FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 1]


Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

Für den Deutschen Städtetag (DST) gibt es verschiedene problematische Entwicklungstrends in deutschen Städten, die sich trotz unterschiedlicher Einzelentwicklungen wie folgt verallgemeinern lassen:

  • Zuwanderung aus dem Ausland,
  • Wachstum der Stadtregionen in ihren Randbereichen,
  • räumliche Trennung der Funktionen Wohnen und Arbeiten,
  • Polarisierung der Sozialstruktur,
  • zunehmende Wohnungsprobleme in städtischen Ballungsräumen,
  • Über- und Auslastungsprobleme der Infrastruktur in städtischen Ballungsräumen,
  • ungleiche Finanzentwicklung von Kernstädten und Umland,
  • unzureichende Gemeindegrößen in den neuen Bundesländern,
  • Notwendigkeit intraregionaler Kooperation.

Aus Sicht des DST kann diesen Herausforderungen und Problemen nur mit einem Bündel von Maßnahmen unter Einbeziehung der Raumordnung, des Städtebaus sowie der Wohnungs- und Verkehrspolitik begegnet werden. Hierzu gehören unter anderem:

  • Stärkung der dezentralen Siedlungsstruktur,
  • Eingrenzung der Landschaftszersiedlung,
  • Nutzungsmischung,
  • Sicherung einer ausgewogenen Sozialstruktur,
  • Verhinderung der Ansiedlung großflächigen Einzelhandels auf der „grünen Wiese",
  • Abstimmung der Flächenpolitik,
  • Beseitigung des Baulandpreisgefälles zwischen Kernstadt und Umland,
  • Nutzung der Stadtentwicklungsplanung als Integrationsmotor.

Für das Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen (BMVBW) bemerkte stellen die Folgen der globalen Veränderungen nicht nur Gefahren, sondern auch Chancen für die Städte dar, mit entsprechender Modernisierungsbereitschaft und Gestaltungswillen ihre ökonomischen und ökologischen Grundlagen zu erhalten und zu verbessern. Der Beitrag des Bundes zur Stärkung sowie baulichen, sozialen, ökonomischen und ökologischen Erneuerung der Städte umfasst insbesondere:

  • Städtebauförderung als eines der zentralen Instrumente zur nachhaltigen Erneuerung und Entwicklung von Städten und Gemeinden;

[Seite der Druckausgabe: 2]

  • Bund-Länder- Programm „Stadtteile mit besonderem Entwicklungsbedarf - die soziale Stadt" mit dem Ziel, durch integrierte und partizipative Ansätze die Lebensqualität in Stadtteilen zu verbessern;
  • Innenstadtpolitik unter anderem mit den Zielen Mischung von Wohnen und Arbeiten, „Stadt der kurzen Wege", Stärkung eines attraktiven innerstädtischen Einzelhandels, Erarbeitung innenstadtverträglicher Verkehrskonzepte, Verbesserung der öffentlichen Sicherheit;
  • Städtebau und Verkehr: Realisierung eines umweltverträglichen, integrierten Verkehrssystems unter besonderer Berücksichtigung des ÖPNV.

Der Vertreter der Liverpool University stellte die Debatte um „New Urbanism" und „Urban Renaissance" in Großbritannien vor. Grundsätzliche Probleme der Stadtentwicklung in England resultieren aus den Negativfolgen der starken Suburbanisierung für die Kernstädte. Ursächlich hierfür sei vor allem die Desintegration der Planung: Sämtliche Planungsinitiativen liegen in Händen privatwirtschaftlicher Entwickler; alle Maßnahmen zur Siedlungsentwicklung werden „top-down" entwickelt, Kommunen sind kaum involviert.

