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1. Lohnspreizung und Beschäftigung: Argumentationen, Fakten und Interpretationen

Arbeitslosigkeit ist heute ein Massenphänomen, von dem erwerbsfähige und arbeitssuchende Personen unterschiedlich schwer betroffen sind. Besonders die Chancen der Un- oder nur Geringqualifizierten, sich auf dem Arbeitsmarkt zu behaupten, werden immer schlechter. Sie verlieren ihre Wettbewerbsfähigkeit. Die Frage, ob und in welchem Ausmaß neue Beschäftigungschancen für Geringqualifizierte gefunden werden können, spaltet derzeit Ökonomen, Gewerkschaftler, Arbeitgeber und Politiker in zwei Lager: in die Protagonisten einer stärkeren Lohnspreizung und in die Gegner einer solchen Lohndifferenzierungsstrategie.

Die Protagonisten weisen darauf hin, daß die Lohnspreizung in Deutschland zu flach verläuft und kündigen an, daß mit einer stärkeren Lohndifferenzierung mehr Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich geschaffen werden könnten. Die Gegner halten die deutsche Lohnspreizung dagegen für angemessen und erwarten von stärkeren Lohnspreizungen keinerlei positiven Impulse für Wirtschaft und Arbeitsmarkt. Sie warnen vielmehr vor den negativen sozialen Folgen, die eine Auffächerung des Lohngitters zur Konsequenz haben könnte.

Die Erwartungen von Protagonisten wie Gegnern müssen empirischen Fakten standhalten. Empirische Daten sind aber meist nicht eindeutig, sondern eher interpretationsbedürftig. Vor einer Auseinandersetzung mit ihnen sollten daher zuvor die elementaren Argumente offengelegt werden, die zu der einen oder der anderen Überzeugung führen.

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1.1 Steile oder flache Lohnpyramide: eine Abgrenzung der Fronten

Eine andere Verteilung, eine steile statt einer flachen Lohnpyramide, schöpft Leistungsanreize, Produktivitäten und Arbeitspotentiale besser aus, während es bei einer flachen immer weniger Einfacharbeitsplätze geben wird. So könnten die Argumente der Protagonisten auf den Punkt gebracht werden. Sie rechtfertigen ihre Auffassung folgendermaßen.

Die Befürworter stärkerer Lohnspreizung glauben nämlich, einen kausalen Zusammenhang zwischen der erreichbaren Beschäftigungsperformance und der Verteilung von Löhnen und Gehältern zu erkennen. Danach ist die Performance umso besser, je flexibler die Löhne - am unteren Ende der Lohnskala - gehandhabt werden können. Dort „unten" werden die einfachen Arbeitsverrichtungen ausgeübt. Im Falle geringer Lohnspreizung und relativ hohen Löhnen für einfache Tätigkeiten kann sich eine Schere zwischen Produktivität und Arbeitskosten öffnen, die verhindert, daß neue Beschäftigungsfelder für Geringqualifizierte erschlossen werden. Im Gegenteil: Die Arbeitsplätze am unteren Ende der Produktivitätsskala geraten zunehmend unter Rationalisierungsdruck. Einfache Tätigkeiten werden besonders im produzierenden Gewerbe wegrationalisiert, denn sie sind schlichtweg zu teuer geworden. Geringqualifizierte bzw. Arbeitnehmer ohne Berufsausbildung, die freigesetzt werden, finden anschließend kaum noch Arbeit. Eine stärkere Flexibilität der Lohnstruktur mit einer größeren Differenzierung der Lohnpyramide ist dagegen mit niedrigen Produktivitäten weitaus kompatibler. Sie würde die Beschäftigungschancen für einfache

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Arbeit entscheidend verbessern, ja sogar zusätzliche arbeitsintensive Arbeitsfelder erschließen und einen dauerhaften Erwerbsbereich für weniger qualifizierte Arbeitnehmer schaffen.

