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TEILDOKUMENT:


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1. Stadtentwicklung vor neuen Herausforderungen

1.1 Entwicklungstrends in deutschen Städten

Der Vertreter des Deutschen Städtetages (DST) führte verschiedene problematische Entwicklungstrends in deutschen Städten an, die sich trotz unterschiedlicher Einzelentwicklungen allgemein konstatieren lassen:

  • Zuwanderung aus dem Ausland: Verschiedene Prognosen gehen davon aus, dass es in den nächsten Jahren vor allem in städtischen Verdichtungsräumen zu einem Bevölkerungswachstum aufgrund starker Zuwanderung aus dem (nicht-europäischen) Ausland kommen wird.

  • Wachstum der Stadtregionen in ihren Randbereichen: Die mit dem Wachstum der Stadtrandbereiche verbundene Ausweitung der besiedelten Flächen verursachen städtebauliche sowie ökologische Probleme und führen - so der Referent - zu sozialstrukturellen und finanziellen Fehlentwicklungen.

  • Räumliche Trennung der Funktionen Wohnen und Arbeiten: Da sich die Funktion Wohnen zunehmend auf das Umland, die Funktion Arbeiten dagegen eher auf kernstädtische Bereiche konzentrieren, entstehen durch den damit verbundenen, konstant anwachsenden und größtenteils auf individueller Motorisierung basierenden Pendlerverkehr erhebliche Umweltprobleme, die sich wiederum negativ auf bis dahin vergleichsweise unproblematische Wohnlagen im Randbereich der Innenstädte auswirken und somit Suburbanisierungsprozesse verstärken.

  • Polarisierung der Sozialstruktur: Segregationsprozesse zwischen Kernstadt und Umland führen - vor allem durch die Abwanderung einkommensstärkerer Familien in das Umland - zu einer Konzentration benachteiligter und älterer Bevölkerung in den Kernstädten.

  • Zunehmende Wohnungsprobleme in städtischen Ballungsräumen: Die angeführte demographische Entwicklung mit ihren räumlichen Folgen verschärft bereits existierende Wohnungsprobleme vor allem in bisher unausgeglichenen städtischen Wohnungsteilmärkten.

  • Über- und Auslastungsprobleme der Infrastruktur in städtischen Ballungsräumen: Aufgrund von Segregation sowie der Veränderung von Alters- und Sozialstruktur der Bevölkerung kommt es in Abwanderungsgebieten zu einer Unterauslastung von Infrastruktur in den Bereichen Freizeit, Ver- und Entsorgung. In den Zuwanderungsgebieten entsteht dagegen zusätzlicher Nachfragedruck, wie Infrastrukturbedarfseinschätzungen zeigen, die dem DST vorliegen.

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  • Ungleiche Finanzentwicklung von Kernstädten und Umland: Der nach Bevölkerungs- und anderen Schlüsselzahlen auf die einzelnen Kommunen verteilte 15%-ige Gemeindeanteil am Lohn- und Einkommensteueraufkommen verändert sich aufgrund der genannten Wanderungsbewegungen zu Gunsten der Umlandgemeinden und zu Ungunsten der Kernstädte. Die Einnahmeminderung aus dem Steuerausfall der Kernstädte wird durch die Kürzung bevölkerungsabhängiger Finanzzuweisungen zusätzlich verschärft.

  • Unzureichende Gemeindegrößen in den neuen Bundesländern: Aufgrund der in den neuen Bundesländern noch weitgehend unzureichenden Gemeindegebietsreform leben hier weniger als 15 Mio. Einwohner in gut 6.000 Gemeinden, von denen knapp 50% weniger als 500 Einwohner aufweisen, während in den alten Bundesländern 66 Mio. Einwohner in 8.500 Gemeinden leben. Da in den ostdeutschen Bundesländern in den meisten Fällen keine leistungsfähigen Gemeindegrößen existieren, wird auf Bundes- und Landesebene zunehmend gefordert, die Planungs- und Vollzugsinstrumente auf der regionalen Ebene zu verstärken. Damit werden die „Grenzen" kommunaler Planungshoheit insbesondere in den neuen Bundesländern überdeutlich, wie der Vertreter des Deutschen Städtetages ausführte.

  • Notwendigkeit intraregionaler Kooperation: Der Europäische Binnenmarkt verschärft den Druck auf Städte und Gemeinden zur - auch grenzüberschreitenden - intraregionalen Zusammenarbeit und zur Bildung von Städtenetzen.