Ein Beispiel für New Urbanism in England ist das „Millennium Village" Allerton Bywater. Grundlegendes Prinzip für dessen Entwicklung ist die Erarbeitung eines neuen Standards für Wohn- und Siedlungsformen unter Widernutzung brachgefallener Kohleabbaugebiete. Millennium Villages sollen sich durch hohe Qualität und integrierte Verkehrssystems auszeichnen sowie neuen Wohnraum schaffen. Die Pläne für Allerton Bywater entsprechen den genannten Forderungen. Allerdings wird die Projektrealisierung rein privatwirtschaftlich finanziert, weshalb private Bauherren letztendlich über die Entscheidungsmacht verfügen und viele innovative Elemente ablehnen können. Übergeordnete Schwierigkeiten entstehen unter anderem aus der Tatsache, dass keine Kontrollmechanismen über die Realisierung aller Bestandteile der vorgelegten integrierten Pläne eingerichtet worden sind. Lösungen der Probleme stellen die Priorisierung öffentlicher Belange vor privatwirtschaftlichen Interessen, die Suche nach alternativen Finanzierungsmechanismen, die Einhaltung integrativer Konzepte, die Erneuerung des Bestands anstatt der Fokussierung auf Neubauprojekte (auf der „grünen Wiese") sowie Kohärenz des gesamten städtebaulichen Planungsprozesses in Aussicht. Vor allem seien statt bisheriger top-down-Planung mehr kommunale Initiativen notwendig.

Der Stadtplaner aus Tübingen versteht unter dem Begriff „Stadt der kurzen Wege" die Charakterisierung von Stadtquartieren, in denen physische Nähe - also leichte Erreichbarkeit - einen lebhaften Austausch zwischen Menschen ermöglicht, die sonst eher weniger miteinander in Kontakt stehen. Als Synonym für diese Zusammenhänge schlägt er den Terminus „das lebendige Stadtquartier" vor, das im Gegensatz zu Siedlungseinheiten steht, die sich auf bestimmte Funktionen und auf das Fernhalten von Störungen spezialisieren.

[Seite der Druckausgabe: 3]

Der Städtebau der vergangenen 80 Jahre habe allerdings das Modell städtischer Nähe als überholt betrachtet und nicht mehr selbst produziert; heute wird versucht, solche städtischen Milieus wieder in die Praxis umzusetzen.

Nach den Vorstellungen des Referenten sollte die Stadt eine „Patchwork"-Struktur ausbilden, die im wesentlichen aus dem „modernen" Quartiersmodell (Zonierung, Funktionstrennung) und dem eher „klassischen" Stadtteilmodell (Bedeutung des öffentlichen Raums, Dichte und Vielfalt) besteht. Das Beispiel einer Entwicklungsmaßnahme auf einer militärischen Konversionsfläche in Tübingen zeigt, dass der neue städtebauliche Ansatz unter anderem mit folgenden „Werkzeugen" realisiert werden kann:

  • kommunale Zielvorgaben: Mischung von betrieblichen und Wohnnutzungen im Quartier, effiziente Flächennutzung; kommunales Projektmanagement; Dichte als konstruktives Element zugunsten eines intensiveren gesellschaftlichen Austauschs.
  • Mischung: Ausweisung aller Bauflächen als Mischgebiete; Verzicht auf die Festlegung bestimmter Wohnformen und Gewerbesegmente.
  • direkte Vergabe der Baumaßnahmen an die künftigen Nutzer; Verkauf der Grundstücke zu festen Verkehrswerten.

Notwendig für den Erfolg einer solchen Vorgehensweise sind insbesondere

  • eine der breiten Öffentlichkeit zu vermittelnde Umorientierung in der Stadtentwicklungspolitik bei Bund, Ländern und Kommunen,
  • ein fairer wirtschaftlicher Wettbewerb zwischen den gegensätzlichen Modellen der „zonierten Stadt" und der „Stadt der kurzen Wege" sowie
  • die kreative Nutzung entsprechender städtebaulicher „Werkzeuge".

Der Vertreter der Freien Universität Berlin (FU) führte zum Thema Gewalt und Stadt aus, Gewaltbereitschaft sei keine Prädisposition des Menschen, sondern Ergebnis sozialen Lernens in einem spezifischen Umfeld. Er fragte in diesem Zusammenhang nach städtischen Faktoren, die Gewalt bedingen und befördern können. Nach Karl-Dieter Keim (1998) lassen sich im wesentlichen drei Gründe für zunehmende soziale Desorganisation erkennen:

  • soziale Polarisierung von „Gewinnern" und „Verlierern" ökonomischer Restrukturierungen,
  • Konflikte aufgrund der zunehmenden Einwanderung von Migranten sowie
  • Umbau und Nutzungswandel des öffentlichen Raums, die von einzelnen Bevölkerungsgruppen als Orientierungsverlust erlebt werden.

