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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 12 ]


Dr. Michael Dauderstädt
Abt. Internationaler Dialog der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn


Die wirtschaftlichen Folgen der EU-Integration für
die mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten - ein Überblick


Mit äußerer Entschlossenheit und inneren Zweifeln marschieren die Europäische Union (EU) und die mittel- und osteuropäischen Beitrittskandidaten auf die Osterweiterung zu. Geht es nach den verlautbarten Absichten und Plänen, so könnten die ersten Beitritte im Jahr 2003 erfolgen. Die Hürden sind allerdings noch beachtlich. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen ihrerseits Voraussetzungen schaffen, die Beitrittskandidaten stehen ebenfalls vor erheblichen Anpassungsaufgaben und haben auch die wachsende Skepsis ihrer Wähler zu überwinden, die immer seltener einen Beitritt wünschen.

Die Bedenken in den Beitrittsländern resultieren nicht zuletzt aus den sozialen und wirtschaftlichen Problemen der letzten Jahre. Viele Menschen in Mittel- und Osteuropa erwarten, dass eine Vollmitgliedschaft in der EU diese Anpassungslasten noch verschärfen wird. In der Tat haben die Regierungen der Kandidatenländer es lange unterlassen, die zu erwartenden wirtschaftlichen Folgen des Beitritts zu prüfen. Neben den dominierenden politischen Interessen lag dem Beitrittswunsch immer die Vermutung zugrunde, eine EU-Mitgliedschaft würde den Wohlstand der Neumitglieder mehren und eine rasche Angleichung an den Lebensstandard in Westeuropa bringen.

Versucht man, die tatsächlich zu erwartenden Wirkungen des EU-Beitritts auf die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Beitrittsländer abzuschätzen, so stellen sich einige methodologische Probleme. Es geht dabei darum, die Verschränkung zweier in sich schon komplexer Prozesse zu analysieren: den Transformationsprozess der Beitrittsländer und die EU-Integration. Die Politiken und Strukturen der EU (Binnenmarkt, Gemeinsame Agrarpolitik, Struktur- und Regionalfonds, etc.) treffen auf die sich reformierenden postkommunistischen Ökonomien. Sie werden deren Entwicklung beeinflussen. Richtung und Ausmaß dieses Einflusses ergeben sich nicht zuletzt aus der Richtung des laufenden Transformationsprozesses.

Daher betrachten wir zunächst die wichtigsten Aspekte der Transformation (Abschnitt 1), bevor wir ihre Wechselwirkung mit der EU-Integration untersuchen. Diese Wechselwirkungen begannen früh dank der EU-Hilfen für die

[Seite der Druckausg.: 13 ]

Transformation (PHARE-Programm) und der Assoziierung der mittel- und osteuropäischen Länder. Dank beider Prozesse ist die wirtschaftliche Integration der Beitrittsländer schon weit fortgeschritten und hat wichtige Beitrittseffekte schon vorweggenommen (Abschnitt 2). Die zu erwartenden zusätzlichen Effekte stehen im Vordergrund des letzten Abschnittes 3. [Die folgenden Ausführungen stützen sich auf zwei frühere Veröffentlichungen des Autors: „EU-Osterweiterung: Wirkungen, Erwartungen und Interessen in den Beitrittsländern", in: integration 3/98 S. 149-167, und „Die wirtschaftliche Integration der Beitrittsländer: zwischen neuer Abhängigkeit und vorweggenommener Mitgliedschaft", in: Barbara Lippert (Hg.): „Die Osterweiterung der EU - die doppelte Reifeprüfung" (Arbeitstitel) Institut für Europäische Politik, Bonn 2000.]

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1. Enttäuschende Transformation

Als sich die Länder Mittel- und Osteuropas 1989 - 1991 von der kommunistisch-sowjetischen Herrschaft befreiten, strebten sie nach Demokratie statt Parteidiktatur, Marktwirtschaft statt Planwirtschaft und Westintegration statt Ostblock. Diese Ziele der Reformeliten deckten sich mit den Interessen und Zielen der westeuropäischen Integration wie sie der EU-Gipfel von Kopenhagen im Jahr 1993 als Beitrittskriterien formuliert hatte, die die Forderung nach Demokratie, Rechtsstaat, Marktwirtschaft, Wettbewerbsfähigkeit, Übernahme des EU-Rechtsbestandes (des acquis communautaire) und Übereinstimmung mit den Zielen der wirtschaftlichen und politischen Union umfassten. Viele der in den ersten Jahren nach dem Umbruch ergriffenen Maßnahmen trugen somit schon zur Beitrittsvorbereitung bei, bevor überhaupt ein Antrag auf Aufnahme in die EU gestellt war.

Der Umbau der Wirtschaft bedeutete im Inneren eine Änderung des Steuerungssystems, vor allem eine Liberalisierung der Preise, aber auch der Eigentumsverhältnisse durch eine Privatisierung der Staatsunternehmen. Letztlich ging es aber um eine Modernisierung der Wirtschaft. Denn die Reform des Systems sollte ja zu mehr Wohlstand führen und war kein Selbstzweck, auch wenn sich damit auch das außerökonomische Ziel einer Trennung von politischer und wirtschaftlicher Macht verband. Aber primär erhofften sich die Reformer vom Übergang zur Marktwirtschaft einen effizienteren Einsatz der Produktionsfaktoren.

Nach außen bedeutete der Umbau der Wirtschaft den Ausstieg aus dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW), dem sowjetisch beherrschten Integrationssystem des Ostblocks, die Aufgabe des Außenhandelsmonopols des Staates und die Öffnung der Grenzen für Handel, Kapital und Personenverkehr. Die Transformationsländer nahmen diese Schritte meist einseitig vor –

[Seite der Druckausg.: 14 ]

ganz im Unterschied zu den üblichen Gepflogenheiten der internationalen Wirtschaftspolitik, bei denen meist auf Gegenseitigkeit der Liberalisierungsschritte geachtet wird. Sie wollten damit auch der durch die Preisfreigabe entstandenen Marktmacht der eigenen Monopolunternehmen Grenzen setzen. Allerdings hatten auch die westlichen Länder ihrerseits die vorher für den Ostblock sehr hohen Handelsbarrieren abgesenkt und Marktzugang nach der Meistbegünstigungsklausel oder sogar unter dem Allgemeinen Präferenzsystem (eigentlich für Entwicklungsländer) eingeräumt. Die folgende Tabelle 1 gibt einen Überblick über die seitens der Transformationsländer ergriffenen Maßnahmen zur außenwirtschaftlichen Öffnung.

