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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 70 ]


Dr. Ditmar Staffelt, MdB
Wirtschaftspolitischer Sprecher der
SPD-Bundestagsfraktion, Berlin


Erwartungen für Deutschland aus gesamtwirtschaftlicher Sicht

Wenige Tage nach dem Beschluss des Rates von Helsinki vom 13.12.99 mit allen Beitrittskandidaten, von Estland im Norden bis zur Türkei und Zypern im Süden, parallel Beitrittsverhandlungen aufzunehmen, hat diese Konferenz Themen aufgegriffen, die in den nächsten Jahren im Mittelpunkt der Debatten stehen werden.

Es gibt wohl keine Stadt in Europa, in der die Konsequenzen aufkommender europäischer Arbeitsteilung nach 1989 schneller und direkter zu spüren gewesen sind, als Berlin. Die Stadt hat in den vergangenen zehn Jahren einen Strukturwandel erlebt, der anhält und durch den Abbau von Bundessubventionen und den weiteren Umbau der ehemals industriell geprägten Wirtschaft im Berlins geprägt ist. In diesen beiden Punkten – Subventionsabbau und wirtschaftlicher Strukturwandel – sehe ich wirtschaftspolitische Berliner Erfahrungen, die interessant sein könnten für die neue Arbeitsteilung in Europa.

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1. Die Wiedervereinigung – Vorläufermodell für die Osterweiterung?

Die Bundesrepublik – und mit ihr auch Berlin – haben durch den Beitritt der neuen Länder zum Bundesgebiet am 3. Oktober 1989 ja bereits zur einer „kleinen Osterweiterung" der EU geführt. 17 Millionen DDR-Bürger waren am 3. Oktober 1990 um 00.00 Uhr zu EU-Bürgern geworden.

Wer die deutsche Wiedervereinigung als ein Modellabor für sehr schnelle ökonomische Veränderungen wie sie nach der Osterweiterung der EU langfristig gesamteuropäisch zu erwarten sein könnten, ansieht, der übersieht allerdings einige strukturelle Unterschiede zwischen den Prozessen der Osterweiterung der EU einerseits und der Wiedervereinigung Berlins und Deutschlands andererseits:

Im Fall der Wiedervereinigung ist durch den Staatsvertrag ja gewissermaßen über Nacht die Wirtschafts- und Währungsunion der neuen Länder mit der alten Bundesrepublik eingeführt worden.

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Im Fall der Osterweiterung der EU wird es dagegen für die Beitrittsländer Mittel- und Osteuropas (MOE´s) erst in einem zweiten Schritt zur Währungsunion mit dem Euro kommen, nämlich erst dann, wenn die Konvergenzkriterien für den Beitritt zur Euro-Zone von diesen Staaten erfüllt sein werden. Dass dies erst mit einem gewissen zeitlichem Abstand nach dem Beitritt der Kandidatenstaaten zur EU der Fall sein wird, lassen derzeit noch die Wirtschaftsindikatoren der MOE- Staaten und die Erfahrungen mit den bisher noch nicht zur Euro-Zone gehörenden EU-Staaten vermuten. Im Sonderfall der Wiedervereinigung hat in den neuen Ländern ein kurzfristiger Strukturwandelprozess stattgefunden. Angesichts des völlig anders gearteten, schrittweisen Prozesses der EU-Osterweiterung, wird der wirtschaftliche Strukturwandel in den zukünftigen Mitgliedsstaaten sehr viel langfristiger sein. Die Investitionen, welche die EU (Kohäsionsfonds und Regionalstrukturförderprogramme), die Bundesrepublik und die deutsche Wirtschaft in den vergangenen zehn Jahren in den neuen Ländern getätigt haben, sind auch Zukunftsinvestitionen in und für die Osterweiterung der EU gewesen. Sie verbessern die ohnehin günstige Position der deutschen Wirtschaft im Prozess der EU-Osterweiterung zusätzlich.

Die Wiedervereinigung ist – als Sonderfall – also nur partiell mit dem zukünftigen Prozess der Osterweiterung der EU zu vergleichen. Allerdings ist sie auch schon Bestandteil des Erweiterungsprozesses und sie will genutzt sein in der Positionierung des Standortes für die Zukunft! Darauf möchte ich an dieser Stelle noch einmal explizit hinweisen.