[Seite der Druckausgabe: 4]

Keim fasst verschiedene Erklärungsmodelle des Zusammenspiels stadträumlicher Strukturen mit gewalttätigem und/oder kriminellem Verhalten zusammen:

  • Die funktionsräumliche Trennung der Stadt und zunehmende Suburbanisierung schaffen Gelegenheitsstrukturen für Eigentums- und Gewaltkriminalität.
  • Das Ausmaß sozialer Desorganisation scheint um so stärker ausgeprägt, je niedriger der sozioökonomische Status eines Gebiets ist.
  • Aufgrund von Funktionstrennung und Suburbanisierung erfährt der öffentliche Raum einen Bedeutungsverlust als Kommunikationsraum.

Keim sieht in Gewalt und Kriminalität Zeichen für Auflösungsprozesse der Stadt: Das klassische Bild der Stadt, verbunden mit Urbanität im Sinne von Einheitlichkeit, Gemeinwesen und Bindekraft des Ortes, löst sich auf. Der gestaltete öffentliche Raum wirkt zunehmend unwirtlich, belastend und damit immer weniger identitätsstiftend. Soziale Netzwerke lösen sich auf, Individualisierung und Rückzug in die Privatsphäre nehmen zu. Städtische Reorganisation muss nach seiner Auffassung vor allem auf einem hohen Maß bürgerlicher Partizipation basieren.

Der Verkehrswissenschaftler von der Universität/Gesamthochschule Kassel (GhK) vertrat die These, dass sich unsere Städte während der vergangenen fünfzig Jahre kommunikationsfeindlich entwickelt haben, und führte dies vorrangig auf Verkehrskonzepte der Nachkriegszeit zurück. So wurden nach dem von Bernhard Reichow entwickelten Leitbild der „autogerechten Stadt" in vielen deutschen Städten gründerzeitliche Straßenraster durch sich verzweigende Netze analog organischer Strukturen ersetzt. Als Resultat entstanden erlebnis- und kommunikationsarme öffentliche Räume. Auch die von Collin Buchanan entwickelte und in vielen Städten umgesetzte Vorstellung, die Rasternetze der Innenstädte zu schließen und dafür innenstadtumgebende Tangenten zu errichten, unterstütze kommunikationsfeindliche Entwicklungen, da auf diese Weise schwer überquerbare Straßenbarrieren und einzelne, voneinander abgeschottete Verkehrsgebiete entstanden sind. Leider werde dieses System trotz aller bekannten Problem bis heute kaum hinterfragt.

Das auch heute noch aktuelle Plädoyer der US-Amerikanerin Jane Jacobs für den Erlebnis- und Kommunikationsraum Straße steht den Konzepten von Reichow oder Buchanan diametral entgegen. Der Vertreter der GhK plädierte dafür, analog der erhaltenen, kleinteiligen Netze in Altbauquartieren wieder mehr Straßen und damit eine flexibel nutzbare Struktur zu schaffen, die „Anlässe zur Lebendigkeit" bietet. Dazu müssten allerdings Verkehrs- und Stadtplanung integriert werden. Notwendige Voraussetzung für gute Planung sei weniger die Funktionsfähigkeit von „Dingen" als vielmehr die Schaffung von Strukturen, in denen selbstständige Kommunikation möglich ist.

[Seite der Druckausgabe: 5]

Der Vertreter der AG Landschafts- und Freiraumplanung, Bremen, stellte drei Thesen zur Diskussion:

  • Aus positiven und negativen Erfahrungen mit Ergebnissen von Stadt-, Verkehrs-, Architekturraumplanung läßt sich lernen, was sich in den Bereichen Bauen und Wohnen bewährt hat bzw. was nicht.
  • Seit der Phase des modernen Städtebaus der zwanziger Jahre werden keine Städte mehr gebaut oder weiter entwickelt, sondern aufgelockerte, gegliederte, autogerechte Trabanten in unterschiedlichen Formen errichtet, die weder untereinander noch mit der „alten" Stadt in Beziehung stehen.
  • Die vorbildliche, kompakte europäische Stadt war bis zur Gründerzeit eine gereihte Häuserstadt mit einem engmaschigen Wege- und Straßenraster sowie einem dichten Nebeneinander verschiedener Nutzungen. Die Quartiere unterschieden sich vor allem hinsichtlich ihrer Gebäudestrukturen.