Tabelle 1: Nationale Liberalisierungs-Maßnahmen

Land

Handelsliberalisierung

Öffnung für Investitionen

Polen

Weitgehende Liberalisierung
1990

Gesetz über Gesellschaften mit
ausländischer Beteiligung 1991

Tschechien

Quantitative Beschränkungen
aufgehoben Januar 1991

Handelsgesetz von 1991

Slowakei

Quantitative Beschränkungen
aufgehoben Januar 1991

Handelsgesetz von 1991
Investitionsförderungsgesetz
1993

Ungarn

Kontrollen und Quoten
schrittweise reduziert seit 1989

Gesetz über ausländische
Investitionen 1988

Slowenien

Außenhandelsgesetz
Februar 1993

Auslandinvestitionsgesetz von
1967, geändert 1988

Estland

Staatshandelsmonopol beendet 1990

Gesetz über ausländische
Investitionen 1991

Lettland

Keine Angabe über Gesetz;
1993/94 schon weitgehend
liberalisiert

Gesetz über ausländische
Investitionen 1991

Litauen

Neues Handelsregime 1993

Gesetz über ausländische
Investitionen 1990 (1992)

Bulgarien

Reform der Handelspolitik 1989

Investitionschutzgesetz 1992

Rumänien

Aufhebung der Kontrollen
Mai 1992

Gesetz über ausländischen
Investitionen 1991

Quelle: EBRD, Transition Report 1994, Table 8.3. „Foreign Trade Agreements and trade regimes of each country in transition", S.108f. und Transition Report 1998, S. 148-199

Neben diesen einseitigen Maßnahmen verpflichteten sich die Reformländer zu weiteren wirtschaftspolitischen Schritten im Zuge ihres Beitritts zu internationalen Verträgen und Organisationen (IWF, WTO, einige schon OECD, CEFTA). Viele der daraus sich ergebenden Reformen erleichtern den EU-

[Seite der Druckausg.: 15 ]

Beitritt oder sind notwendige Voraussetzungen, da auch die EU bzw. ihre Mitgliedsstaaten daran teilnehmen.

Die Transformationsländer kompensierten den Abbau ihrer Handelsbarrieren mit einer starken Abwertung in den ersten Jahren nach dem Umbruch (vgl. folgende Tabelle 3). Allerdings hielt die Abwertung in späteren Jahren nicht mehr mit der Inflation innerhalb der Länder schritt, so dass es zu einer schleichenden realen Aufwertung kam, die die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Exporte untergrub.

Tabelle 2: Abwertung gegenüber dem US-Dollar in % gegenüber dem Vorjahr (negatives Vorzeichen signalisiert Aufwertung)

Land

1990

1991

1992

1993

1994

1995

Polen

555,2

11,4

28,8

33,2

25,2

6,6

Tschechien

19,3

64,2

-4,1

3,2

-3,1

-7,8

Slowakei

19,3

64,2

-4,1

9,0

4,1

-7,2

Ungarn

6,9

18,4

5,6

16,5

14,2

19,6

Slowenien

293,6

143,6

194,8

39,3

13,7

-8,0

Bulgarien

-6,8

2.021,9

39,9

18,5

96,2

23,8

Rumänien

50,3

240,6

303,7

146,8

107,9

28,9

Quelle: Rainer Hauswirth und Peter Mooslechner, Measuring the impact of exchange rate developments on the competitive positions of Central and East European Countries, in: OECD Proceedings, The Competitiveness of Transition Economies, S.189.

Die außenwirtschaftliche Transformation mit ihrem Übergang zur Abrechnung des Handels in harten, konvertierbaren Währungen und zu Weltmarktpreisen ließ den Handel innerhalb des Ostblocks zusammenbrechen. Da der regionale Handel bis 1989 den Löwenanteil des gesamten Außenhandels der mittel- und osteuropäischen Länder ausgemacht hatte, kam es zu entsprechend starken Produktionseinbrüchen. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzte, dass der Außenhandelsrückgang für über die Hälfte der schweren Rezession verantwortlich war, die die Reformländer zwischen 1989 und 1993 heimsuchte.

Die innere Transformation (Preisliberalisierung, Privatisierung, Stabilisierung) verschärfte die außenhandelsbedingte Transformationsrezession zusätzlich. Die Nachfrage nach früher subventionierten Gütern und Dienstleistungen des rundbedarfs ging wegen der steigenden Preise zurück. Armut (vgl. Tabelle 4) und Arbeitslosigkeit nahmen zu. Der Wert der meisten Löhne und Transfereinkommen sank dramatisch. Dagegen wurde eine Minderheit im Zuge der Privatisierung oder durch Zugang zu Hartwährungseinkommen reich. Diese

[Seite der Druckausg.: 16 ]

Entwicklung verlief sicher unterschiedlich. Die mitteleuropäischen Länder schnitten meist besser ab (schnelleres Wachstum, geringer Armut) als die baltischen Länder und vor allem Bulgarien und Rumänien.

Tabelle 3: Ergebnisse der Transformation


Land

BIP 1999 (1989=100)

Anteil des
Privatsektors
(in %) 1999

Anstieg des
Armutsanteils
1983/7 bis 1993/5
(Differenz der %-Werte)

Veränderung der
Lebenserwartung
1989-1997
(in Jahren)

Estland

76

75

36

0

Lettland

59

65

21

-0,9

Litauen

65

70

29

-0,3

Polen

117

65

14

+1,7

Tschechien

95

80

1

+2,2

Slowakei

100

75

1

+1,7

Ungarn

95

80

3

+1,1

Rumänien

76

60

59

-0,5

Bulgarien

66

60

15

+1,1

Slowenien

104

55

1

+2,0

Quelle: EBRD, Transition Report 1999

Im Ergebnis ist die bisherige Transformation nur ein gemischter Erfolg. Zwar haben sich Regelsystem und Eigentumsverhältnisse schon weitgehend dem marktwirtschaftlichen Muster angepasst. Aber der Wohlstandserfolg blieb weitgehend aus. Nur drei Länder, Polen, Slowenien und die Slowakei, haben wieder das reale Bruttoinlandsprodukt von 1989 erreicht oder überschritten (vgl. Tabelle 3). Insoweit, wie ein EU-Beitritt diese Transformationswirkungen verstärkt, kann dieses Ergebnis der Transformation nur skeptisch stimmen. Tatsächlich sind viele Menschen in den Reformländern angesichts dieser Entwicklung mit dem neuen System unzufrieden. In vielen Ländern hat die Zustimmung zur Marktwirtschaft abgenommen. Kaum eine Regierung konnte die Wiederwahl erreichen. In allen Ländern sank seit 1996 die Zustimmung zum EU-Beitritt dramatisch: von durchschnittlich über 80% auf heute etwa 50%.