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2. Die Dimension der wirtschaftlichen Verflechtungen Deutschlands mit MOE

Um realistisch über die ökonomischen Konsequenzen der EU-Osterweiterung reden zu können, muss man sich meines Erachtens über zwei Sachverhalte Klarheit verschaffen:

  • a) Welche Dimension hat die außenwirtschaftliche Verflechtung zwischen Deutschland und den EU-Kandidatenstaaten in MOE

  • b) Welche wirtschaftliche Dynamik entfaltet der Beitritt der Reformstaaten MOE´s zur EU in den Staaten selbst und in der EU?

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Zunächst einige Fakten zur Dimension der außenwirtschaftlichen Verflechtung:

  • 1996 umfassten die deutschen Direktinvestitionen in MOE nur 0,7% der Bruttoinvestitionen der deutschen Wirtschaft.

  • Der deutsche Import aus der Region MOE fällt mit 1,6% Anteil am BIP dagegen vergleichsweise gering aus. [Darin ist der hohe Anteil russischer Energielieferungen eingerechnet. Quelle: Volkhardt Vinzentz, Die aussenwirtschaftlichen Beziehungen mit Osteuropa und ihre Auswirkungen auf die deutsche Wirtschaft; Studien des Osteuropa-Institutes München, Nr. 207, Dez. 1997, S. 51 ]

Diese Zahlen machen klar, dass die wirtschaftlichen Verflechtungen Deutschlands mit MOE in Relation zum deutschen Binnenmarkt und dem deutschen Gesamtimportvolumen noch immer sehr klein sind! Die wirtschaftlichen Relationen werden sich auch nach einem EU-Beitritt von wahrscheinlich zunächst fünf Staaten MOE´s nicht kurzfristig, sondern eher langfristig verschieben.

Zur Frage b) Welche wirtschaftliche Dynamik entfaltet der Beitritt der Reformstaaten MOE's zur EU?

Der Export Deutschlands in die Transformationsstaaten MOE´s von 1992 bis 1997 entspricht mit 34% vom Gesamtimport in der Region dem Anteil der Importe aus Frankreich, Österreich, Großbritannien und den USA zusammen! [Quelle: Deutsche Bundesbank, Monatsbericht Oktober 1999, S. 18]
Aus MOE-Perspektive ist Deutschland der „Big-Player" auf dem regionalen Markt. Auch konnte es – im Vergleich zu den EU-Nachbarn und den USA und Japan – bisher überproportional vom Wachstum der Märkte in MOE profitieren, wie der Anstieg der deutschen Exporte in die Region zeigt:

Von 1992 bis 1998 haben sich die deutschen Exporte in die Region MOE von 23,5 Mrd. DM auf 91,5 Mrd. DM in ihrem Volumen vervierfacht! Deutschland wird mit einem Drittel der gesamten Handelsgewinne der EU nach der Osterweiterung mehr als jeder andere EU-Staat von dieser profitieren. [Vgl. Hierzu: Bertelsmann-Stiftung, Forschungsgruppe Europa (Hrsg.), Kosten, Nutzen und Chancen der Osterweiterung für die Europäische Union, Gütersloh 1998, S. 22]

Die unmittelbare Nähe der größten europäischen Volkswirtschaft zum Wirtschaftsraum MOE und die zu erwartenden Wachstumsperspektiven haben dazu geführt, dass in den 90er Jahren das bekannte absatz- und kostenorientiert starke Engagement der deutschen Wirtschaft in MOE einsetzte. Auf der

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Basis der bereits getätigten deutschen Direktinvestitionen in MOE ist für die Zukunft eine sehr günstige Marktpositionierung der deutschen Wirtschaft als die Exportnation Nummer eins nach MOE erreicht worden. Dieser Platz konnte u.a. auch aufgrund der besonderen Angebotsstruktur der deutschen Wirtschaft erzielt werden, deren Stärken in höherwertigen Investitionsgütern in den Branchen Elektrotechnik, Maschinenbau, Chemie und Fahrzeugbau liegt. Die Nachfragebedürfnisse in MOE haben diesem Angebot in den vergangenen Jahren besonders entsprochen. Im Hinblick auf den Osteuropahandel wird daher für die deutsche Wirtschaftspolitik und die deutsche Wirtschaft zukünftig das aufmerksame Monitoring wahrscheinlicher Änderungen der Nachfragestruktur in MOE und die daraus zu ziehenden notwendigen Konsequenzen und Reaktionen eine zentrale Aufgabe sein, um die derzeit exzellente Marktpräsenz der deutschen Wirtschaft in MOE langfristig zu sichern.