Aber das ist nicht die einzige Dividende, die bei einer stärkeren Lohnspreizung herausspringt. Der gesellschaftliche Nutzen reicht über die verbesserten Integrationschancen von Arbeitslosen hinaus. Wenn eine größere Lohn- und Arbeitskostenspreizung einen arbeitsintensiveren Expansionspfad und damit Mehrbeschäftigung verspricht, senkt sie zugleich die Belastung der öffentlichen Kassen, da Personen aus dem Transferbezug von Arbeitslosengeld, - hilfe oder Sozialhilfe herausgeholt werden. Zugleich schimmern in den Prognosen der Befürworter auch andere Hoffnungen durch. Ansteigende Erwerbstätigenquoten, höhere Arbeitsmarktintegration breiter Teile der erwerbsfähigen Bevölkerung steigern die Nachfrage nach Waren und Gütern, damit das Bruttoinlandsprodukt und schließlich das Pro-Kopf-Einkommen.

Die Erwartungen sind demnach relativ hoch gesteckt: Mehrbeschäftigung, weniger Sozialausgaben und steigende Pro-Kopf-Einkommen sind für die Protagonisten eine dreifache Dividende, die mit der Lohnspreizung erreicht werden kann.

Ganz anders argumentieren ihre Gegner. Sie wehren sich gegen eine steilere Lohnpyramide und empfehlen einen anderen Ansatz, da sie die Spreizungsfolgen in einem viel ungünstigeren Lichte sehen.

Lohnspreizung ist im Prinzip mit einer Lohnsenkung im unteren Bereich gleichzusetzen. Daraus entsteht mehr Verteilungsungleichheit. Lohndifferenzierung schneidet daher auch die Frage nach der gesellschaftlichen Verteilungsgerechtigkeit an. Verteilungsungleichheit muß noch gesellschaftlich akzeptabel sein. Dieser Akzeptanz sind in Deutschland enge Grenzen gesetzt, viel engere als z.B. in den USA (vgl. 2.1). Im nationalen Kontext sind darum erst einmal die Schranken auszuloten, bis zu denen die Lohnspreizung noch als gemäßigt gilt. Sehr viel Spielraum sehen die Gegner allerdings nicht. Ihr weitaus schärferes Argument ist aber, daß Lohnspreizung nicht quasi naturwüchsig ein Garant für eine bessere Beschäftigungsperformance ist. Eine Dividende wird es daher nicht geben. Ein hoher Verbreitungsgrad von Niedriglöhnen höhlt durch geringe Steuereinnahmen und öffentliche Investitionsmöglichkeiten sowie niedrige private Kaufkraft die Binnennachfrage vielmehr weiter aus. Dies birgt das Risiko, daß das Beschäftigungsvolumen weiter abfällt und nicht - wie die Protagonisten voraussehen wollen - steigt.

Die Gegner teilen die beschäftigungspolitische Hoffnung, die mit niedrigen Löhnen am unteren Ende der Produktivitätsskala verbunden wird und die Prognose über eine dreifache Dividende von Lohnspreizungsstrategien also nicht, sondern kehren die Argumentation eher um. Skeptiker halten darüber hinaus auch gerne gegen die weitverbreitete Meinung, daß höhere Lohnkosten im unteren Segment stets als Jobkiller, zumindest aber als Beschäftigungsverhinderer zu gelten haben. Die Lohnkostenproblematik wird nach ihrer Auslegung häufig bewußt überbetont und diese Bewertung führt dazu, daß andere Ansätze, das Beschäftigungsvolumen zu erhöhen und Niedrigqualifizierten neue Beschäftigungschancen zu eröffnen, einfach ausgeblendet werden.

