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6. Reflexionen zur kommunalen Verkehrsplanung der Nachkriegszeit

Der Verkehrswissenschaftler von der Universität/Gesamthochschule Kassel (GhK) stellte den Zusammenhang von Stadtkommunikation und Verkehr in den Vordergrund seines Beitrags. Seine zentrale These lautet, dass sich unsere Städte im Gegensatz zum Schlagwort „Kommunikationsgesellschaft" während der vergangenen fünfzig Jahre eher kommunikationsfeindlich entwickelt haben, wobei unter Kommunikation die Auseinandersetzung mit Menschen und Dingen im weitesten Sinne gemeint wird.

Die kommunikationsfeindliche Abschottung basiert vorrangig auf der Entwicklung des Verkehrs, die maßgeblich nach dem von Bernhard Reichow konzipierten Leitbild der „autogerechten Stadt" erfolgt. Reichow störte sich an der rasterförmigen Anordnung von Straßennetzen und der aus seiner Sicht damit verbundenen verkehrstechnischen „Übererschließung" der Stadt. Als Alternative schlug Reichow eine Orientierung des Straßennetzes am Wasserversorgungsnetz vor, das über Verzweigungen von Haupt- und Nebenleitungen nur jeweils einen Anschluss pro Gebäude vorsieht. Reichow plädierte dafür, Straßenrasternetze durch sich verzweigende Netze analog organischer Strukturen zu ersetzen.

Die Verwendung vergleichsweise einfacher Bilder wie Blätter oder Lungenflügel als Orientierungsmuster für den Städtebau führte in der Realität von Konzeptumsetzungen oftmals zu komplexen Problemen. Reichows Netzplanung, die unter anderem die Sackgasse mit Wendehammer einführte, kritisierte der Kasseler Wissenschaftler als System extremer sozialer Kontrolle, da für die Bewohner von nach diesem Prinzip angelegten Wohnsiedlungen nur jeweils eine Möglichkeit besteht, von einem Punkt zu einem anderen zu gelangen. Dieser Umstand sei zwar an sich noch nicht kommunikationsfeindlich, werde es allerdings durch die Trennung der unterschiedlichen Nutzungsarten von Straßen und Wegen. Reichow sah die Nutzung von Straßen ausschließlich für den Autoverkehr vor und entwickelte für Fußgänger und Radfahrer separate Wegenetze. Als Resultat entstanden erlebnis- und kommunikationsarme öffentliche Räume mit nur geringer sozialer Kontrolle, da sich unterschiedliche Nutzer nicht mehr begegneten. Straßenkreuzungen - für den Referenten Sinnbilder für Erlebnisreichtum - waren in dem neuen Straßennetz nicht mehr vorgesehen.

Einer der einflussreichen Theoretiker der Verkehrsentwicklung ist Collin Buchanan, der Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre in Großbritannien die Arbeitsgruppe „Traffic in Towns" leitete. Buchanan entwickelte die mittlerweile in vielen europäischen Städten umgesetzte Vorstellung, die Rasternetze der Innenstädte zu schließen und dafür innenstadtumgebende Tangenten zu errichten. Als Ergebnis entstanden schwer überquerbare Straßenbarrieren und ein-

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zelne, voneinander abgeschottete Verkehrsgebiete. Diese Form der Abriegelung hält vor allem Fremde aus dem Innenstadtbereich fern und weist damit ebenfalls starke Effekte sozialer Kontrolle auf. Die Verdrängung von Durchgangsverkehr auf Hauptverkehrsstraßen führt darüber hinaus zu dem heute vielfach beklagten Problem der Verkehrsüberlastung.

Der Vertreter der GhK beklagte, dass dieses System trotz aller bekannten Problem bis heute kaum hinterfragt wird. Nur wenige Städte beginnen damit, ihre Straßennetze wieder zu öffnen, Durchgänge zu schaffen, Raster wieder zu vervollständigen und kleinteiligere städtische Strukturen zu schaffen. In diesem Zusammenhang besitze das Buch „Tod und Leben großer amerikanischer Städte" von Jane Jacobs als Plädoyer für den Erlebnisraum Straße bzw. Straßenecke und -kreuzung auch heute noch große Aktualität. Jane Jacobs habe lebendige städtische Gebiete genau dort entdeckt, wo kleine Blocklängen vorherrschen und viele Straßen vorzufinden sind. Das Angebot vieler Wege und Straßen mit Bürgersteigen sowie sich gegenüber liegenden Hauseingängen als Potenziale für städtische Kommunikation steht allerdings dem Konzept Reichows diametral entgegen.