In Bezug auf die erste These versucht die im Auftrag der FES erstellte Studie „Lebenswerte Stadtquartiere", Beispiele aus dem Städtebau und der Verkehrsplanung der Nachkriegszeit auf ihre Alltagstauglichkeit zu überprüfen. Vor allem Fehler müßten genau analysiert werden, um sie zukünftig vermeiden zu können. Bei der zweiten These geht es darum, dass sich die städtebaulichen Leitbilder der Nachkriegszeit in Deutschland von der „gegliederten und aufgelockerten Stadt", bis zur „nachhaltigen Stadtentwicklung" zwar stark gewandelt haben, herkömmliche Bauformen und die Trennung der Daseinsfunktionen jedoch nach wie vor nicht in Frage stellen. Kritisiert wird an allen Leitbildern das Fehlen der hauswirtschaftliche Einheit von Haus und Hof, also der privaten Verfügung über den eigenen Wohn- und Lebensort. Die Funktion der auf Wohnwege oder verkehrsberuhigte Flächen reduzierten Straße als Kommunikationsort sei in Vergessenheit geraten. Dies - so die dritte These - sei in gründerzeitlichen Quartieren mit ihren engen Straßenrastern, gereihten Häusern mit Höfen einem dichten Nebeneinander verschiedener Nutzungen anders gewesen: Haus und Hof hatten große Bedeutung für den Alltag zu Hause; die Straße war Kommunikationsort und „Platz vor der eigenen Haustür" bzw. - als Geschäftsstraße - kommunikatives Quartierszentrum.

Sollen aus der Beschaffenheit gründerzeitlicher Quartiere Regeln und Prinzipien für Reparatur und Neubau in heutigen Städten abgeleitet werden, müsse der organisatorischen Einheit von Haus, Hof und Straße mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Die Studie „Lebenswerte Stadtquartiere" nennt in diesem Zusammenhang unter anderem folgende übertragbare Prinzipien:

  • Erreichbarkeit und Durchlässigkeit durch die Anlage vieler kurzer Wege als besondere Attraktivität für Fußgänger,
  • Nebeneinander und Überlagerung verschiedener Nutzungen, Haushaltsgrößen und sozialer Gruppen,

[Seite der Druckausgabe: 6]

  • Schaffung und Sicherung privat verfügbaren Freiraums,
  • Anpassungsfähigkeit, Alterungsfähigkeit und Gebrauchsfertigkeit der Bausubstanz und Quartiersbeschaffenheit,
  • Rückbau von Strukturen im Sinne von Rückgabe an Bürger/innen.

Die Wissenschaftlerin von der Universität/Gesamthochschule Paderborn definierte Festivalisierung als das Zusammentreffen vieler Menschen, die nicht alle am Ort des Geschehens wohnen, sowie als Versuch der Herstellung von Öffentlichkeit durch nicht alltägliche Anlässe. Das Phänomen zunehmender Festivalisierung stehe in enger Verbindung mit dem gegenwärtigen Strukturwandel, der nicht nur gewohnte Vorstellungen von Arbeitsorganisation oder städtischen Wohn- und Lebensformen, sondern auch den (individuellen) Umgang mit Zeit verändere. Angesichts veränderter Kategorien von räumlicher Nähe und Distanz, Privatheit und Öffentlichkeit entspreche Festivalisierung konsequent den stattfindenden Wandlungsprozessen. Vor dem Hintergrund einer zunehmend „entkörperlichten, virtualisierten City-Welt„ mit Eventangeboten bestehe die Aufgabe der Planung in der Schaffung stabiler, verlässlicher Orte. Im Zuge der Individualisierungsprozesse der Gesellschaft müsse die große Chance genutzt werden, die Freiräume der Stadt so zugestalten, dass die Menschen diese auch künftig im Alltag gemeinsam nutzen und genießen können.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

Previous Page TOC Next Page