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Wenn nämlich Arbeitslosigkeit auf fehlenden Qualifikationen von bestimmten Personen im erwerbsfähigen Alter beruht, liegt es viel näher, nicht nur zu versuchen, an Symptomen zu kurieren, d.h. vor allem die Lohnkosten zu senken, sondern analog zu den Ursachen die Qualifikation der Betroffenen zu erhöhen. Dazu müssen Bildungsinvestitionen getätigt werden. Zwar beinhaltet dieser Ansatz durchaus die Gefahr, daß der Verdrängungswettbewerb zwischen schlechter Qualifizierten und besser Aus- und Weitergebildeten zunimmt. Aber auch darauf haben die Gegner von Lohnspreizung eine passende Antwort. Sie zielt vielfach in die Richtung flächendeckender Arbeitszeitverkürzungsmaßnahmen, mit denen der Qualifizierungsansatz flankiert werden könnte. Die bekannten Umsetzungsformen von Arbeitszeitverkürzung verteilen das vorhandene Arbeitsvolumen gleichmäßiger und nehmen damit dem Verdrängungswettbewerb seine Schärfe.

Pro und contra Argumente scheinen unvereinbar. Da es sich zunächst aber nur um Annahmen, Lehrmeinungen oder interessengeleitete Behauptungen handelt, müssen sie mit Hilfe empirischer Daten zur Lohn- und Beschäftigungsstruktur erhärtet oder aber abgeschwächt werden. Erst die konkretere Beschreibung des Zustands, in dem sich die deutsche Lohnstruktur befindet, ermöglicht, sich in das eine oder andere Lager einzuordnen bzw. für ein Konzept zu entscheiden, vielleicht aber sogar eine gemeinsame Schnittmenge zu finden, die den deutschen Weg zu mehr Beschäftigung und mehr Chancen für einfache Arbeit aufzuzeigen vermag.

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1.2 Lohnspreizung in Deutschland: Ausmaß und Auswirkungen

An den empirischen Daten und Anlaysen hat sich seit mehreren Jahren die Debatte über Lohnspreizung und Beschäftigung entzündet. Sie führte zu der aufgezeigten Frontenbildung. Diese ist zwar manchmal verschwommen und wird keineswegs immer stringent eingehalten, liefert aber zumindest eine Richtschnur für die Interpretation der Daten, denn die empirischen Befunde sind beinahe genauso umstritten wie die Argumente selbst, die aus ihnen abgeleitet werden.

Daher sollen im folgenden die Daten präsentiert werden, aus denen Protagonisten wie Gegner von Lohnspreizung das Rüstzeug beziehen, mit dem sie ihr jeweiliges Terrain abstecken.

1.2.1 Gestauchte Lohnstruktur und Dienstleistungslücke als deutsches Handikap

Wenn die Befunde zur deutschen Lohnstruktur gesichtet und gedeutet werden müssen, wird erkennbar, wer welche Position favorisiert. Experten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) überzeugt die deutsche Lohnstruktur z.B. nicht. Sie sind geneigt, sich eher in das Lager der Befürworter von stärkeren Lohnspreizungsstrategien einzureihen. Dafür werden verschiedene Belege und Erklärungen ins Feld geführt, die aus nationalen Situationsbeschreibungen und internationalen Vergleichen abgeleitet werden.

Der Veränderungsdruck, der auf dem Arbeitsmarktsegment der Geringqualifizierten lastet, ist ein enormer. Dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: das Potential an

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höherqualifizierten Arbeitskräften im eigenen Land, die billigeren gleich- oder auch höherqualifizierten Arbeitnehmer im Ausland, der Import von Gütern, die mit billigen Arbeitskräften produziert werden sowie der Kapitaleinsatz und die betrieblichen Rationalisierungsvorhaben. Der Wegfall einfacher Arbeit im verarbeitenden Gewerbe ist irreversibel.

