sie heißen schließlich nicht Unterlasser, sondern sollen mit innovativen Produkten neue Märkte erschließen. Selbstverständlich genießt auch der Kampf gegen die Jugendarbeitslosigkeit oberste Priorität, und dahingehend ist die Intention des Programms der Bundesregierung gegen Jugendarbeitslosigkeit zu unterstützen. Jugendarbeitslosigkeit ist das gravierendste Arbeitsmarktproblem. Zahlreiche empirische Untersuchungen belegen, daß Jugendarbeitslosigkeit eben kein kleiner Unglücksfall am Beginn des Erwerbslebens ist, sondern sich wie eine häßliche Narbe durch das ganze spätere Erwerbsleben zieht, sei es in Form verringerter Beschäftigungschancen, sei es in Form niedrigerer Einkommen. Von daher gesehen ist die Intention der Bundesregierung zu begrüßen. Zu warnen ist allerdings vor numerischen Zielangaben, wie etwa 100.000 Jugendliche. Sind es genau 100.000? Die Nennung solcher quantitativer Vorgaben birgt immer die Gefahr in sich, daß der bloßen Erfüllung einer solchen Zielmarke wegen dann doch zu ungeeigneten Maßnahmen gegriffen wird, die entweder reine Mitnahmeeffekteten oder

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den Jugendlichen letztlich doch nicht helfen. Nicht unerwähnt soll bleiben, daß zu einer Erhöhung der Ausbildungsplätze in unserem dualen System sowohl die Tarifvertragsparteien wie auch der Staat ihren Beitrag weiterhin leisten müssen, unter anderem durch Zurückhaltung bei den Ausbildungsvergütungen und mehr Flexibilität bei den Ausbildungsordnungen.

Der dritte Grundsatz in der Koalitionsvereinbarung legt fest, daß die Bundesregierung die Rahmenbedingungen für nachhaltiges Wachstum und zukunftsfähige Arbeitsplätze schaffen werden. Auch hier ergeht die Aufforderung an das Bündnis, das zu machen, was versprochen und angekündigt wurde. Im Hinblick auf die notwendige Unternehmenssteuerreform - um nur ein Beispiel zu nennen - ist die Bundesregierung sicherlich auf dem richtigen Wege, wenn es auch noch eine Reihe von Ungereimtheiten bei dieser Reform auszumerzen gilt.

Insgesamt gesehen stehe ich dem Bündnis für Arbeit, Ausbildung und Wettbewerb ziemlich skeptisch gegenüber, weil die Versprechungen und Verträge bisher nicht oder bestenfalls nur ansatzweise erfüllt worden sind. Gerne würde ich mich hier aber eines Besseren belehren lassen, die Tarifvertragsparteien und die Bundesregierung haben es in der Hand, mich vom Gegenteil zu überzeugen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2002

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