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1.2 Lösungsansätze zur Bewältigung städtischer Probleme und neuer Herausforderungen

Aus Sicht des DST kann den geschilderten Herausforderungen und Problemen der Stadtentwicklung nur mit einem Bündel von Maßnahmen unter Einbeziehung der Raumordnung, des Städtebaus sowie der Wohnungs- und Verkehrspolitik begegnet werden. Mögliche Bestandteile einer komplexen Lösungsstrategie sind:

  • Stärkung der dezentralen Siedlungsstruktur: Die prognostizierte Zuwanderung aus dem Ausland erfordert die Integration der Migranten in das bestehende Siedlungssystem, weshalb dieses rechtzeitig flexibel angepaßt werden muss. Der Vertreter des Deutschen Städtetages sprach sich in diesem Zusammenhang für die Beibehaltung und den Ausbau des in Deutschland bestehenden dezentralen Systems von Städtenetzen unterschiedlicher Größenordnung aus, auf das sich nicht nur Städte- und Wohnungsbau, sondern auch die Ansiedlungspolitik der Wirtschaft ausrichten sollten.

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  • Eingrenzung der Landschaftszersiedlung und Förderung einer behutsamen Verdichtung: Die aufgrund des zu erwartenden Entwicklungsdrucks notwendig werdende Flächeninanspruchnahme wird ohne geeignete Steuerung zu einer unkontrollierten Zersiedlung des Umlandes - verbunden mit der Zunahme des Kraftfahrzeugverkehrs - führen. Dieser Entwicklung nach Auffassung des DST nur mit einer stärkeren städtebaulichen Verdichtung sowohl im (inner-)städtischen Bestand als auch bei Neubauplanungen begegnet werden.

  • Ermöglichung von Nutzungsmischung: Sowohl zur Vermeidung sozialer Segregation als auch zur Verringerung von Verkehrsproblemen sollte verstärkt eine Mischung der Funktionen Wohnen, Versorgen, Arbeiten und Freizeit ermöglicht werden. Für die Realisierung der durchmischten „Stadt der kurzen Wege" eignet sich aus Sicht des DST insbesondere die Wiedernutzung frei werdender Industrie-, Militär-, Bahn- und Postflächen.

  • Sicherung einer ausgewogenen Sozialstruktur: Die Entwicklung (groß-) städtischer Sozialstrukturen ist unter anderem durch zunehmende Konzentration vergleichsweise einkommensschwacher, benachteiligter Haushalte aufgrund von (Dauer-) Arbeitslosigkeit und Abwanderung einkommensstärkerer Haushalte - vor allem junger Familien - in das Umland geprägt. Zur Sicherung einer ausgewogenen städtischen Sozialstruktur sind daher sowohl ein Grundbestand an Sozialwohnungen als auch Möglichkeiten zur Eigentumsbildung in den Kernstädten notwendig, um die Versorgung mit preiswertem Wohnraum sicherzustellen und Abwanderungstendenzen entgegenzuwirken. Die staatlichen Rahmenbedingungen, insbesondere in Bezug auf die Förderpolitik, sind deshalb im Interesse einer auf gemischte Sozialstrukturen ausgerichteten kommunalen Wohnungspolitik zu verbessern.

  • Verhinderung der Ansiedlung großflächigen Einzelhandels auf der „grünen Wiese": Zur Sicherung des innerstädtischen Einzelhandels sollte großflächiger Einzelhandel nur an städtebaulich integrierten Standorten und in stadtverträglichen Größenordnungen zugelassen werden. Dazu müssen die vorhandenen baurechtlichen und landesplanerischen Instrumente konsequent angewandt werden, wie der Referent ausführte. Gleiche Überlegungen gelten für die Ansiedlung großer Freizeiteinrichtungen.

  • Verstärkung der intraregionalen Zusammenarbeit: Unter den Bedingungen des europäischen Binnenmarktes hat sich die Standortkonkurrenz vor allem zwischen den Großstädten verschärft. Vor diesem Hintergrund wird von Kommunen und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen die Notwendigkeit einer verbesserten kommunalen Zusammenarbeit auf regionaler Ebene erkannt, die allerdings - so der Referent - nicht auf eine Einschränkung der kommunalen Selbstverwaltung, sondern auf die Überwindung räumlicher Grenzen innerhalb der Regionen zielen muss. Als gemeinsame Handlungsfelder stehen dabei die kommunale Verkehrspolitik, Aufgaben