Aber auch die anderen Folgen sind einschneidend:

  • Die Schere der qualifikationsspezifischen Arbeitslosenquoten öffnet sich immer weiter zuungunsten der Unqualifizierten.
  • Damit korrespondieren Steigerungen der arbeitsmarktbedingten Ausgaben im Sozialbudget, denn die drei am stärksten wachsenden Ausgabenarten sind im Bereich Arbeitsförderung, Sozial- wie auch Jugendhilfe zu erwarten bzw. schon auszumachen.
  • Der förderale Aufbau der Arbeitsmarktpolitik gerät zunehmend ins Wanken, da die Auswirkungen von Langzeitarbeitslosigkeit immer mehr in die kommunale Zuständigkeit, d.h. in den Sozialhilfebezug ausgesteuert werden.

Lohnspreizung könnte nun nach der vereinfachten Annahme ihrer Protagonisten, quasi als Sofortmaßnahme neue Arbeitsplätze für Unqualifizierte schaffen. Damit würde mehr Zeit gewonnen, sich auf die negativen Folgen des nationalen und internationalen Veränderungsdrucks einzustellen und sie zu bewältigen.

So einfach ist die Schlußfolgerung des DIW natürlich keinesfalls. Lohndifferenzierung ist nämlich nicht ausnahmslos ein Patentrezept, um diesen Entwicklungen entgegenzusteuern. Die internationalen Erfahrungen und Erkenntnisse sind auf diesem Gebiet nicht eindeutig. Zwar zeigen sich positive Zusammenhänge zwischen Lohnspreizung und Beschäftigung, besonders im angelsächsischen Raum, genausogut gibt es aber Beispiele dafür, daß trotz relativ wenig gespreizter Lohnstruktur beschäftigungspolitische Erfolge erzielt werden können. Darauf deutet z.B. das niederländische Beispiel hin, das inzwischen einen gewissen Ruhm erlangt hat.

Nach den Erkenntnissen des DIW lassen sich trotzdem Belege finden, daß Lohnspreizung in Deutschland relativ unbedenklich als ein Rezept gegen die Arbeits- und Chancenlosigkeit von Geringqualifizierten verordnet werden sollte. Wenn die Beschäftigungspolitik mehr auf Einfachtätigkeiten fokussiert wird, um neue Beschäftigung für Geringqualifizierte zu erschließen, sollte sie auf jeden Fall durch eine Lohn- und Arbeitskostenspreizung unterstützt werden. Dafür gibt es gute Gründe und empirische Nachweise.

Wenn an die deutsche Lohnstruktur internationale Vergleichsmaßstäbe angelegt werden, läßt sich nachweisen, daß Deutschland zu den Ländern mit geringer Lohnspreizung gehört.

Lohnspreizung bedeutet zwar nicht automatisch höhere Beschäftigung, aber die Lohn- und Gehaltsstrukturerhebung des statistischen Bundesamtes von 1995 legt ferner offen:

Die Daten zeigen, daß nicht viele (nur etwa 7,5%) der westdeutschen Vollzeitarbeitnehmer in Industrie, Handel, Banken und Versicherungen ohne Sonderzahlungen weniger als 3000 DM brutto im Monat verdienten. Dies kann zumindest in Westdeutschland als ein erstes Indiz für eine gestauchte Lohnstruktur bewertet wer-

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Schaubild 1 IW-Trends 3/98: Lohnspreizung und Beschäftigungswachstum ; Schaubild 2 IW-Trends 3/98 Brutto-Monatsverdienste vollzeitbeschäftigter Arbeitnehmer 1995

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den. Diese Stauchung der Löhne und Gehälter verursacht eine schmale Nachfrage nach einfachen Tätigkeiten, jedenfalls sofern die Ansicht geteilt wird, daß niedrige Löhne zumeist mit besseren Beschäftigungschancen im Bereich anspruchsloser Arbeit gleichzusetzen sind.