[Seite der Druckausg.: 17 ]

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2. Außenwirtschaftliche Integration: neue Abhängigkeit?

Schon im Binnenverhältnis hat die Transformation viele der Bedingungen geschaffen, deren Erfüllung die EU von Beitrittskandidaten erwartet. Ohne diese Vorgeschichte von demokratischen und marktwirtschaftlichen Reformen wäre der Annäherungs- und Beitrittsprozess noch in einem viel früheren Stadium. Die in vieler Hinsicht gewaltigere Vorwegnahme des Beitritts vollzog sich aber im Außenverhältnis. Die außenwirtschaftliche Integration der MOE-Länder ist schon sehr weit fortgeschritten und hat in einigen Bereichen des Außenhandels schon das Niveau erreicht, das angesichts geographischer Nähe und Größe der beteiligten Volkswirtschaften langfristig zu erwarten ist.

2.1 Beträchtliche Intensivierung des Handels

Der Handel zwischen der EU und den Beitrittsländern hat sich seit Ende der 80er Jahre dramatisch vertieft. Die jährlichen Wachstumsraten lagen meist im zweistelligen Bereich. Zwar nahm der Anteil von MOE am Außenhandel der EU ebenfalls deutlich zu (von unter 2% auf über 4%), aber die wirklich umwerfende Entwicklung fand in der regionalen Struktur des MOE-Außenhandels statt. Dies kann angesichts der gewaltigen Unterschiede im relativen Gewicht der beteiligten Volkswirtschaften aber nicht überraschen.

Tabelle 4: Anteil der Exporte der MOE10 in die EU am Gesamtexport (in %)

Land

1988

1990

1992

1994

1996

1998

Estland




19,0

51,0

55,1

Lettland




27,9

44,7

56,6

Litauen




25,7

32,9

38,0

Polen

30,3

46,8

55,6

62,7

66,3

68,3

Tschechien




42,6

60,9

64,2

Slowakei




28,4

41,3

55,8

CSFR

24,2

32,0

49,5



72,9

Ungarn

22,5

34,2

49,5

51,0

69,7

72,9

Rumänien

24,0

31,4

32,5

48,2

56,5

64,5

Bulgarien

5,8

10,4

30,8

35,4

39,1

49,7

Slowenien




59,2

64,6

65,5

Durchschnitt MOE10




47,9

59,4

64,5

Quelle: 1988-92 UN-ECE (zitiert in euro-east nr. 26, 17.10.1994, S. 26); 1994-98: EU-Kommission, Regelmäßige Berichte, Stat. Anhang; eigene Berechnungen

[Seite der Druckausg.: 18 ]

Tabelle 5: Anteil der Importe der MOE10 aus der EU am Gesamtimport (in %)

Land

1988

1990

1992

1994

1996

1998

Estland




23,9

64,6

60,1

Lettland




24,9

49,2

55,3

Litauen




26,4

42,4

50,2

Polen

27,2

42,5

53,1

57,5

63,9

65,9

Tschechien




45,0

62,4

63,3

Slowakei




26,2

37,3

50,4

CSFR

17,7

32,1

42,0




Ungarn

25,2

31,5

42,4

45,3

62,3

64,1

Rumänien

6,2

19,6

37,5

45,7

52,3

57,7

Bulgarien

16,7

14,8

32,6

32,5

35,1

45,0

Slowenien




57,1

67,5

69,4

Durchschnitt MOE10




46,0

58,2

61,8

Quelle: 1988-92 UN-ECE (zitiert in euro-east nr. 26, 17.10.1994, S.26); 1994-98: EU-Kommission, Regelmäßige Berichte, Stat. Anhang; eigene Berechnungen

Anfänglich hatten die Reformländer einen Außenhandelsüberschuss gegenüber der EU, da ihre eigene Importnachfrage unter der Transformationsrezession litt, die EU (vor allem Deutschland) gerade einen Boom erlebte und ihre Währungen eher unterbewertet waren. Schon bald verwandelte sich dieser Überschuss in ein Defizit, als das Wachstum in Mittel- und Osteuropa erneut begann, sich in der EU dagegen abschwächte und sich die Währungen real aufwerteten. Dieses Defizit blieb langfristig erhalten und erreichte in einigen Ländern (Ungarn, Tschechien) bedenkliche Ausmaße, die zu schmerzhaften Sparpolitiken zwangen, unter denen wiederum der Aufholprozess litt.

2.2 Hohe Kapitalzuflüsse

Die Finanzierung dieser Defizite gelang dank des Zustroms von Kapital aus dem Ausland (vgl. Tabelle 6), teils in Form öffentlicher Hilfe, teils als private ausländische Investitionen. Hauptempfänger der Hilfe war Polen, aber auch Rumänien, während bei den Investitionen Ungarn und Tschechien Spitzenplätze einnahmen. Das Ausmaß der Kapitalzuflüsse zeigt, dass die Beitrittsländer nicht erst als EU-Mitglieder kreditwürdig werden.

[Seite der Druckausg.: 19 ]

Tabelle 6: Netto Kapitalströme nach MOE (in Milliarden USD)

Land

1990

1992

1994

1996

1998

Summe

Polen

-1,9

-0,1

1,8

5,3

12,5

29,1

Tschechien

-0,8

-0,1

2,4

3,5

2,7

21,1

Slowakei

0,6

-0,2

0,6

2,3

2,1

8,9

Ungarn

-0,7

0,4

3,3

0,2

3,1

22,7

Bulgarien

0,8

0,9

0,4

-0,8

0,7

4,4

Rumänien

-

1,6

1,0

2,8

2,1

14,8

Slowenien

-

-0,2

0,2

0,5

0,2

2,1

Estland

-

-0,1

0,2

0,5

0,5

2,3

Lettland

-

0,1

-0,1

-0,5

0,2

-0,3

Litauen

-

0,1

0,3

0,7

1,1

4,6

Summe

-2,0

2,4

10,1

14,5

25,2

109,7

Quelle: UN-ECE, Economic Survey of Europe in 1995-1996, S. 144 für die Jahre 1990-94 und
UN-ECE, Economic Survey of Europe in 1998, S.156 für 1995-1996, UN-ECE, Economic Survey of Europe in 1999 S. 171

Die EU und ihre Mitgliedsstaaten waren die Hauptgeber der Hilfe. Das PHARE-Programm der EU diente anfangs der Unterstützung der Transformation, übernahm aber dann immer stärker Aufgaben der Beitrittsvorbereitung (vgl. Tabelle 7). Diese Zuflüsse werden mit dem Beitritt enden.