Am Beispiel einer Straße in einem typischen Bremer Altbauquartier kann verdeutlicht werden, dass trotz kleinteiliger Strukturen, auf deren Erhalt bei der Sanierung besonderer Wert gelegt wurde, eine ähnlich hohe Bevölkerungsdichte erreicht werden kann wie in einigen Stadtvierteln mit Hochhausbebauung. Ein besonderes Charakteristikum des „Bremer Hauses" sind kleine Treppenaufgänge vom Fußweg in den Eingangsbereich, die als Übergänge zwischen Öffentlichkeit und Privatsphäre Kindern einen sicheren Rückzugsraum bei der Entdeckung ihrer Umwelt bieten. Vergleichweise schmale, dicht nebeneinander stehende Wohnhäuser sowie kleine Gewerbebetriebe im Wohngebiet schaffen hier für Kinder einen erlebnisintensiven Lernraum auf kleinster Fläche.

Negativbeispiele können dagegen in den meisten reinen Wohngebieten mit weitläufigen verkehrsberuhigten Bereichen und funktionsräumlichen Trennungen gesehen werden, die Kindern nur wenige Lernanreize bieten. Der Kasseler Verkehrsplaner plädierte daher dafür, wieder mehr Straßen zu bauen und damit eine flexibel nutzbare Struktur zu schaffen. Solche Straßen müssten dabei nicht zwangsläufig aussehen wie bisher; sie könnten - analog der erhaltenen Netze in Altbauquartieren - wesentlich kleinteiliger angelegt werden. Ein solches Umdenken müsse auch mit der Aufgabe privater „Autofixiertheit" einhergehen. In solchen kleinteiligen Strukturen mit geringen Kreuzungsabständen und Rechts-vor-Links-Regelung funktioniere Verkehrsberuhigung von alleine, wie unter anderem das Bremer Beispiel zeige.

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Abbildung 3: Gründerzeitliches Straßenprofil in Bremen (Quelle: Friedrich-Ebert-Stiftung (hrsg.), 2000, S. 23)

Ein weiteres Kriterium für eine kommunikative Stadt ist nach Auffassung des Verkehrswissenschaftlers die Schaffung von „Anlässen zur Lebendigkeit". Die heutige Stadt versuche, Spannungen in jedem Fall zu vermeiden und degeneriere dadurch immer mehr zur Fassade. Auch Innenstädte müssten wieder für andere Nutzungen als die klassischen City-Funktionen geöffnet werden, um Sterilität zu vermeiden.

Viele Ursachen der angesprochenen Missstände liegen in der bisherigen Trennung von Verkehrs- und Stadtplanung. Zukünftig müssten beide Bereiche integriert werden: Verkehr sei kein eigener Planungsbereich, sondern müsse sich Stadtplanung und -entwicklung „dienend" unterordnen. Umgekehrt müssten andere Fachbereiche wie beispielsweise die Architektur von vornherein wieder stärker verkehrliche Belange in ihren Planungen berücksichtigen.

Bemängelt wird das weitgehende Fehlen empirischer Untersuchungen zur Funktionsweise von „Lebendigkeit" in der Stadt. Notwendige Voraussetzung für gute Planung sei weniger die Funktionsfähigkeit von Dingen als vielmehr die Schaffung von Strukturen, in denen selbstständige Kommunikation möglich ist. Für die Gewährleistung von Kommunikation entstünden weitaus geringere Kosten als für soziale „Reparaturleistungen" in folge fehlender Kommunikation.

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Der Kasseler Wissenschaftler plädierte dafür, Vorbilder für urbane Lebensweisen zu schaffen. Hierfür seien tiefgreifende Änderungen der bisherigen Planungspraxis und eine modifizierte Betrachtung von „Stadt" notwendig - beispielsweise indem Straßen wieder als Vorplatz von Häusern begriffen werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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