Diese Annahmen gewinnt vielleicht noch etwas mehr an Plausibilität, wenn zusätzlich in Rechnung gestellt wird, daß sich zu dieser Lohnstruktur die Belastung mit Lohnnebenkosten, Steuern und Sozialabgaben addiert. Der Abgabenkeil ist in Deutschland z.B. im Vergleich mit den G7-Ländern sehr groß, im Bereich der Niedriglohnbezieher ist dagegen das Nettoeinkommen in Deutschland sehr niedrig. [Fn.2: Geringfügige Beschäftigung in Form der (ehemaligen) 620 DM Jobs kann in diesem Zusammenhang als eine Ausweichstrategie bewertet werden, die weitere Anhaltspunkte dafür liefert, daß es bei geringen Lohn- und Abgabenbelastungen durchaus eine erhöhte Nachfrage nach einfachen Tätigkeiten gibt (vgl. 4).]

Dieser sparsame Einsatz steht aber im Gegensatz zu einer Dienstleistungslücke in Deutschland, die zusätzliche Erwerbsarbeitspotentiale birgt. Dazu hat das DIW umfangreiches Zahlenmaterial erarbeitet. [Fn.3: vgl. ggf. die entsprechenden IW-Trends, besonders 3/97 und 3/98] Exemplarisch zeigt aber schon das folgende Datenmaterial die deutsche Dienstleistungslücke auf:

Solches Zahlenmaterial belegt, wie in Deutschland in vielen Bereichen und Berufsgruppen ein unausgeschöpftes Beschäftigungspotential existiert, vorausgesetzt, die Dichteziffern anderer Ländern würden auch hierzulande realisiert. Bei einem Vergleich der Dichteziffern nach Branchen und nach Berufsgruppen fällt z.B. sehr drastisch der Rückstand Deutschlands gegenüber der europäischen Dienstleistungsbenchmark Dänemark auf. Danach würden in Deutschland gar 5,8 Millionen Dienstleistungsarbeitplätze fehlen. Diese liegen selbstverständlich nicht alle im einfachen Bereich. Andere Sonderauswertungen des DIW schätzen aber, daß bezogen auf die dänische Dienstleistungsdichte die Beschäftigungslücke für Geringqualifizierte durchaus auf 1,35 Millionen beziffert werden könnte.

Ein „deutscher Lückenschluß" im Dienstleistungssektor würde positive gesamtwirtschaftliche und sozialpolitische Konsequenzen zeitigen. Dies gilt nach der vorangeganenen Anlayse wohl einmal mehr, wenn das potentielle Beschäftigungsvolumen im Bereich von Dienstleistungen ausgeschöpft würde. Darauf weisen die Protagonisten von Lohnspreizung in diesem Zusammenhang mit Nachdruck hin. [Fn.4: Ob die gesamtwirtschaftliche Bilanz positiv ausfällt, wenn die Lohnstruktur geöffnet wird, ist allerdings nicht unumstritten. Skeptiker befürchten, daß in diesem Fall zuviel Produktivitätsdruck aus dem Arbeitsmarkt herausgenommen und der Wohlstandskuchen, das insgesamt verteilbare Sozialprodukt kleiner würde. Daran sollte auch noch einmal erinnert werden.] Augenblicklich sind aber kaum Anzeichen erkennbar, daß die Dienstleistungslücke in Deutschland geschlossen wird. Das Reservoir an Arbeitsplätzen in den Branchen und Berufsgruppen liegt brach. Die Logistik zwischen Lohnstruktur und unausgeschöpften Beschäftigungspotentialen scheint am Beispiel der Dienstleistungslücke nachvoll-

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Tabelle 1: Arbeitsplatzdichte 1995 nach Wirtschaftsgruppen

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Tabelle 2: Rechnerische Dienstleistungslücke Deutschlands 1995 gegenüber den EU-Ländern mit der höchsten Arbeistplatzdichte ; Tabelle 3: Arbeitsplatzdichte 1995 nach Berufen

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ziehbar. Eine gestauchte Lohnstruktur kann bewirken, daß einfache Dienstleistungstätigkeiten nicht marktfähig sind, da sie nicht bezahlt werden können. Das verringert die Arbeitsmarktchancen gering qualifizierter Arbeitnehmer, die eben nur in einfachen Tätigkeiten eingesetzt werden können - auch im Dienstleistungssektor.