Tabelle 7: Zahlungen aus dem PHARE-Programm der EU bis 1999

Empfängerland

Zeitraum

Volumen in MECU

Polen

1990-99

2050,0

Ungarn

1990-99

1030,0

Tschechien

1990-99

629,1

Estland

1992-99

187,0

Slowenien

1992-99

192,0

Bulgarien

1989-99

865,5

Rumänien

1990-99

1203,0

Slowakei

1990-99

415,0

Lettland

1992-99

248,0

Litauen

1992-99

328,0

Quelle: EU, Regelmäßige Berichte 1999

[Seite der Druckausg.: 20 ]

Die EU beteiligte sich auch über die Europäische Investitionsbank (EIB) und als Hauptträger der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) an der Finanzierung der Transformation. Daneben hatten die Länder Zugang zu den großen traditionellen internationalen Finanzinstitutionen Weltbank und IWF. An dieser Situation ändert sich mit dem Beitritt zunächst nichts. Im Ergebnis führten die Kapitalzuflüsse, die nur zum kleineren Teil aus Schenkungen bestanden, zu einem Anstieg der Auslandsverschuldung. Eine wesentliche Ausnahme bildete Polen, das einen großen Schuldenerlass zu Beginn der Transformation erhielt (vgl. Tabelle 8). Ein Übergang zur Transferzahlungen aus dem EU-Haushalt hätte für die Kandidatenländer den Vorteil, schuldenfreie Kapitalmittel zu erhalten.

Tabelle 8: Bruttoauslandsverschuldung 1990 und 1997


Land

Auslandschulden
1990
in Millionen USD

Auslandschulden
1997
in Millionen USD

Ausland-
schulden
Anteil am BIP
1990 in %

Ausland-
schulden
Anteil am BIP
1997 in %

Polen

48.475

38.000

82

28

Tschechien

4.400

21.282

14

40

Slowakei

2.004

10.000

13

51

Ungarn

21.270

22.797

60

51

Bulgarien

10.890

9.990

16

37

Rumänien

1.140

9.289

3

27

Slowenien

1.900

4.263

11

24

Estland


310


7

Lettland


393


7

Litauen


1.421


16

Quelle: UN-ECE, Economic Survey of Europe in 1998, S. 153/4

Die langfristig bedeutsameren Kapitalströme sind die ausländischen Direktinvestitionen. Sie haben Mitte der 90er Jahre stark zugenommen, als der Wachstumsprozess in den Reformländern wieder ansprang und die Beitrittsperspektive deutlicher wurde. Die großen Beitrittskandidaten der ersten Runde, Ungarn, Tschechien und Polen, zählen auch zu den Hauptempfängerländern (vgl. Tabelle 9). Die Direktinvestitionen haben ihrerseits zum Wachstumsprozess beigetragen, auch wenn keine direkte Korrelation zwischen Wachstumsrate und Zustrom ausländischer Investitionen erkennbar ist. [Vgl. Volkhart Vincentz und Wolfgang Quaisser „Wachstumsfaktoren in Osteuropa" ifo Schnelldienst 30/99, S.19.]

[Seite der Druckausg.: 21 ]

So zeigt der Fall Polen, dass rasches Wachstum auch mit geringen ausländischen Investitionen möglich ist.

Tabelle 9: Ausländische Direktinvestitionen (netto, in Millionen USD)

Land

1990

1992

1994

1996

1997

1998

Summe
1990-98

Polen

88

284

542

2768

3077

5129

11888

Tschechien

180

1004

869

1428

1300

2540

7321

Slowakei

18

100

250

330

161

508

1367

Ungarn

311

1471

1146

1983

2085

1935

8931

Bulgarien

4

42

105

109

505

401

1166

Rumänien


77

341

263

1215

2031

3927

Slowenien

4

111

128

186

321

165

915

Estland


58

215

151

267

581

1272

Lettland


32

214

382

521

357

1506

Litauen


10

31

152

355

926

1474

Summe

605

3189

3841

7752

9807

14573

39767

Quelle: UN-ECE, Economic Survey of Europe Nr. 3, 1999, S. 142

2.3 Eine neue Arbeitsteilung in Europa entsteht

Durch die Dynamik von Handel und Investitionen hat sich die Arbeitsteilung in Europa verändert. Dabei spiegelt sich im Handel teilweise die Investitionsentwicklung wider. So haben in den ersten Jahren westeuropäische Unternehmen die niedrigen Kosten in Mittel- und Osteuropa genutzt, um Lohnveredelungsproduktion nach dort zu vergeben. Diese Güter machten einen erheblichen Teil des Handels mit Ungarn, Polen und Tschechien aus. Investitionen waren dazu nur im geringen Umfang nötig.

Diese Art von Arbeitsteilung endete aber alsbald in den fortgeschrittenen Reformländern wegen der wieder steigenden Löhne und spielt inzwischen nur noch bei Rumänien und Bulgarien eine größere Rolle. In den anderen Ländern, vor allem in Ungarn und Tschechien, fand dagegen ein up-grading weg von einfacher Lohnveredelung (Textil, Bekleidung, Schuhe) hin zu anspruchsvolleren Gütern der Metallverarbeitung und des Maschinenbaus (z.B. Automobilzubehör) statt (vgl. Tabelle 10). Die VW-Tochter Skoda liefert inzwischen einen beachtlichen Teil der tschechischen Exporte. Der ständige Aus-

[Seite der Druckausg.: 22 ]

tausch von Motoren und anderen KfZ-Teilen zwischen den Audi-Werken in Ingolstadt und Györ (Ungarn) dürfte einen wichtigen Teil des ungarischen Außenhandels in diesem Gütersegment erklären. Insgesamt drückt sich diese spezifische Form der Arbeitsteilung in einem wachsenden Anteil intra-sekoralen (intra-industry) Handels am gesamten Handel zwischen der EU und den fortgeschrittenen Reformstaaten aus. Er liegt schon heute im Spitzenbereich aller EU-Handelspartner, besteht aber hauptsächlich aus dem Austausch billigerer Exporte gegen hochwertige Importe aus der EU („vertikaler" intra-industry Handel) [Vgl. Chonira Aturupane u.a. „Determinants of intra-industry trade between East and West Europe" CEPR Discussion Paper Series 127, London 1997.].

