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Zusammenfassung und Schlussfolgerungen

„Die Erweiterung ist zu leisten"; sie ist Pflicht, Chance und Vorteil. Das ist die zentrale Botschaft des Beitrags von Nicolaus van der Pas, zum Zeitpunkt der Konferenz Chefunterhändler der EU-Kommission für die Beitrittsverhandlungen. Die Erweiterung werde die politischen und wirtschaftlichen Ressourcen der EU fordern, aber nicht sprengen. Er belegt dies mit den finanziellen Vorkehrungen, die auf dem Berliner Gipfel (wie auch dem in Helsinki) 1999 getroffen worden seien. Andererseits erspart er der Kommission aber auch nicht den nachdrücklichen Hinweis darauf, dass ohne eine Änderung des Entscheidungsmodus im Ministerrat hin zu einer Mehrheitsentscheidung als Regelfall die EU wohl kaum ihre Ziele erreichen werde.

Während van der Pas aus der Sicht der Kommission und der gegenwärtigen Mitgliedsländer argumentiert, stellt Michael Dauderstädt, Friedrich-Ebert-Stiftung, die Frage genau umgekehrt: Können sich die MOE-Länder den Beitritt leisten? Seine Antwort verweist auf die zwangsläufige Enttäuschung überhöhter Erwartungen, die nicht zuletzt auf unzureichenden Informationen beruhen. Trotz aller Hilfe durch die Strukturfonds sind die Möglichkeiten letztendlich begrenzt, steuernd von außen in den Umstrukturierungs- und Anpassungsprozess einzugreifen. Folglich kommt der nationalen Politik die entscheidende Rolle zu. Die zu entwickeln und glaubhaft gegenüber der Bevölkerung zu vertreten sei wichtiger als die Fixierung eines Beitrittsdatums.

Jerzy Hausner, Minister a.D., Wirtschaftsuniversität Krakau, Polen, unterstreicht in seinem Beitrag diese Position. Er unterscheidet, wie nach ihm auch Jaroslav Jaks, Wirtschaftsuniversität Prag, Tschechische Republik, und Raita Karnite, Institut für Wirtschaft, Lettische Akademie der Wissenschaften, Riga, Lettland, zwischen Beitritt und Integration. Der Beitritt bestehe im wesentlichen im Aushandeln und Erfüllen von Kriterien; Integration jedoch beschreibe den Konvergenzprozess zwischen den alten und den neuen Mitgliedern. Die Organisation und Durchsetzung dieses Prozesses, der Ausgleich zwischen Gewinnern und Verlierern, der Aufbau einer integrationsfähigen Wirtschaftsstruktur – dies seien die Aufgaben der Beitrittsländer selbst. Sie könnten von außen unterstützt werden, müssten im Innern aber entworfen, verantwortet und realisiert werden.

Eng damit zusammen hängt auch die immer noch verbreitete Illusion in den Ländern Mittel- und Osteuropas, der Beitritt allein bewirke schon Wachstum und Wohlstand. Alle Referenten stimmen hier überein, dass mit dem Beitritt

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zur EU die Chance (!) auf Wachstum steige, die realen Voraussetzungen dafür aber noch keineswegs überall gegeben seien.

Mit dem Hinweis auf die vorläufig noch recht geringe internationale Wettbewerbsfähigkeit versucht Wolfgang Quaisser, Osteuropainstitut, München, Ängste zu zerstreuen, mit dem Beitritt entstünden den Altmitgliedern ernsthafte Konkurrenten um Marktanteile und Einkommen. Bisher hätten die EU, insbesondere aber Deutschland und Österreich, von der Öffnung der Märkte in den MOE profitiert. Die Struktur des Handels und die Handelsbilanzen sprächen hier eine eindeutige Sprache. Auch hätten die (wachsenden) Direktinvestitionen eher zu neuen Strukturen in der unternehmensinternen Arbeitsteilung geführt als dass es zu relevanten Verlagerungen von Produktionskapazitäten gekommen sei. Auch die Furcht vor großen Migrationsströmen ergebe sich eher aus einer Fixierung der deutschen Debatte auf die aus neuen Produktionsstrukturen entstehenden Verteilungsprobleme als aus realen Zahlen. Die aus der Erweiterung der europäischen Arbeitsteilung und aus neuen Produktionsstrukturen entstehenden Chancen würden schlicht unterbewertet.

