FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 32]


5. Stadt als Lernort oder als Ort der Gewalt?

Der Vertreter der Freien Universität Berlin (FU) bezeichnete im Rückgriff auf den Titel seines Beitrags die Stadt polemisch als „Lernort der Gewalt". Gewaltbereitschaft sei keine Prädisposition des Menschen, sondern Ergebnis so-zialen Lernens in einem spezifischen Umfeld. Der Referent fragte in diesem Zusammenhang nach städtischen Faktoren, die Gewalt bedingen und befördern können.

Keim [Fn. 2: Der Aufsatz: Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Groß stadt. Soziologische Stichworte.- Opladen, 1998: 67-78 wird im folgenden ergänzend zu den Ausführungen des Vertreters der FU Berlin ausgewertet.] sieht Städte ambivalent als „Wiegen der Zivilisation" und „Brennpunkte gesellschaftlicher Probleme und Konflikte, (...) als Orte von Desorganisation und Unsicherheit." Eine Folge des Strukturwandels der 90er Jahre ist die Zunahme unterschiedlicher Erscheinungsformen städtischer Desorganisation, zu denen Gewalttätigkeit, Kriminalität, die Erosion zivilisierter Formen des Umgangs in öffentlichen Stadträumen sowie ein steigendes subjektives Unsicherheitsgefühl der Bevölkerung gehören, wie auch der Vertreter der FU betonte. Nach Keim lassen sich im wesentlichen drei Gründe für zunehmende Desorganisation erkennen:

  • Die verstärkten Bemühungen wirtschaftlicher und (kommunal-) politischer Akteure, städtische Ökonomien in den Kontext der Globalisierung zu integrieren, führt vor allem in Großstädten zu einer sozialen Polarisierung von „Gewinnern" und „Verlierern" ökonomischer Restrukturierungen. Die Folgen sind verstärkte innerstädtische Segregationstendenzen, die zur Bildung benachteiligter Wohnquartiere und sozialer Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsgruppen mit entsprechenden Konfliktpotenzialen führen können.

  • Die zunehmende Einwanderung von Migranten aus nichteuropäischen Ländern kann innerhalb deutscher Großstädte zu Konflikten zwischen „Erster" und „Dritter Welt" führen, wenn vom Strukturwandel besonders stark betroffene einheimische Gruppen mit Neuankömmlingen um knappe Ressourcen wie günstigen Wohnraum oder gering qualifizierte Arbeitsplätze konkurrieren müssen.

  • Umbau und Nutzungswandel des öffentlichen Raums - plakatiert in der Spaltung zwischen privatisierten Räumen von Malls, Passagen und Galerien mit gehobenen Konsumangeboten sowie vernachlässigten und daher oftmals als unästhetisch und unsicher empfundenen Räumen - werden von einzelnen Bevölkerungsgruppen als Orientierungsverlust erlebt.

Die Fachliteratur spricht von einem Ansteigen der Häufigkeit von Gewaltdelikten in Städten seit Mitte der 60er Jahre mit einer besonderen Konzentration in Großstädten. Seit Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre wird

im Zusammen-

[Seite der Druckausgabe: 33]

hang mit der Öffnung des Ostblocks und Tendenzen der Privatisierung von Teilbereichen des öffentlichen Raumes erneut über die Zunahme gewaltförmigen bzw. kriminellen Handelns in deutschen Städten berichtet.

Dabei wird zwischen den Begriffen „Gewalt" und „Kriminalität" unterschieden, deren gemeinsame Schnittmenge die „Gewaltdelinquenz" ist. Der Gewaltbegriff muss differenziert betrachtet werden. Beispielsweise kann Gewaltanwendung ein normativ gesichertes Privileg von Machtausübung, einen normativ zu sanktionierenden Rechtsbruch oder auch subkulturellen Normen entsprechendes, allerdings gesetzeswidriges Verhalten beschreiben. Keim differenziert den Gewaltbegriff, indem er Gewaltverhältnisse (gesellschaftliche Chancen von Macht), Gewalttätigkeit (Ausübung von Gewalt mit der Folge von Personen- oder Sachschädigung) und Gewalterleiden (körperliche Wirkung physischer und indirekt wirksamer Gewalt) unterscheidet. Der Vertreter der FU betonte den Begriff der strukturellen Gewalt, die sich beispielsweise in sozialräumlichen Verdrängungsprozessen manifestiere.