Tabelle 10: Warenstruktur der EU-Importe aus Mittel- und Osteuropa

Sektor/Land

Ungarn

Polen

Tschechien

Slowakei

Slowenien

Bulgarien

Rumänien

Landwirtschaft








1988

23,0

16,1




12,0

3,7

1992

15,2

10,0

3,0

2,7

2,3

11,4

3,8

1995

9,2

5,9

1,9

1,3

0,8

6,6

2,5

Kleidung








1988

12,7

9,2




8,0

15,9

1992

14,6

14,4

8,1

14,2

18,8

18,8

33,1

1995

10,6

15,5

6,2

10,1

12,1

13,9

29,6

Maschinen








1988

7,1

3,9




7,8

3,0

1992

9,9

4,6

10,1

6,5

11,8

6,9

4,2

1995

19,2

5,0

11,4

6,5

14,2

5,3

4,1

Transportmaterial








1988

1,0

7,3




0,4

2,4

1992

3,2

5,7

9,3

6,2

15,2

0,9

2,4

1995

5,8

8,5

8,8

13,8

15,8

0,5

1,8

Quelle: Fran oise Lemoine „Integrating Central and Eastern Europe in the European Trade and Production Network" BRIE Working Paper 107, Berkeley 1998, Appendix 1

Dabei zeigt eine genauere Betrachtung erhebliche Unterschiede zwischen den MOE-Ländern. Während sich einige mitteleuropäische Länder langsam aus dem typischen Niedriglohnbereich herausentwickeln, sind die südosteuropäischen Länder weiter auf diesen Wettbewerbsvorteil angewiesen. Dieser Differenzierungsprozess hat dazu geführt, dass schon 1995 die Einkommensunterschiede unter den Beitrittskandidaten sehr viel höher lagen als in der EU

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(Dänemark : Portugal etwa 3:1; Slowenien : Bulgarien etwa 5:1). [Vgl. Françoise Lemoine, Integrating Central and Eastern Europe in the European Trade and Production Network, BRIE Working Paper 107, Berkeley 1998, Tabelle 2 in Kaufkraftparitäten fallen die Unterschiede jeweils geringer aus: Dänemark:Portugal etwa 2:1; Slowenien:Bulgarien etwa 3:1.]
Tschechien und Ungarn haben in mehr Sektoren (Ungarn z.B. bei Nahrungsmitteln und Kraftfahrzeugen) komparative Vorteile als die anderen Länder, bei denen es sich meist auf zwei bis vier Sektoren (vor allem Kleidung und Grundmetalle) beschränkt. [Vgl. Michael Freudenberg und Françoise Lemoine, Central and Eastern European Countries in the International Division of Labour in Europe, Paris, CEPII, document de travail, 1999 - 05, avril, S. 13.]
Während in einigen Ländern die Spezialisierung zwischen 1993 und 1996 abnahm (Polen, Ungarn, Slowenien, Slowakei), zeigten Estland, Litauen, Bulgarien und Rumänien eine zunehmende Tendenz zur Spezialisierung. [Vgl. ebenda, S. 15.] Analysiert man die Spezialisierungsmuster nach Produktionsstufen, so weisen die meisten Länder komparative Vorteile bei Konsumgütern auf. Nur die baltischen Länder und Tschechien haben Wettbewerbsvorteile bei Grund- und Zwischenprodukten. [Vgl. ebenda, S. 28.] Dabei konzentriert sich der Außenhandel der MOE-Länder mit der EU auf die Marktsegmente, die sich durch niedrige Qualität und Preise (down market) auszeichnen, wobei dies stärker für die MOE-Exporte als ihre Importe gilt. [Vgl. ebenda, S. 56.]

Diese marktgesteuerte Entwicklung haben die MOE-Länder nicht zuletzt durch ihre eigene, voreilige Liberalisierungspolitik verursacht, die vorhandenes Kapital (Humankapital und Produktionsanlagen) dramatisch entwertete und durch die frühe Orientierung auf die EU eine Peripherisierung einleitete. Dies zeigt sich auch im Wandel der Warenstruktur des Exports nach 1989, als in vielen Ländern Rohstoffe Maschinen als Hauptexport ablösten. [Vgl. Tabelle 1 in Todor Gradev, The Evolution of Industrial Structures and the New Division of Labour: Integration into European and Global Production Chains?, in: Brigitta Widmaier und Wolfgang Potratz (Hg.), Frameworks for Industrial Policy in Central and Eastern Europe, Aldershot 1999, S. 60-91, hier Tabelle 1 auf S. 67.]
Über den Einsatz der Handelspolitik im Rahmen einer Modernisierungsstrategie machten sie sich kaum Gedanken. Erst angesichts in vielen Ländern wachsender Leistungsbilanzdefizite haben sie in einigen Bereichen ihre Zölle wieder erhöht oder Importabgaben eingeführt. Auch ausländische Investoren (z.B. Automobilproduzenten) haben teilweise Zollschutz für ihre MOE-Produktion gefordert und erhalten. Einer erfolgversprechenden Modernisierungsstrategie der MOE-Länder käme wahrscheinlich mehr handelspolitische Freiheit für einen selektiven Protektionismus und zur Absicherung einer offen-

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siven Export- und Unterbewertungspolitik entgegen. Die wachsenden Defizite einiger MOE-Länder drohen sie in einen Teufelskreis von Abwertung, Inflation und Verschuldung zu treiben.

Die Wettbewerbsfähigkeit der MOE-Länder beruht bisher auf schwachen Wechselkursen oder im internationalen Vergleich niedrigen Löhnen und sonstigen lokalen Inputkosten. Der Bildungsstand ist zwar in MOE relativ hoch, aber trotzdem ist die Arbeitsproduktivität noch sehr niedrig. Es fehlt an moderner Infrastruktur, die Unternehmen müssen noch erheblich in neue Ausrüstungen und neue Produktionsorganisation investieren. Die bisherige Privatisierung hat aber den Unternehmen nur in geringem Umfang Kapital und Know-how zugeführt, sondern meist lediglich Eigentumstitel verändert.