Derartige und ähnlich empirisch begründete Zusammenhänge liefern den Befürwortern von Lohnspreizungsstrategien also den Zündstoff für ihre Argumentation. Solcherlei Kausalitäten bleiben aber nicht widerspruchslos, sondern rufen die Gegner auf das Parkett. Sie bringen ihre eigenen empirischen Analysen mit, die in andere Richtungen weisen.

1.2.2 Angemessene Lohnspreizung in Deutschland: die etwas andere Perspektive

Zwar wurde der Nachweis erbracht, daß die deutsche Einkommensverteilung bzw. die Lohnpyramide flach und wenig gespreizt ist. Es besteht allerdings erheblicher Interpretationsbedarf, wie weit eine Lohnspreizung denn überhaupt betrieben werden müßte, damit sich Beschäftigungseffekte, z.B. im Dienstleistungssektor, einstellen können. Zeiten hoher Arbeitslosigkeit verleiten offenbar so manchen zu der vielleicht vorschnellen Überzeugung, daß die Lohnspreizung möglichst weitgehend sein sollte, damit sich Beschäftigungserfolge einstellen. Der Begriff des „Sperrklinkeneffekts" symbolisiert in diesem Zusammenhang ein Spreizungskonzept, bei dem die Klinke erst sehr tief heruntergedrückt werden muß, um die Sperre zu überwinden, ab der sich erst die erwarteten Beschäftigungserfolge einstellen. Diese Hoffnung kann aber zu einer trügerischen werden. Auch dafür scheint es Anhaltspunkte zu geben.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung meint beispielsweise zu beobachten, daß die Klinke in Deutschland bereits schon ziemlich weit heruntergedrückt ist, allerdings mit geringerem Erfolg als erhofft. Unterschiedliche Spreizungsformen sind gegenwärtig zu erkennen. Dabei sind qualitative von monetären Spreizungsansätzen zu unterscheiden.

Eine qualitative Grätsche zwischen den Arbeitsverhältnissen und -bedingungen kann durchaus als ein Pendant zur Lohnspreizung gelten, da die Spreizung der Arbeitsverhältnisse und -bedingungen regelmäßig mit einer Spreizung der Einkommensverhältnisse verkoppelt ist. Auf diesem Gebiet hat eine gewisse Polarisierung stattgefungen. Prekäre Arbeitsverhältnisse mit instabilen Arbeitseinkommen grenzen sich zunehmend schärfer von Normalarbeitsverhältnissen mit Vollzeitbeschäftigung, sozialversicherungsrechtlicher Absicherung und stabilen Erwerbseinkommen ab. Zum Spektrum von Arbeitnehmern, die in prekären Arbeitsverhältnissen stehen, gehören z.B. geringfügig Beschäftigte, Kurzarbeiter, ABM-Beschäftigte, befristet Beschäftigte, aber auch Teilzeitbeschäftigte, da auch längere Phasen von sozialversicherungspflichtiger Teilzeitarbeit finanzielle Unsicherheit in der Erwerbsbiographie stiften.

Die unterschiedlichen Norm- und Nicht-Normarbeitsverhältnisse haben sich wie folgt entwickelt bzw. auseinanderdividiert:

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Schaubild 3: Abhängig Beschäftigte in Norm- und Nichtarbeitsverhältnissen in Westdeutschland 1970-1995 (schematische Darstellung)

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Vor etwa zwei Jahrzehnten arbeiteten noch über 80% aller abhängig Beschäftigten in Vollzeit- bzw. Normalarbeitsverhältnissen, heute nur noch etwa 68%. Diese Zahlen veranschaulichen den Polarisierungstrend oder, wenn man so will, die Spreizung in den Beschäftigungsverhältnissen.