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3. Die ökonomischen Konsequenzen der EU-Osterweiterung für Deutschland

Die zentrale wirtschafts- und gesellschaftspolitische Frage in Deutschland für die Akzeptanz der EU-Osterweiterung ist zweifelsohne die Frage nach deren Konsequenz für die hiesige Arbeitsmarktentwicklung.

Umgerechnet auf Vollzeitarbeitsplätze sind derzeit etwa 100.000 osteuropäische Arbeitnehmer in Deutschland beschäftigt. Diese Fakten zeigen, dass die Arbeitskäftezuwanderung aus Osteuropa nach Deutschland den hiesigen Arbeitsmarkt auch zehn Jahre nach dem Fall des eisernen Vorhanges insgesamt nur marginal beeinflusst hat. Ich glaube, dass die Entmystifizierung von Bedrohungen, welche die EU-Osterweiterung angeblich für den deutschen Arbeitsmarkt mit sich bringt, der größten politischen Aufmerksamkeit bedarf.

Wie nötig es ist, dunkle deutsche Ängste vor der EU-Osterweiterung mit einem realistischeren Licht zu überstrahlen, belegt auch eine Umfrage im Auftrag des Bundesverbandes Deutscher Banken vom Juni diesen Jahres. Sie erbrachte auf die Frage „Bringt die Aufnahme osteuropäischer Länder in die Europäische Union für Deutschland auf längere Sicht eher Vorteile, eher Nachteile oder gleichen Vor-und Nachteile sich aus?" folgende Resultate [Umfrage des Institutes für praxisorientierte Sozialforschung, Mannheim, Juni 1999.]:

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Lediglich

  • 21% der Befragten glaubten, dass die Osterweiterung eher Vorteile bringt.

  • 33% glaubten eher an die Nachteile und

  • 37% an die Vor- und Nachteile.

  • 9% waren ohne Meinung.

Die Widerlegung dieser Erweiterungsskepsis, wird durch zwei Aspekte erschwert:

  • Die unmittelbar betroffenen Erweiterungsverlierer können ihre Position meistens genauer und öffentlich wirksamer darstellen als die potentiellen Gewinner.

  • Drohende Beschäftigungsverluste sind offenkundiger als mögliche Beschäftigungsgewinne aus dem Strukturwandel. Die Verluste konzentrieren sich auf bestimmmte Regionen und Branchen und lassen sich leicht in politischen Druck umwandeln.

Vor dem Hintergrund dieser politisch-strategisch schwierigen Diskussionslage lassen Sie mich aus wirtschaftspolitischer Sicht eines ganz klar stellen:

Die hohe Arbeitslosenquote in der EU und insbesondere in Deutschland ist nicht die Folge einer neuen Arbeitsteilung oder einer Konkurrenz der Arbeitsmärkte zwischen West- und Osteuropa! Sie ist ein seit Mitte der 80er Jahre, dem Beginn der Globalisierungsphase, ungelöstes Strukturproblem, das im wesentlichen auf der langjährigen eigenen, hausgemachten Inflexibilität unseres Arbeitsmarktes beruht. Der Blick auf die vermeintliche osteuropäische Schlange von Arbeitssuchenden, die auf unsere Märkte drängen, erspart uns nicht, zunächst unsere eigenen Hausaufgaben zu machen.

Das derzeit korrekt wohl nur sehr schwer zu ermittelnde zukünftige Migrationspotential osteuropäischer Arbeitnehmer schränkt sich jedenfalls durch folgende Faktoren stark ein:

Unterschiedliche Fachausbildungen, die z.T. erhebliche geographische Entfernung zwischen dem Herkunfts- und Arbeitsort, administrative Beschränkungen, fehlende Sprachkenntnisse, psychologische Hemmnisse, den Arbeitsplatz um hunderte oder tausende Kilometer zu verlegen, sind nicht zu unterschätzende Beschränkungen für west-, wie für osteuropäische Arbeitnehmer. Die Realität der Arbeitskräftemigration von Ost nach West wird da-

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her nach der Osterweiterung weit weniger dramatisch ausfallen, als es von manchen Schwarzsehern jetzt prognostiziert wird. Allerdings ist wohl eine branchenspezifisch differenzierte Entwicklung zu erwarten.