Trotzdem hat sich schon ein Wandel der Industriestruktur ergeben. Ein Vergleich [Vgl. Karl Aiginger u.a., The World Economy, Economic Growth and Restructuring in Transition Countries, in: OECD Proceedings, a.a.O., S. 32ff.] der Branchenstruktur (prozentuale Anteile der einzelnen Branchen an Output und Beschäftigung der gesamten Industrie) der MOE-Länder mit denen der entwickelten EU-Staaten (Belgien, Frankreich, Deutschland, Großbritannien) und mit den ärmeren EU-Ländern (Griechenland, Spanien, Portugal) ergab für 1989: ein Übergewicht der Schwerindustrie und Defizit in der Papier- und Druckindustrie gegenüber allen EU-Ökonomien, eine Nahrungsmittel- und Leichtindustrie (z.B. Textil und Bekleidung), die stärker als im EU-Norden, aber relativ schwächer als im EU-Süden war, sowie einen Anteil an entwickeltem Maschinenbau, der relativ höher als im EU-Süden, aber niedriger als im Norden war. Nach der Öffnung veränderte sich dieses Bild, allerding uneinheitlich während der ersten Rezessionsphase (bis 1992) und der anschliessenden Wachstumsphase. Im Ergebnis nahm das relative Übergewicht der Textilindustrie im Vergleich zum EU-Norden und das des Maschinenbaus im Vergleich zum EU-Süden beides ab, während die Defizite des Maschinenbaus gegenüber dem Norden und des Textilsektors gegenüber dem Süden beide zunahmen.

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3. Beitritt mit Risiken

Schon die bisherige wirtschaftliche Integration hat gemischte Resultate hervorgebracht. Eine deutliche Differenzierung zwischen den Ländern weist darauf hin, dass es in diesem Prozess Verlierer und Gewinner gibt. Welche Vorteile für eine eigene Wachstumsstrategie haben die Beitrittskandidaten bei realistischer Betrachtung von der EU-Mitgliedschaft selbst zu erwarten?

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3.1 EU-Mitgliedschaft ohne Wachstumsgarantie

Einen ersten Zugang zur Beantwortung dieser Frage bietet sich durch die Erfahrungen früherer Erweiterungen an. Die Wachstumsentwicklung anderer armer Länder, die der EU beigetreten sind, zeigt allerdings kein eindeutiges Muster: Portugal, das zum 1.1.1986 beitrat, ist eine relative Erfolgsstory. Ab 1985 wuchs sein Pro-Kopf-Einkommen knapp 1% schneller als im Durchschnitt der 20 Jahre davor (4% statt 3,2%/Jahr). In Spanien blieb diese Wachstumsrate praktisch unverändert (2,8% statt 2,9%). Irland (Beitritt 1972) wies zunächst gute Zuwachsraten auf, hatte in der ersten Hälfte der 80er Jahre eine Flaute und ist seit etwa zehn Jahren das Wirtschaftswunderland der EU mit ca. 5% Wachstum. Griechenland (Beitritt 1980) bietet ein abschreckendes Beispiel. Seine Wirtschaft, deren Pro-Kopf-Einkommen zwischen 1962 und 1982 noch durchschnittlich um 5,2% jährlich gewachsen war, kam ab 1985 im Durchschnitt nur noch auf kümmerliche 1,3%. Insgesamt hält sich der Abbau der Einkommensdisparitäten zwischen reichen und armen Regionen der EU in engen Grenzen.

Niemand weiß, ob das Bild ohne EU-Beitritt besser oder schlechter ausgesehen hätte. Klar ist dagegen: Die jeweilige nationale Politik entscheidet darüber, wie sich das Neumitglied entwickelt. Denn die Mitgliedschaft in der EU als solche ist offensichtlich keine Erfolgsgarantie für Wachstum. Die EU selbst ist in puncto Wachstum nicht gerade ein Vorbild für arme Länder. Im Vergleich zu anderen Regionen (Nordamerika, Ostasien) zeichnet sie sich eher durch überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit als durch besonders rasches Wachstum aus.

Auch der erste EU-Beitritt eines postkommunistischen Landes, der Anschluss der DDR, verweist mehr auf Risiken als auf Chancen. Zwar war der flächendeckende Zusammenbruch der ostdeutschen Wirtschaft vor allem den besonderen Bedingungen der Vereinigung (überbewerteter Wechselkurs, mangelnde Vorbereitung, überhöhte Transfers) geschuldet, aber er zeigt, wie gefährlich der Schock einer voreiligen Integration in eine Hochleistungsmarktwirtschaft sein kann. Bedenklich muss auch stimmen, dass nach zehn Jahren massiver Hilfen die ostdeutsche Wirtschaft immer noch wenig wettbewerbsfähig und weiter auf umfangreiche Transfers angewiesen ist.

Nach allen Erfahrungen früherer Erweiterungen können die Beitrittskandidaten erwarten, dass ihr Zugang zu internationalen Kapitalmärkten sich mit einem EU-Beitritt verbessert. Sie erhalten voraussichtlich Transferzahlungen aus den EU-Strukturfonds und höhere Direktinvestitionen. Diesem Zufluss an

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Geldkapital entsprechen höhere Importe. Da die raschen Wachstumsprozesse in weniger entwickelten Volkswirtschaften meist sehr importintensiv sind, scheitern sie häufig an Zahlungsbilanzproblemen. Tschechien und Ungarn mussten diese leidvolle Erfahrung schon machen. Eine EU-Mitgliedschaft senkt das Risiko derartiger Krisen. Allerdings zeigen die oben erwähnten Beispiele DDR und Griechenland, dass Kapitalzuflüsse allein kein wettbewerbsfähiges Wachstum produzieren.

Ausländische Firmen aus der EU und aus Drittländern werden investieren, um vom sicheren Zugang zum EU-Markt und niedrigen lokalen Kosten zu profitieren. Direktinvestitionen hängen aber stark von der Entwicklung der Kosten und Produktivität ab. Nach einem ersten Ansturm zeigt sich schon jetzt eine gewisse Enttäuschung der Investoren mit dem Standort Mittel- und Osteuropa, da die Reallöhne ansteigen, die unternehmensbezogenen Leistungen des Umfeldes (Infrastruktur, Zulieferer, Ausbildungssystem etc.) aber gegenüber EU-Standorten deutlich abfallen.

Dieses im Ganzen optimistische Bild verdüstert sich, wenn man die Nachfrageseite einbezieht. Die Kapitalzuflüsse bringen Aufwertungsbewegungen und Leistungsbilanzdefizite mit sich, die die Wettbewerbsfähigkeit und Absatzmöglichkeiten der einheimischen Wirtschaft beeinträchtigen. Die Unternehmen Ostmitteleuropas haben Schwierigkeiten, mit der sehr viel produktiveren Industrie der EU und ihrem qualitativ hochwertigeren Angebot zu konkurrieren. Ihre Absatzchancen auf dem EU-Markt werden – mit Ausnahme der landwirtschaftlichen Güter – kaum, der Konkurrenzdruck der EU-Anbieter in Ostmitteleuropa jedoch spürbar zunehmen, da die Anwendung der Binnenmarktregeln ihre Wettbewerbsposition verbessert.

