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TEILDOKUMENT:


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Prof. Jaroslav Jakš
Hochschule für Ökonomie, Prag, Tschechische Republik


Das Beispiel der Tschechischen Republik.
Einige Bemerkungen und Reflexionen


Die tiefen gesellschaftlichen Veränderungen in Europa in den 80er und 90er Jahren haben zu einer ganz neuen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Herausforderung geführt. Nicht nur für die Bürger und die Staaten Mittel- und Osteuropas (für sie vor allem), sondern auch für Westeuropa, konkret: für die Europäische Union. Von Anfang an zeigten die jungen demokratischen Staaten ein nachdrückliches Interesse nicht nur für marktwirtschaftliche Reformen und den Aufbau einer Demokratie, sondern auch für die institutionelle Eingliederung in die Europäische Union.

Die gegenwärtigen Mitgliedsländer gehen bei der jetzigen Erweiterung wesentlich anders vor als bei den vorigen Erweiterungen. Der Unterschied liegt vor allem darin, dass der Beginn der Verhandlungen mit den Beitrittskandidaten und der Beitritt selbst dem Prinzip der Differenzierung (zwischen den Beitrittskandidaten) unterworfen und mit der Erfüllung bestimmter Kriterien und Bedingungen verbunden wurde. Es sind die Kriterien, die im Juni 1993 auf der Tagung des Europäischen Rates in Kopenhagen beschlossen und im Jahre 1994 in Essen bestätigt wurden. Dennoch, angesichts der vielen offenen Fragen und großen Ungewissheit über den Integrationskurs (Stichwort: „finalité") der EU, aber auch über die Entwicklung des Transformationsprozesses in den MOEL, ist dieser Erweiterungsprozess fernab jeder Routine. So hat der Europäische Rat noch vor dem EU-Gipfel in Helsinki (Dezember 1999) bereits in Cardiff (Juni 1999) festgelegt, dass jeder Bewerberstaat einzeln nach den selben Kriterien beurteilt wird, und so auch individuell seinen Weg zum Beitritt suchen und, entsprechend seinem Vorbereitungsstand, auch in unterschiedlichem Tempo voranschreiten kann. Viel wird deshalb davon abhängen, welche Bemühungen die Bewerberstaaten selbst unternehmen, um den Kriterien zu entsprechen.

Charakteristisch für die Integrationsstrategie der Beitrittsländer ist, dass man die Lage nach dem Beitritt nicht hinreichend reflektiert, dass nicht zur Kenntnis genommen wird, dass der Beitritt selbst noch keine Garantie für eine wirkliche und erfolgreiche Eingliederung in den Binnenmarkt ist. Es wird nicht beachtet, und folglich werden auch keine Konsequenzen daraus gezogen, dass

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es große Unterschiede im erreichten demokratischen und sozialen Niveau zwischen den Beitrittsländern und den Mitgliedsstaaten gibt – ein Faktor, der die Geschwindigkeit und die Breite der Osterweiterung sicher beeinflussen wird.

So sollten die Beitrittsländer damit rechnen, dass es innerhalb der EU nur eine geringe Neigung gibt, die Erweiterung zu schnell voranzutreiben. Es zeigt sich, dass die bisher verdrängten Interessenkonflikte zwischen der EU und den Beitrittsländern doch komplizierter sind, und auch die Haltung zur Erweiterung in den Mitgliedsländern prekärer ist, als man bislang wahrhaben wollte – obgleich, andererseits, die EU, in Helsinki die Bedeutung des begonnenen Erweiterungsprozesse für die Stabilität und den Wohlstand des gesamten europäischen Kontinents bekräftigt hat.