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  • des kommunalen Umweltschutzes sowie die Wohn- und Gewerbeflächenplanung im Vordergrund. In diesem Zusammenhang sei eine Verwaltungsstrukturreform auf regionaler Ebene mit folgenden Zielen notwendig:

    • Beauftragung der Landesverwaltung mit rein staatlichen Aufgaben, Entlastung von nichtstaatlichen Aufgaben (Dezentralisierungsgedanke),

    • Stärkung der Handlungsfähigkeit und des Handlungsspielraums kommunaler Selbstverwaltung; Zuweisung aller lokal und regional lösbaren Aufgaben an die kommunale Ebene (Subsidaritätsgedanke),

    • Schaffung einer effektiven und leistungsstarken Schnittstelle zwischen neu organisierter staatlicher Landesverwaltung und kommunaler Selbstverwaltung (Effizienzgedanke).

    Dabei dürfte eine Verbesserung der Organisation kommunaler Selbstverwaltung auf lokaler und regionaler Ebene nicht zur Einrichtung einer zusätzlichen Verwaltungsebene führen, da dies sowohl dem Ziel der Verwaltungsvereinfachung als auch der angestrebten intraregionalen Kooperation von Kommunen zuwiderlaufen würde. Zwischen Kommunen und der Landesverwaltung sollte lediglich eine weitere, kommunal organisierte Ebene existieren. Bei einer solchen Konstruktion sei zugleich zu überlegen, welche Aufgaben den staatlichen Mittelbehörden verbleibe bzw. welche Rolle ihnen dann zukomme.

  • Abstimmung der Flächenpolitik: Bei der Ausweisung und Bereitstellung von Flächen für (Miet-) Wohnungsbau und Gewerbeansiedlungen erscheint eine Abstimmung zwischen Städten und Gemeinden innerhalb einer Region sinnvoll. Hintergrund sind räumliche Disparitäten und daraus resultierende unterschiedliche finanzielle Belastungen zwischen Kernstadt und Umland in bezug auf die Verteilung von Arbeitsstätten und Wohnstandorten sowohl benachteiligter als auch vergleichsweise einkommensstarker Bevölkerungsgruppen: Während sich ein Großteil der Arbeitsplätze in den Kernstädten findet, für die eine entsprechende Infrastruktur unterhalten werden muss, wohnt ein erheblicher Teil der hier Beschäftigten in Umlandgemeinden, die dadurch steuerlich profitieren. Auf der anderen Seite konzentrieren sich - wie bereits ausgeführt - Sozialwohnungen und benachteiligte Bevölkerungsgruppen in den Kernstädten, die neben Steuereinbußen mit erheblichen finanziellen Belastungen konfrontiert sind. Vorgeschlagen wird, im Rahmen intraregionaler Kooperation auch im Umland Standorte für den öffentlich geförderten Wohnungsbau auszuweisen bzw. hier Belegungsrechte einzuräumen, die durch die Kernstädte direkt oder indirekt finanziert werden könnten.

  • Mobilisierung vorhandenen Baulands: Für die Mobilisierung und Vermarktung vorhandenen städtischen Baulands fordert der DST, den Kommunen mit der Grundsteuer C (sog. „Baulandsteuer") oder einer entsprechend reformierten Grundsteuer auf der Basis der Bodenrichtwerte - jeweils kombiniert mit einem kommunalen Satzungsrecht zur Erhöhung des Grundsteu-

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    erhebesatzes - ein geeignetes abgabenrechtliches Instrumentarium zur Verfügung zu stellen. Es müsse zukünftig verhindert werden, dass Flächeneigentümer aufgrund von Spekulationsabsichten von einer Bodennutzung absehen. Das Instrument der städtebaulichen Entwicklungsmaßnahme allein sei für das Ziel der Baulandmobilisierung unzureichend.

  • Beseitigung des Baulandpreisgefälles zwischen Kernstadt und Umland: Die oben genannten Instrumente zur Mobilisierung städtischen Baulands können nur dann erfolgreiche Ergebnisse erzielen, wenn zugleich das strukturelle Missverhältnis der Baulandpreise zwischen Kernstädten und Umland korrigiert wird, so der DST. Vor dem Hintergrund der aktuellen Diskussion über die Umsetzung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zu den Einheitswerten von Immobilienvermögen müsse zugleich die Frage behandelt werden, ob die Bewertungsverfahren bei der Grundsteuer auf eine neue Grundlage gestellt werden sollten. Da die bisherige Einheitsbewertung von Grundvermögen in einem starken Missverhältnis zu den Verkehrswerten steht (nach einem DIW-Gutachten liegen sie bei etwa 15% des Verkehrswertes), resultieren hieraus sowohl falsche Standortentscheidungen im Stadt-Umland-Verhältnis als auch ein generell falscher Umgang mit Boden. Weder das Ziel eines sparsamen Flächenverbrauchs noch das einer urbanen und kompakten Stadt mit Nutzungsmischung seien mit einer Bodenwertsteuer zu erreichen, in der lediglich der Boden entsprechend der jeweiligen planungsrechtlichen Ausnutzbarkeit, nicht aber die Gebäude besteuert werden.