Im Ergebnis käme es zu einem gewaltigen Strukturwandel, der eine Spezialisierung der Wirtschaft Ostmitteleuropas auf die unter Integrationsbedingungen noch wettbewerbsfähigen Industrien erzwingt. Nach gegenwärtigem Muster wären das vor allem die auf niedrigen Löhnen und billigen Rohstoffen beruhenden Branchen. Zwar steigt die Wettbewerbsfähigkeit anderer Branchen, aber von einem sehr niedrigen, negativen Niveau, das vorerst keinen Anlass zu Hoffnung gibt. Dies sind nicht unbedingt die Grundlagen für wachsende Realeinkommen, die durch Beschäftigung in modernen, produktiven Unternehmen entstehen.

Die prekäre Standortattraktivität und Wettbewerbsfähigkeit Ostmitteleuropas stützt sich wesentlich auf geringe Lohnkosten. Gerade dieser Vorteil mag aber im Zuge des Beitritts partiell verloren gehen. Denn die Agrarpolitik und

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die Preisangleichung im Binnenmarkt dürften zu einer Verteuerung von Lebensmitteln und anderen Konsumgütern und damit zu Lohnkostensteigerungen führen. Der einheitliche Markt wird auch die Preisstrukturen innerhalb der MOE-Länder langsam aber stetig der Struktur innerhalb der EU anpassen. Zwar ist auch der heutige EU-Binnenmarkt weit davon entfernt, ein einheitliches Preisgefüge zu haben. Auch die noch vorhandenen nationalen Währungen verzerren die Markttransparenz noch, was allerdings mit der Einführung des Euro nachlassen wird. Aber selbst heute sind die Abweichungen der Wechselkursrelationen von den Kaufkraftparitäten in der EU nur halb so hoch wie zwischen der EU und den MOE-Nachbarn. Der diese Abweichung beschreibende „Exchange Rate Deviation Index" liegt für Spanien bei 1,47 und 1,56 bei Griechenland (Deutschland als Referenzland hat den Wert 1,0). Für Tschechien betrug er 1995 noch 3,13, für Polen 2,7 und für Ungarn 2,3. [Vgl. Martin Fassman und Milos Pick, The ‘Pure’ Market versus Social Market Economy in the Industrial and Post-Industrial Economy, Ms., Prag 1997. ]
Diese schützende Marktdifferenzierung kann im Binnenmarkt und vor allem in einem einheitlichen Währungsraum nicht von Dauer sein. Die entsprechende Preisanpassung führt dann entweder zu einer Lohnanpassung, die die spezifischen Wettbewerbsvorteile der MOE-Exporte abschmelzt, oder zu einem Reallohnabbau, der soziale und politische Risiken birgt.

3.2 Gewinner und Verlierer des Beitritts

Weitere potentielle Verlierer sind die Beschäftigten in den alten schwerindustriellen Staatsbetrieben, die möglichst noch vor dem Beitritt zu sanieren sind. Schon jetzt zeichnen sich zwischen der EU und Polen sowie innerhalb Polens scharfe Auseinandersetzungen um das Tempo der Zechenschließungen ab, denen Zehntausende von Arbeitsplätzen zu Opfer fallen müssen. Auch im Staatssektor und bei den Empfängern von Sozialleistungen ist mit sinkendem Realeinkommen zu rechnen. Nur in der Landwirtschaft ist das Bild gemischter. Höhere Interventionspreise versprechen höhere Einnahmen der Bauern. Da gleichzeitig aber die Nachfrage zurückgehen dürfte, müsste diese Einkommenssteigerung aus dem EU-Haushalt der Gemeinsamen Agrarpolitik finanziert werden.

Die Liberalisierung der Vermögensmärkte und der Zustrom an Kapital dürfte die Vermögenspreise anheben. Die Börsenkurse stiegen auch in Portugal, Spanien nach dem Beitritt. Ähnlich könnten auch der Wert nicht an der Börse gehandelter Unternehmensanteile und Immobilienpreise steigen. Davon profitieren vor allem die Vermögensbesitzer in den Beitrittsländern, zu denen ne-

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ben Individuen auch diverse Privatisierungsagenturen, Investitionsfonds und Banken zählen. Allerdings stören sich viele Osteuropäer daran, dass angesehene nationale Unternehmen an ausländisches Kapital „ausverkauft" werden.

Der EU-Beitritt wird auch die regionale Wohlstandsverteilung beeinflussen. Der schon heute zu beobachtende Aufschwung der Regionen, die nahe zur Alt-EU an den Westgrenzen liegen, wird sich weiter intensivieren und stabilisieren. Schwache Regionen im Osten können zwar mit verstärkten Infrastrukturinvestitionen rechnen, die aus dem Regionalfonds finanziert werden. Aber es ist kaum anzunehmen, dass daraus selbsttragendes Wachstum in diesen Gebieten resultiert. Die schwache Entwicklung armer Regionen in der EU (Süditalien, Alentejo, etc.) deutet darauf hin, dass diese eher einer passiven Sanierung unterliegen, die von partieller Entvölkerung und einer durch die bessere Verkehrserschließung ermöglichten Pendlerpopulation begleitet wird.

Meinungsumfragen in Mittel- und Osteuropa bestätigen diese Prognosen. 65% der befragten Ostmitteleuropäer sehen die privaten Unternehmen unter den Gewinnern, womit diese vor Erziehung, Armee und Gesundheitssystem an der Spitze der vermuteten Gewinner stehen. Nur 33% erwarten Vorteile für die ärmeren Bevölkerungsgruppen, die damit noch hinter den Handarbeitern, Bauern und Staatsunternehmen stehen. Die Erwartungen für die Bauern sind besonders pessimistisch im Baltikum, in Tschechien, Polen, Slowenien und Slowakei. In Polen schneidet die katholische Kirche am schlechtesten ab.

Diese Verteilungswirkungen verstärken Differenzierungsprozesse, die schon seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Gang sind. Die Ungleichheit der Einkommensverteilung hat zugenommen. Einer wachsenden Zahl von Armen steht eine neue Gruppe von Reichen gegenüber, die oft ihr Vermögen im Zuge undurchsichtiger Privatisierungsprozesse erlangt haben. Politische Korrekturen der Einkommensverteilung durch staatliche Umverteilung, Sozialleistungen oder das Steuersystem stoßen an die engen Grenzen schon überlasteter Sicherungssysteme und defizitärer, unter Konsolidierungsdruck stehender Staatshaushalte.