Die Beitrittsländer sollten sich auch darüber im klaren sein, dass sich hinsichtlich wesentlicher nationaler Ziele und Interessen bei ihnen selbst eine neue Interessenlage entwickelt hat, dies auch als Konsequenz der mehr oder weniger erfolgreichen Transformation. Für die Bevölkerung bedeutet „Europa" und „Europapolitik" ohnehin meist dasselbe wie „Transformation". Die Bürger in den MOE-Ländern haben deshalb (sicherlich differenziert) nicht mehr so starke pro-europäische Motivationen wie es für die „alte" EG in den Jahren galt. Nur dort, wo die politischen Eliten es geschafft haben, die Ziele und Instrumente der Transformation mit der Integrationspolitik in die EU zu verbinden, werden die Adaptationsprozesse und entsprechende soziale Kosten etwas niedriger liegen.

Die Interdependenz zwischen Transformationsprozessen und Integrationsprozessen gilt auch in der Tschechischen Republik, die sich 1998/1999 in einer schwierigen makroökonomischen Situation befand. Das reale Bruttoinlandsprodukt schrumpfte, die Arbeitslosigkeit stieg drastisch an und die Realeinkommen sanken. Es gab jedoch auch positive Tendenzen: Die Außenhandelsposition verbesserte sich und die Inflationsrate sank auf ein für die EU-Länder durchschnittliches Niveau. Die derzeitigen makroökonomischen Probleme haben deutlich gemacht, dass die Strukturreformen zügig vorangetrieben werden müssen; sie sind derzeit noch nicht tiefgreifend und umfassend genug. Die Schaffung der Voraussetzungen für die Rückkehr zu nachhaltigem Wachstum sollte in der nächsten Zeit die wichtigste Priorität sein; dies sagt auch die EU-Kommission in ihren regelmäßigen Fortschrittsberichten. Die Kommission konstatiert u.a., dass die Tschechische Republik zwar als funktionierende Marktwirtschaft angesehen werden kann, jedoch nach wie vor Strukturprobleme, Lücken in der Gesetzgebung und Durchsetzungsschwierig-

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keiten bestehen. Die Reformen sollten sich vorrangig auf den Abschluss der Privatisierung der Banken und die Sanierung der Portofolios der Banken sowie auch auf weitere Maßnahmen zur Verbesserung des Unternehmensmanagements konzentrieren. In Bezug auf Investitionen empfiehlt die Kommission, dass die Behörden sich auf die Schaffung unternehmensfreundlicher Rahmenbedingungen konzentrieren sollten, konkret: die Verbesserung des Rechtsrahmens, die Straffung der Bürokratie und weitere Strukturreformen seien wichtige Faktoren, um erneut das Vertrauen der Investoren zu gewinnen.

Die wirtschaftliche Dimension lässt sich schlecht von der Anpassung der Verwaltungsstrukturen trennen. Die institutionelle Seite schafft die Voraussetzungen für eine schrittweise und harmonische Integration. Die Kommission betont in ihrem Bericht die Bedeutung einer zügigen Übernahme des Gemeinschaftsrechtes in einzelstaatliches Recht, verweist aber auch auf die noch größere Bedeutung einer effektiven Umsetzung in der Praxis. Im Rahmen ihrer Heranführungsstrategie sieht die Kommission die Anpassung der Rechts- und Verwaltungsstrukturen als eine wesentliche Voraussetzung dafür, die für eine künftige Mitgliedschaft unerlässliche gemeinsame Vertrauensbasis entstehen zu lassen. Die Verwaltungskapazität wird damit zu einem Engpass und zu einer zentralen Frage der Beitrittsverhandlungen, heißt es im Bericht der Kommission für 1999.