Aber auch die Lohn- bzw. Einkommenstruktur der Beschäftigten sollte durchaus als schon gespreizter wahrgenommen werden wie häufig angenommen. Die monetären Spreizungsansätze bewegen sich nämlich auf unterschiedlichen Dimensionen.

Die vieldiskutierte Bescheidenheit der Tarifpolitik hat seit Anfang der neunziger Jahre den vorhandenen Verteilungsspielraum (d.h. die Inflationsrate plus Produktivitätsfortschritt) nicht ausgeschöpft. Im Rahmen einer Lohn-Gewinn-Spreizung stabilisierte bzw. verbesserte diese Lohnzurückhaltung die Ertragssituation der Unternehmen.

Auch innerhalb der Normal- bzw. Vollzeitarbeitsverhältnisse haben sich Varianten von monetärer Spreizung der Arbeitseinkommen entwickelt. Wird der empirische Blick über die bereits vorgestellte Lohnstrukturstatistik (vgl. 1.2.1) hinaus auf die Meldungen der Arbeitgeber zum Effektiveinkommen an die Sozialversicherungsträger gerichtet, ergibt sich zugespitzt folgender Trend: Die Einkommensmitte ist ausgedünnt, während die Einkommensränder unten und oben gestärkt sind.

Die Spreizungen haben im Verlauf der Zeit zugenommen und zeigen, daß die deutsche Einkommenspyramide offenbar häppchenweise umgebaut wird:

  • Die Gruppe der Vollzeitbeschäftigten mit einem Arbeitseinkommen bis zu 75% des Durchschnitts, die 1975 noch einen Anteil von rund 30% ausmachte, stellt 1995 schon knapp 36%.
  • Die Gruppe des Arbeitsmittelstandes mit Einkommen zwischen 75 und 125% des Durchschnitts ist von gut 56% auf etwa 48% gesunken.
  • Die Besetzung der Gruppe mit oberen Einkommen über 125% des Durchschnitts hat von 14 auf 16% zugenommen.
  • Verständigt man sich - auch in Anlehnung an die Europäische Kommission - auf eine Armutsgrenze in der Arbeit von unter 50% des durchschnittlichen Vollzeitarbeitseinkommens, müssen 1995 fast 11% als sogenannte „working poor" bezeichnet werden. Die Einkommen dieser Gruppe liegen nicht nur knapp unter dieser Armutsmarge, sondern in einem weiteren Bereich bis hin zu unterhalb von 20% des Durchschnittseinkommens.

Diese Entwicklungslinien lassen die Schlußfolgerung zu, daß das deutsche Beschäftigungsproblem nicht allein über die Lohnkosten gelöst werden kann. Ein noch weiter aufgefächertes Lohngitter würde die Einkommensprobleme der privaten Haushalte verschärfen und noch mehr Beschäftigte in die Nähe oder endgültig unter die Armutsgrenze bringen. Die sozialen Verteilungsprobleme wären eklatant.

Risikoreich sind aber nicht nur die sozialen, sondern auch die ökonomischen Verteilungsprobleme. Die Einkommensspreizung bleibt nicht ohne gesamtwirtschaftliche Rückwirkungen. Auch sie dürfen nicht ausgeblendet werden.

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Produktivitäts-, Preis- und Einkommensentwicklung 1991-1998 Bild vergrößern

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Produktivitäts-, Preis- und Einkommensentwicklung 1991-1998 Bild vergrößern