Auf die Staatshaushalte kommen mit dem Beitritt zusätzliche Belastungen zu. Nicht nur müssen die meisten Projekte, die die EU finanziert, mit nationalen Steuergeldern ko-finanziert werden. Allein diese Ausgaben dürften sich auf über 3% des Volkseinkommens belaufen. Darüber hinaus erfordert die Übernahme des acquis communautaire in einigen Bereichen gewaltige Investitionen, so beim Umweltschutz und bei der Grenzsicherung des Schengen-

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Landes. Schätzungen rechnen dabei mit 50-100% des Bruttosozialprodukts der Empfängerländer – allerdings über mehrere Jahre verteilt.

3.3 EU-Mitgliedschaft schränkt Optionen der Wachstumspolitik ein

Überzeugte Marktwirtschaftler befürchten, dass der EU-Beitritt die Länder Mittel- und Osteuropa von einem strikt marktwirtschaftlichen Kurs abbringt, der in ihren Augen allein Wachstum und Wohlstand garantiert. In der Tat müssen alle Länder mit der Übernahme des acquis communautaire eine Regelungsdichte erreichen, die ihnen selbst zu Zeiten der kommunistischen Planwirtschaft unbekannt war. Zwar dürften die Anforderungen der EU-Sozialcharta kaum über das in Mittel- und Osteuropa vorhandene Maß wohlfahrtsstaatlicher Rechte und Sicherheiten übertreffen, aber die Kritiker des Sozialstaats vermuten, dass schon diese Belastungen die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit dieser Länder überfordern. In Einzelfällen wie z.B. in Estland ist die Liberalisierung schon über das EU-Niveau hinausgegangen. Beim EU-Beitritt müssen bereits abgebaute Zölle und Agrarsubventionen wieder eingeführt werden.

Andere sehen eher in der Beschränkung des nationalstaatlichen Handlungsspielraums Probleme. Betrachtet man nämlich die Wirtschaftspolitik von Ländern, die erfolgreich Aufholprozesse organisiert haben (z.B. in Südostasien), so fällt die aktive Rolle des Staates mit selektiver Industriepolitik, massiver Exportförderung und Protektionismus auf. Gleichzeitig haben die asiatischen Tiger auf eine sparsame Haushaltspolitik, eine stabile, leicht unterbewertete Währung und Investitionen in die Erziehung gesetzt. Dies hat die einheimische Ersparnis gefördert und eine vergleichsweise ausgeglichene Einkommensverteilung bewirkt. Daneben hängt die internationale Wettbewerbsfähigkeit von systemischen Faktoren (Qualität der Nachfrage, externe Effekte zwischen konkurrierenden Anbietern, staatliche Förderpolitiken in den Bereichen der Infrastruktur, Forschung etc.) ab.

Die EU-Mitgliedschaft gestattet nur partiell eine derartige politisch gesteuerte Modernisierung. Sie schränkt einerseits den wirtschaftspolitischen Spielraum ein, schützt aber andererseits auch vor den Risiken internationaler Finanzmärkte. In der Wettbewerbs-, Industrie-, Struktur- und Regionalpolitik müssen sich die Neumitglieder mit Brüssel abstimmen. Subventionen sind genehmigungspflichtig. Sie können versuchen, die Mittel der EU-Fonds für Maßnahmen einzusetzen, die systemische Wettbewerbsfähigkeit steigern. Sie müs-

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sen aber auch damit rechnen, dass die EU nicht Investitionsprojekte fördert, die Unternehmen in den Altmitgliedsstaaten Konkurrenz machen.

Protektionismus gibt es in der EU nur in einigen Sektoren gegenüber Drittländern. Die Zollstruktur deckt sich bestenfalls zufällig mit den Schutzinteressen der Beitrittskandidaten. Eine Politik der „geschützten Exportförderung", wie sie die Ostasiaten Jahrzehnte erfolgreich betrieben, ist somit unmöglich. So wäre es kaum vorstellbar, die erwarteten Importüberschüsse auf Investitionsgüter zu konzentrieren, indem man Konsumgüterimporte durch Zölle verteuert.

Unter den Maastricht-Kriterien erwartet die EU eine solide Haushalts- und Geldpolitik, die auch den Außenwert der Währung gegen Abwertungsspekulationen schützen hilft. Die EU-Mitgliedschaft kann eine derartige nationale Politik erleichtern, indem sie die Regierung bei unpopulären Maßnahmen gegenüber ihren Wählern entlastet. Andererseits eröffnet die Liberalisierung der Kapitalmärkte der Spekulation (auch der einheimischen Vermögensbesitzer) neue Möglichkeiten. Die Gefahr spekulativer Attacken würde mit Sicherheit erst nach dem Beitritt zur Währungsunion gebannt sein. Vorher kann ein Land sich kaum dem Zufluss von Auslandskapital verschließen, auch wenn es dessen Sprunghaftigkeit fürchtet.

Weniger Staat muss sich allerdings nicht nur negativ auswirken. Die Länder Ostmitteleuropas haben traditionell schlechte Erfahrungen mit politischer Steuerung von Wirtschaftsprozessen gemacht. Die kommunistischen Planwirtschaften verfügten über ein umfangreiches Instrumentarium, mit dem sie zwar die einheimische Ersparnis erheblich steigern konnten, aber auch das so gewonnene Kapital verschwendeten. In den Transformationsökonomien sind die Kapitalmärkte noch schwach entwickelt. Häufig haben Staat und Banken alte Staatsunternehmen konserviert statt modernisiert. Es fehlt ein Netzwerk von kompetenten Akteuren aus Banken, rating-Agenturen, Beratungsfirmen, Aufsichtsbehörden, Kammern, Verbänden etc., die Transparenz, Kontrolle und Orientierung bieten. An diesen Mängeln wird ein EU-Beitritt kurzfristig nichts ändern.

Insgesamt hängt die Entwicklung der Beitrittsländer davon ab, wie sie die Chancen der EU-Mitgliedschaft nutzen, ohne ihren Gefahren und Versuchungen zu erliegen. Diese Risiken abzuwägen, bleibt Aufgabe der politischen Öffentlichkeit in Mittel- und Osteuropa. Angesichts des langsamen Reformfortschritts in der EU selbst wird ihr Zeit genug zum Nachdenken bleiben.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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