Es ist gegenwärtig in allen Beitrittsländern zu beobachten, dass die Ablehnung des alten kommunistischen Modells von den meisten Bürgern keineswegs auch zugleich eine Bereitschaft für die Übernahme von Regeln, Institutionen und Werten der Europäischen Union bedeutet. Die heute in Mittel- und Osteuropa lebenden Generationen sind, mehr als sie zuzugeben bereit sind, durch rechtlichen Zynismus, Respektlosigkeit gegenüber Institutionen und der Autorität des demokratischen Staats sowie von einer Neigung zu einem nationalen Egoismus geprägt. Die Verschiedenheit der historischen Erfahrungen der Bürger und die Projektion dieser Erfahrungen auf das Verhalten in der neuen Situation und ihre Reaktionen auf die aktuellen Prozesse in Europa wird noch lange ein bestimmender Aspekt der Integrationspolitik der MOE-Länder sein. Das kann zu Unterschieden in der Wahrnehmung von Situationen und zu Konflikten in der Setzung von Prioritäten zwischen Altmitgliedern und Neumitgliedern führen. Das unterschiedliche Herangehen der Bürger in den Beitrittsländern an ihre eigenen Institutionen (Souveränität!) und an die Anforderungen und Herausforderungen der EU-Integration hat insofern seine Ursachen in diesen inneren Entwicklungen; sie werden auch weiterhin als ein wichtiger Faktor den Prozess der Differenzierung innerhalb und zwischen den

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Kandidatenländern beeinflussen. Die Hilfe der EU im Rahmen der Heranführungsstrategie ist deshalb sehr wichtig, sie kann aber nicht die innere „nationale" europapolitische Motivation ersetzen.

Für die Gestaltung der Zukunft reichen die beiderseitigen Überlegungen zur Effizienz der Heranführungsstrategie und über die Verteilung finanzieller Hilfen aber nicht aus – vielmehr müssen wir, die EU und die Beitrittskandidaten, uns auch auf die Zeit nach dem Beitritt vorbereiten. Die EU-Mitgliedschaft ist keine automatische Garantie für Wachstum, Produktivität, Vollbeschäftigung und erfolgreichen Strukturwandel. Insbesondere in den Beitrittsländern, die mit einem baldigen Beitritt rechnen, sollte man sich deshalb langsam Gedanken darüber machen, wo die Grenzen der problemlösenden Wirkung des Beitritts liegen, und was, notwendigerweise, in der exklusiven Verantwortung der Regierungen, politischen Parteien und Interessenverbände verbleiben muss. Damit soll kein Europaskeptizismus gepflegt werden, aber es ist unbedingt notwendig, sich darüber klar zu werden, was von dem Beitritt zur EU erwartet werden darf und was nicht. Nur so lassen sich die nationalen und regionalen Kräfte mobilisieren. Das Wirtschaftswunder in Irland wurde sicher durch die EU-Mitgliedschaft begünstigt und durch die verschiedenen Fonds beschleunigt – aber das Wichtigste war das Zusammenspiel zwischen der aus eigenem Willen vorangetriebenen, auch als Emanzipationsprozess begriffenen, Modernisierung der Wirtschaft und Gesellschaft und der Integration in die EU. Denn es gibt ja auch die Beispiele von EU-Mitgliedern, die auch viele Jahre nach dem Beitritt keine signifikante Wachstumskraft entfaltet haben.

Fazit

Auch für die Tschechische Republik – aber nicht nur für die tschechische Republik – ist es wichtig zu reflektieren, was nach dem Beitritt kommt. Dazu ist die Heranführungsstrategie, die letztlich doch sehr die Rechts- und Verwaltungsdimension betont, zu einseitig. Die dominante Priorität nach dem Beitritt wird für die Beitrittsländer die Wettbewerbs- und Leistungsfähigkeit im EU-Binnenmarkt sein. Denn erst dann wird sich zeigen, wer eine wirklich funktionsfähige Marktwirtschaft hat. Darüber entscheidet am Ende nicht nur die EU-Mitgliedschaft, sondern auch die Qualität der Transformationsprozesse in den Ländern selbst. Diese Interdependenz beider Prozesse, der Transformation und der Integration (in Form des Beitritts) ist die größte Herausforderung für die sehr jungen Demokratien – und dies nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Politik.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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