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Das verfügbare Volkseinkommen bei den privaten Haushalten liefert den Lohnspreizungsgegnern ebenfalls Schützenhilfe. Die Stärkung der Gewinne und Vermögenseinkommen, die netto durch Steuerentlastungen noch deutlicher ausfällt als durch Lohnzurückhaltung und Lohnspreizung auf der Bruttoebene, könnte die Binnennachfrage auszehren. Die Gewinn- und Vermögenseinkommen machten vor 20 Jahren nur etwa 23% am Volkseinkommen aus, während es heute 33% sind. Der Anteil der Nettolohnsumme ist dagegen von 52% auf 42% gesunken. Im Absacken der Nettolohnquote liegt die Gefahr einer geschwächten Massenkaufkraft. Sinkende Nachfrage produziert wiederum Arbeitslosigkeit. Sie ist vor diesem Hintergrund sozusagen hausgemacht, da der Binnenmarkt durch Lohn- bzw. Einkommensspreizung nicht mehr anspringen kann und die öffentlichen Haushalte aufgrund geringerer Steuereinnahme einen Sparkurs fahren, zugleich aber Mehrausgaben im Sozialbudget bewältigen müssen.

Diese Argumentation gegen Lohnspreizung läßt demnach den Schluß zu, daß die Forderung nach noch weiterer Spreizung der Arbeitseinkommen in Deutschland obsolet ist, da sie in der Vergangenheit bereits ohne nennenswerten beschäftigungspolitischen Erfolg durchgeführt wurde. Sie läuft eher in die Gefahr, sich in ihr Gegegenteil zu verkehren: nämlich in ansteigender Arbeitslosigkeit.

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1.3 Pattsituation in der Auseinandersetzung über ein deutsches Lohnstrukturszenario

Die deutsche Lohnstruktur wird als zu gestaucht oder schon als zu gespreizt bewertet. Handelt es sich jeweils um interessengeleitete Dramatisierungen der deutschen Situation oder sind die empirischen Analysen des einen oder anderen Lagers schlichtweg falsch? Falsch scheinen sie wohl beide nicht zu sein, trotzdem ist eine stimmige Antwort auf die Lohnstrukturfrage anscheinend nicht so einfach.

Für die empirisch begründeten Antworten beider Schattierung spricht etwas:

  • Die weitere Spreizung der Löhne und Gehälter kann durchaus eine Falle sein, wenn die Binnennachfrage stagnieren oder sogar sinken würde. Das Gespenst weiter ansteigender Arbeitslosigkeit taucht am Horizont auf. Dagegen verspricht eine komprimiertere Lohnstruktur nicht nur mehr soziale Gerechtigkeit, sondern auch mehr Massenkaufkraft und staatliche Handlungsspielräume, die dem Abbau der Arbeitslosigkeit und verbesserten Sozialleistungen zugute kommen würden.
  • Ebensogut kann aber begründet werden, daß nur erst genügend Mut bewiesen werden müßte, die Spreizung der Arbeitseinkommen weniger zaghaft, sondern noch energischer zu betreiben als es bisher der Fall ist. Erst danach wird der beschäftigungspolitische Erfolg geerntet und die Nachfrage springt wieder an. Die Übergangszeit müßte natürlich sozialverträglich gestaltet werden, die zu erwartende Dividende aus der Lohnspreizung wäre aber beachtlich.

Ist also der soziale Preis, der in der Übergangszeit gezahlt werden müßte, gerechtfertigt oder zu hoch, da die ökonomischen und beschäftigungspolitischen Erfolgsaussichten scheinbar doch unklar sind? Eine statistisch geführte Debatte kann darauf offenbar nicht genügend beweiskräftige Antworten geben. Sie erlaubt nicht, für

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Deutschland ein bestimmtes Konzept zu favorisieren oder endgültig abzulehen. Hinter den Daten, Analysen und ihren Interpretationen stecken zu viele Prämissen und gesellschaftspolitische Gestaltungsvorstellungen, um diese Entscheidung mit letzter Sicherheit treffen zu können.

Daher wird im folgenden hinter die Kulissen von Ländern geschaut, die ungleiche Lohnstrukturen und Einkommensverhältnisse, aber durchaus ansehnliche Beschäftigungsraten aufweisen. Zu ihnen gehören die USA und Großbritannien. Die verschiedenen Szenarien für Deutschland müssen dann später erneut einem Eignungstest unterzogen werden.


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