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4. Welche Konsequenzen hat die neue europäische Arbeitsteilung für Deutschland?

Die deutsche Wirtschaft nutzt Osteuropa seit 1989 verstärkt als Lieferant von Vorprodukten für die eigene Produktion. Der auftragsbezogene intra-industrielle Handel (mit Gütern einer Produktklasse) spielt hier eine besondere Rolle und hat zu dem gezeigten Anstieg des Handelsvolumens geführt. Dies ist möglich geworden, da im Vergleich zu früheren planwirtschaftlichen Zeiten durch moderne Produktionsanlagen große Verbesserungen in der Produktqualität in MOE erzielt werden konnten. Die Qualifikationen und damit die Konkurrenzfähigkeit der Arbeitnehmer in MOE ist nach Branchen sehr unterschiedlich [Vgl. hierzu: Bertelsmann-Stiftung, a.a.O., S. 33f]:

In den sog. Branchen der „sechziger Jahre" (Textil-, Schuh- und Stahlindustrie) ist sie sehr hoch, ebenso in den Branchen der „siebziger Jahre" (Kraftfahrzeugbau, Petrochemie, konsumnahe Elektronik). Das Niveau der Branchen der „achtziger Jahre" (Pharmaindustrie, professionelle Elektronik, traditionelle Dienstleistungen) kann erst in einigen Jahren erreicht werden.

In den modernen Sektoren (moderne Dienstleistungen, Technologie und qualifikationsintensive Bereiche der Bauindustrie, Bankensektor) bleibt die Wettbewerbsfähigkeit in MOE z.Zt. noch erheblich hinter der Bundesrepublik zurück.

Die Auswirkungen der neuen Arbeitsteilung in Europa auf den Standort Deutschland werden sich zeitverzögert und branchenspezifisch entwickeln. Der gezeigte Strukturwandel, wie er in der deutschen Wirtschaft seit den sechziger Jahren stattgefunden hat, kann dabei ein analytisches Schema für die sich entwickelnde Konkurrenzfähigkeit der „Emerging Markets" mit Deutschland sein.

All diese Zusammenhänge machen deutlich, dass Horrorszenarien von osteuropäischen Arbeitskräften, die unsere Märkte überschwemmen werden, völlig realitätsfern sind. Die Ängste, dass Arbeitskräfte aus MOE den westeuropäischen Arbeitsmarkt überfluten werden sich auch schon deshalb nicht bestäti-

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gen können, da Deutschland und Österreich bei den Verhandlungen über die Modalitäten der EU-Osterweiterung ja Übergangsklauseln zur Einschränkung der Freizügigkeit zum Schutz ihrer Arbeitsmärkte durchgesetzt haben.

In den Fällen, in denen Produktionsstandortverlagerungen nach MOE stattgefunden haben oder stattfinden werden, spricht aus betriebswirtschaftlicher Sicht ein Argument dafür, dass Arbeitsplatzerhalt in Deutschland durch die Verlagerung ermöglicht worden ist: In vielen Fällen ist durch outsourcing eine innerbetriebliche Mischkalkulation, die den Erhalt von Arbeitsplätzen in Deutschland ermöglicht, ja erst möglich geworden!

Für Deutschland zumindest wird mittelfristig aus der Zunahme des Handels mit MOE von einem Gewinn von etwa 60.000 Arbeitsplätzen ausgegangen. [Quelle: Beiträge zur Strukturforschung des DIW, Nr. 167, 1997]
Unter dem Strich ist wohl auch langfristig eher davon auszugehen, das die west- und die osteuropäischen Arbeitskräfte sich im Rahmen der neuen Arbeitsteilung einander ergänzen.

Abschließend noch eine Bemerkung: Die Reformstaaten MOE´s sind chronisch unterkapitalisiert. Für den Aufbau einer selbsttragenden Entwicklung in der globalen Wirtschaft ist aber nichts nötiger als Kapital! Genau dies stellt die Bundesregierung in nicht geringem Umfang Unternehmen aus Deutschland und den MOE für moderne Existenzgründungen in der Region z.B. über Hermes-Kredite oder die KfW zur Verfügung. Auch an Sonderprogramme des BMWi für deutsche Mittelständler, die sich in MOE engagieren wollen, in diesem Zusammenhang sei erinnert. All dies kann jedoch das Engagement der privaten Geldgeber nur ergänzen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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