Der Kriminalitätsbegriff dagegen „faßt diejenigen als sozialschädlich beurteilten Handlungen zusammen, die strafrechtlich sanktioniert werden." [Der Aufsatz: Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Groß stadt. Soziologische Stichworte.- Opladen, 1998: 67-78 wird im folgenden ergänzend zu den Ausführungen des Vertreters der FU Berlin ausgewertet., S. 70.] In diesem Zusammenhang werden vom Vertreter der FU und von Keim polizeiliche Kriminalstatistiken als problematische Informationsquellen über das Ausmaß von Kriminalität (in Städten) bezeichnet, da sie lediglich auf den tatsächlichen Ermittlungsfällen basieren. Damit sind diese Statistiken stark durch das Anzeigeverhalten der Bevölkerung, polizeiliche Kontrollstrategien und räumliche Kontrollschwerpunkte beeinflußt; über Dunkelziffern - vor allem im Bereich von Privathaushalten - können nur Schätzungen abgegeben werden. Vor diesem Hintergrund erscheinen auch Städtevergleiche zur Kriminalstatistik in ihren Aussagen fragwürdig. Schließlich weicht das Faktenwissen oftmals stark vom subjektiv empfundenen Unsicherheits- oder Bedrohtheitsgefühl der Bevölkerung ab, das vor allem durch Beobachtungen im Alltag und die Medienberichterstattung aufgebaut wird. Keim unterscheidet unter anderem folgende Erklärungsmodelle des Zusammenspiels spezifisch stadträumlicher Strukturen mit möglichem gewalttätigem und/oder kriminellem Verhalten:

  • Gelegenheitsstrukturen und „Delinquenzgebiete": Die funktionsräumliche Trennung der Stadt und zunehmende Suburbanisierung führen zu längeren Abwesenheitszeiten vom eigenen Zuhause, zur Anonymisierung öffentlicher Räume, zum Abbau informeller sozialer Kontrollnetze und damit zur Ausweitung von Gelegenheitsstrukturen für Eigentums- und Gewaltkriminalität. „Delinquenzgebiete sind gekennzeichnet durch stadtstrukturelle, nach Nutzungsarten heterogene Transitionsprozesse mit einer wirtschaftlich schwachen, fluktuierenden Bevölkerung, sozialer Desorganisation, bauli-

[Seite der Druckausgabe: 34]

    chen Umbruchsituationen (...)." [Fn. 4: Der Aufsatz: Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Groß stadt. Soziologische Stichworte.- Opladen, 1998: 67-78 wird im folgenden ergänzend zu den Ausführungen des Vertreters der FU Berlin ausgewertet, S. 72.] Dazu gehören Teile der City, ältere Innenstadtquartiere, aber auch Teile neuerer Wohngebiete. Keim weist auf Thesen hin, nach denen bestimmte städtebauliche Strukturen (z.B. monofunk-tionale Hochhaussiedlungen) zwar nicht selbst Gewalt und Kriminalität hervorbringen, aber im Sinne von Mediatoren Erscheinungsformen städtischer Desorganisation Vorschub leisten können.

  • Soziale Desorganisation und „breeding areas": Basierend auf den sozialökologischen Studien der Chicago School aus den zwanziger Jahren insbesondere zu Fragen von Segregation und der Ungleichverteilung von Quartierseigenschaften wurde Ende der 80er Jahre ein Begriff sozialer Desorganisation definiert, der die mangelnde Befähigung eines Stadtteils meint, „die für ihre Bewohner wichtigen gemeinsamen Werte zu erzeugen und soziale Kontrolle über das Territorium auszuüben." [Fn. 5: Der Aufsatz: Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität. In: Häußermann, Hartmut (Hrsg.): Groß stadt. Soziologische Stichworte.- Opladen, 1998: 67-78 wird im folgenden ergänzend zu den Ausführungen des Vertreters der FU Berlin ausgewertet, S. 73.] Wesentliche Faktoren, die das Ausmaß sozialer Desorganisation auf Stadtteilebene bestimmen, sind danach die soziale Kontrolle über jugendliche Gruppierungen, die Intensität lokaler Beziehungsnetze und die Fähigkeit zur Organisation von Interessen auf der lokalen Ebene. Sampson/Groves [Fn. 6: Sampson, Robert; Groves, Byron: Community structure and crime: Testing social-disorganizing theory. In: American Journal of Sociologie, 94. Jg., S. 774-802, zitiert in: Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität, ..., a.a.O.] haben in diesem Zusammenhang festgestellt, dass die genannten Faktoren um so schwächer ausgeprägt sind, je niedriger der sozioökonomische Status eines Gebiets ist. Verstärkende Negativfaktoren sind hohe Fluktuation und starke ethnische Heterogenität. Aufgrund von Untersuchungen in Basel kam Eisner [Fn. 7: Eisner, Manuel: Das Ende der zivilisierten Stadt? Die Auswirkungen von Modernisierung und urbaner Krise auf Gewaltdelinquenz. Frankfurt/Main, New York 1997, zitiert in : Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität, ..., a.a.O.] zu dem Schluss, „dass aus einer Verdichtung sozialer Problemlagen in Verbindung mit Formen der Deprivation und der ethnischen Segregation soziale Milieus entstehen können, die der Entstehung einer Gewaltbereitschaft förderlich sind."[Fn. 8: zitiert nach: Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität, ..., a.a.O., S. 74.]