Armin Sorg, Siemens AG, München, und Hans Weber, GefAA Systemberatung mbH, Berlin, schließlich, als Sprecher je eines großen und eines kleinen Unternehmens, bestätigen und illustrieren auf der Grundlage ihrer praktischen Erfahrungen diese Argumentationslinie. Die Bedeutung der Direktinvestitionen liege in der Erschließung von Märkten und damit von Expansionschancen. Das gelte auch für kleine und mittlere Unternehmen, auch wenn für diesen Unternehmenstyp die klassischen Probleme den Schritt auf die neuen Märkte und in neue Kooperationsbeziehungen schwierig mache. Für sie bestünden jedoch durchaus Chancen, die für sie spezifischen Transaktionskosten durch den Einsatz und die intelligente Anwendung von Informations-, Kommunikations- und Medientechniken wenigstens etwas zu reduzieren.

Ditmar Staffelt MdB, Berlin, betont in seinem Beitrag noch einmal die Notwendigkeit, den „dunklen deutschen Ängsten" eine offensivere Position entgegenzustellen. Die Integration der mittel- und osteuropäischen Volkswirtschaften in den europäischen Binnenmarkt eröffne zusätzliche Investitionsmöglichkeiten und damit eine Chance, die internationale Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen zu stärken.

Der Prozess der europäischen Integration beruht zum einen auf der Integration der Märkte, zum anderen auf den Erweiterungen. Klassisch-ökonomisch gesehen handelt es sich um eine konsekutive Beziehung, das eine, die Inte-

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gration, folgt dem anderen, der Transformation. Evolutionsökonomisch gesehen stehen diese beiden Prozesse in einer Wechselbeziehung zueinander, die allerdings in ein Dilemma führt: ein fortgeschrittener Transformationsstatus ist nötig, um die Integrationskriterien zu erfüllen, und Integration in die EU und den Binnenmarkt ist notwendig, um den Transformationsprozess voranzutreiben. Andererseits sind es diese durchaus ambivalenten Wechselwirkungen, aus denen der Gesamtprozess seine Dynamik gewonnen hat. Zugleich resultieren daraus aber auch hüben wie drüben Unsicherheiten und Ängste um die Konsequenzen für die (nationalen) Arbeitsmärkte, die zunehmend ohne makroökonomische „Abfederungen" dem unmittelbaren internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind.

Die „Heimatmärkte" der deutschen Wirtschaft liegen in EU-Europa (alt). Der eigentliche Druck auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, auf die Flexibilisierung der Strukturen der Arbeitsmärkte und auf weitere Reformen in Deutschland geht deshalb auch in erster Linie vom europäischen Binnenmarkt, der europäischen Währungsunion und von der fortschreitenden Liberalisierung des Welthandels aus. Die EU-Erweiterung nach Mittel- und Osteuropa verleiht dem allenfalls noch etwas Nachdruck, ist selbst aber nicht die Ursache. Insofern sind die unzweifelhaften Probleme, die durch die EU-Erweiterung hochgespült werden, als Teil eines umfassenderen Transformationsprozesses zu begreifen, in dem sich eben nicht nur die mittel- und osteuropäischen Ökonomien befinden, sondern die EU-europäischen mindestens ebenso. Für die EU-Ökonomien geht die Zeit der Anpassungs- (Problemverschiebungs-) Subventionen zu Ende. Die Internationalisierung der Produktion lässt immer weniger Raum für spezifische nationale Marktzutrittsbarrieren (u.a. auch durch Regulierungen der Arbeitsmärkte) – und insofern ist es in erster Linie eine „innere Angelegenheit", die anstehenden Debatten auch wirklich zu führen.