  • Integration von Stadt- und Verkehrsplanung: Wohnungs-, städtebau- und siedlungspolitische Bemühungen zur Stärkung der städtischen Wohnfunktion können für den DST nur dann erfolgreich sein, wenn sie zugleich Verkehrsplanung und -politik in entsprechende Strategien einbinden, also Siedlungs- und Verkehrsplanung stärker miteinander verzahnen. So sollte der Aus- und Neubau von Wohnsiedlungen unter konsequenter Nutzung des Instruments „Nahverkehrsplan" lediglich entlang leistungsfähiger Linien des öffentlichen Personennahverkehrs erfolgen. Voraussetzung für den Erfolg dieser Strategien sei allerdings die Abschaffung oder Modifikation der „Kilometerpauschale", die sich in ihrer jetzigen Form aus Sicht des DST faktisch als „Zersiedlungsprämie" auswirkt. Der Verband fordert eine Umwandlung in eine Entfernungspauschale für alle Verkehrsteilnehmer, die als allgemeine „Mobilitätspauschale" auch Fußgängern, Radfahrern und ÖPNV-Nutzern zugute kommt. Mittlerweile hat sich die Regierungskoalition über eine Pendlerpauschale geeinigt. Danach sollen Fernpendler ab 1. Januar 2001 für Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte 80 Pfennig pro km steuerlich geltend machen können, Nahpendler mit einem Arbeitsweg von höchstens 10 km 70 Pfennig. Die Pauschale gilt in gleicher Höhe für alle Verkehrsmittel und nicht nur für Autofahrer. Einkommensschwache Gruppen erhalten zudem einen einmaligen Zuschuss zu den Heizkosten.

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  • Damit will die Bundesregierung einen sozialen Ausgleich für die gestiegenen Energiekosten schaffen (Reuters-Meldung vom 18. November 2000 und Handelsblatt-Artikel vom 7. Dezember 2000).

  • Nutzung der Stadtentwicklungsplanung als Integrationsmotor: Die ange-sprochenen tiefgreifenden ökonomischen Restrukturierungen und politisch-institutionellen Neuordnungen unter anderem als Reaktion auf EU-weite Veränderungen sowie die wachsenden Herausforderungen auf der Ebene der städtischen Regionen stellen Städte und Gemeinden vor neue Aufgaben, denen sie mit der umfassenden Reorganisation ihrer Verwaltungen begegnen. Zu den wesentlichen Reorganisationsmerkmalen zählen:

    • Bildung eigenverantwortlicher, dezentraler Aufgabenbereiche mit erweiterten Entscheidungs- und Handlungsbefugnissen sowie Budgetierung der Finanzmittel,

    • gleichzeitig Installation eines zentralen Kontrollsystems zur regelmäßigen Überprüfung und Korrektur kommunalen Handelns,

    • Orientierung der politischen und administrativen Strukturen an veränderten gesellschaftlichen Gegebenheiten; verstärkte Ergebnis- und Kundenorientierung.

  • In Anbetracht der genannten Entwicklungen und Anforderungen kann die im neuen Steuerungsmodell vorgesehene Koordinierungs- und Kontrollinstanz nicht allein organisatorisch-finanziellen Fragen Rechnung tragen, sondern muss auch eine inhaltlich-perspektivische Ausrichtung besitzen. So sollte die Instanz nach Auffassung des DST vor allem als „Antenne" für externe stadtentwicklungspolitisch relevante Entwicklungen fungieren, interne Orientierungs- und Entscheidungsgrundlagen bereitstellen, die Aktivitäten der dezentralen Verwaltungseinheiten koordinieren sowie längerfristige Perspektiven und Entscheidungshilfen für eine integrierte Stadtentwicklungspolitik erarbeiten. Hierbei handelt sich im wesentlichen um originäre Aufgaben der in vielen Städten bereits seit Ende der 60er Jahre bestehenden Dienststellen für Stadtentwicklung.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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