  • Verlust des öffentlichen Stadtraums: Das theoretische Konzept der „Informalisierung" beschreibt „Veränderungen der Verhaltensstandards (...), die zu einer Erweiterung der Toleranzangaben bei Normen bzw. zu deren Auflockerung führen." [Fn. 9: zitiert nach: Keim, Karl-Dieter: Gewalt, Kriminalität, ..., a.a.O., 76.] Konkreter wird davon ausgegangen, dass in Bezug auf den öffentlichen Raum, der durch Funktionstrennung, Suburbanisierung, Deindustrialisierung, Privatisierung usw. einen Bedeutungsverlust erfahren hat (unter anderem als Kommunikationsraum), ein Wertewandel im Umgang mit öffentlichem Stadtraum festzustellen ist. „Informalisierung" bzw. die Aufweichung von Normen seien Gründe für teilweise aggressives Verhalten vor allem von Jugendlichen gegenüber Einrichtungen des öffentli-

[Seite der Druckausgabe: 35]

    chen Raums. Sachbeschädigungen durch Jugendliche könnten als Aggressionen gegen eine wenig Orientierung und Integration stiftende städti-sche Umwelt, als Missachtung der in der städtischen Umwelt materialisierter Werte oder als Mittel zur Erreichung von Aufmerksamkeit interpretiert werden.

Keim sieht in Gewalt und Kriminalität Zeichen für Auflösungsprozesse der Stadt, die er in drei Punkten zusammenfasst:

  • Das klassische Bild der Stadt, verbunden mit Urbanität im Sinne von Einheitlichkeit, Gemeinwesen und Bindekraft des Ortes löst sich auf.

  • Der gestaltete öffentliche Raum wirkt zunehmend unwirtlich, belastend und damit immer weniger identitätsstiftend.

  • Soziale Netzwerke lösen sich auf, Individualisierung und Rückzug in die Privatsphäre nehmen zu.

Städtische Reorganisation basiert nach Keim vor allem auf stärkerem Bürgerengagement, das von Kommunalpolitikern und anderen wichtigen Akteuren der Stadtöffentlichkeit flankiert werden muss. Die Stadt - so der Vertreter der FU - muss (wieder) als politische und damit gesellschaftliche Einheit begriffen werden, in der ein hohes Maß bürgerlicher Partizipation möglich ist. Damit stehen auch für ihn die Fragen im Vordergrund, welche Faktoren Einheit in der Stadt stiften und wie soziale Kontakte zustande kommen. Die Stadt sei immer Spiegel der sozialen Verhältnisse. Konzepte zur Veränderung von gewalt- und kriminalitätsfördernden Rahmenbedingungen müssten langfristig angelegt und Schritt für Schritt umgesetzt werden, um der Geschwindigkeit von Verhaltensänderungen Rechnung zu tragen; „Schnellschüsse" in Form kurzfristiger Programme und Initiativen seien nicht ausreichend. Sicherheitspolitisch, d.h. mit rein (privat-)polizeilichen Strategien, dem Rückzug einkommensstärkerer Haushalte in „gated communities" oder der Privatisierung des öffentlichen Raumes - beispielsweise in shopping malls US-amerikanischen Stils - lasse sich das Gewaltproblem nicht lösen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

Previous Page TOC Next Page