Den Beitrittsländern geht es da – im Prinzip – nur wenig anders. Sie müssen ihrerseits ihre eigenen Debatten mit einer skeptischen Bevölkerung um den EU-Beitritt führen, Strategien entwickeln und einschneidende „Anpassungsmaßnahmen" verantworten – und dies ebenso unter Ungewissheit über die Konsequenzen. Der EU-Euphorie der Wendejahre ist zwar die zögerliche Einsicht gefolgt, dass ein Beitritt zur EU als solcher noch nicht Wachstum und Wohlstand bescheren wird, aber eine nüchterne ökonomische Analyse der Kosten und Nutzen einer Vollmitgliedschaft gibt es allenfalls in Ansätzen. Und von da ist es meist noch ein weiter Weg zur Entwicklung einer Politik, die ihren Ausgangspunkt nicht an den Strukturfonds nimmt, sondern

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bei den endogenen Potentialen, genauer: an den Erfordernissen zur Modernisierung der Wirtschaft ansetzt.

Die Dynamik dieser, in den Beitrittsländern mit unterschiedlicher Intensität geführten, Debatte liegt in dem Spannungsverhältnis von Transformation und Integration: erforderte die Transformation zu einer dynamischen Marktwirtschaft ein möglichst breites Spektrum wachstumspolitischer Optionen (um „reif" für den Binnenmarkt zu werden), so werden diese unter dem Regime des 'acquis communautaire' beschränkt. Aber nicht nur das: die Logik des 'acquis' ist aus den gemeinsamen Erfahrungen und Interessen der (west-) europäischen Demokratien und hochintegrierter Marktwirtschaften heraus entstanden, die zwangsläufig nur bedingt kompatibel ist mit den (wirtschafts-) politischen Handlungszwängen und –erfordernissen von Ländern, die sich in komplexen politischen, sozialen und ökonomischen Transformationsprozessen befinden. Hinter den durchaus positiven makroökonomischen Daten und Exportziffern stehen aber quantitativ und qualitativ immer noch sehr große Entwicklungsunterschiede, die einen Verzicht auf Interventionsinstrumente nicht vernünftig erscheinen lassen. Aus Sicht der Kommission ist es sicher richtig, dem Grundsatz der Gleichbehandlung folgend für alle Kandidaten die gleichen Beitrittskriterien zu formulieren und eine je nach Fortschritt in der Erfüllung dieser Kriterien differenzierte Aufnahmestrategie zu verfolgen; praktisch-politisch dürfte dies jedoch nur in engen Grenzen durchzuhalten sein, wenn die immer noch prekäre ökonomische und politische Stabilität in den MOE-Ländern nicht in Instabilität umschlagen soll. Auch Visionen brauchen Fahrpläne.

Am Ende ist festzuhalten, dass trotz aller Mängel, Unvollkommenheiten und Risiken Europa ohne die Osterweiterung nicht mehr vorstellbar ist. Sie bedeutet das wohl größte Sicherheits- und Stabilitätsprogramm seit dem Aufbau der Nachkriegsordnung. Dieses Sicherheits- und Stabilitätsprogramm könnte auch unter dem Satz des früheren Präsidenten des Europaparlaments Klaus Hänsch stehen: „Entweder exportiert die Union durch die Erweiterung wirtschaftliche, soziale und ökologische Stabilität nach Osten, oder sie wird Instabilität aus dem Osten importieren müssen." Dieser Zusammenhang sollte jedem bewusst sein, der in Deutschland Angst vor polnischen oder anderen Wanderarbeitern aus Osteuropa schürt. Zur Beruhigung der Skeptiker sei schließlich auch noch angefügt, dass – und auch hier trotz aller Mängel und wissenschaftlichen Unvermögens – wohl noch nie zuvor eine Weltgegend so wie die Osteuropas einer solchen gründlichen Inventur unterzogen worden ist – und das Ergebnis doch einigermaßen ermutigend ist. „Die Zukunft braucht man nicht vorauszusehen, man muss sie möglich machen."


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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