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TEILDOKUMENT:


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Reformprojekte




2.1 Verbesserung der Innovationsfähigkeit und Stärkung der Humanressourcen

Die Kommission ging von der These aus, daß auch in Zukunft für Beschäftigung und Lebensstandard in Deutschland die internationale Wettbewerbsfähigkeit des technologisch hochentwickelten Bereichs der Volkswirtschaft von entscheidender Bedeutung sein wird. Dementsprechend rückte sie die Frage in das Zentrum, welche betrieblichen und systemischen Bedingungen als Stärken erhalten und als Schwächen behoben werden müssen, wenn die Bundesrepublik ihre bis dato starke Position auf dem Weltmarkt halten und das bedrohlich angewachsene Ausmaß an Unterbeschäftigung verringern will. Die Kommission konzentrierte sich auf den Zusammenhang von Innovation, Wachstum und Humanressourcen, unter Einschluß infrastruktureller Bedingungen (insbesondere der öffentlichen Verwaltung).

Das Modell Deutschland bestand in den letzten Jahrzehnten in diesem Bereich aus vier eng miteinander verbundenen Säulen: Den gewachsenen technologischen Stärken in der Wirtschaft (z.B. Chemie, Fahrzeuge, Maschinenbau), einem dezentralen Wissenschaftssystem, einem breiten Stamm von Facharbeitern und einem viel beachteten dualen Ausbildungssystem.

Dieser Bereich der Volkswirtschaft wird durch eine ganze Reihe von Entwicklungen in Frage gestellt, die man im Begriff „neuer Typus von Strukturwandel" zusammenfassen kann. Gemeint sind damit vor allem drei Trends:

  • Die seit Jahrzehnten beobachtbare Verlagerung von Wertschöpfung und Beschäftigung von den Produktions- zu den Dienstleistungstätigkeiten setzt sich nicht nur beschleunigt fort, sondern erfährt durch das zunehmende Gewicht von Informations- und Kommunikationsdiensten neue Schwerpunkte. Die fortschreitende Informatisierung führt zudem dazu, daß die Verschränkung von (industriellen) Produktions- mit (industriebezogenen) Dienstleistungsprozessen immer enger wird.
  • Eine zweite Entwicklung besteht darin, daß die bislang dominierenden kontinuierlichen technologischen Verbesserungen eine starke Beschleunigung erfahren und gleichzeitig die Unternehmen wachsend über

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    Fähigkeiten zu Basis-Innovationen verfügen müssen. Verbunden ist dieser Trend mit einer zunehmenden Bedeutung von neuen Formen der kooperativen und interdisziplinären Wissensgewinnung.

  • Die dritte Tendenz wird durch jene neue Qualität von Wirtschaftsaktivitäten definiert, die unter dem Schlagwort „Globalisierung" in der wissenschaftlichen und politischen Öffentlichkeit diskutiert wird. Aktuelle Globalisierungsprozesse zeichnen sich dadurch aus, daß im Prinzip alle Stufen der Wertschöpfungskette - von der mechanischen Fertigung bis hin zu Forschung und Entwicklung - nach Kriterien der Nutzenoptimierung bzw. der Wahrnehmung von Wettbewerbsvorteilen quer über die Welt plaziert werden können.

Vor dem Hintergrund dieser strukturellen Entwicklungen kommt es aus Sicht der Kommission vornehmlich in drei Bereichen zu Friktionen, mit deren Lösung sie sich auseinandergesetzt hat: die Blockaden im Innovationssystem, die gewandelten Anforderungen an Qualifikation und Ausbildung sowie die Dienstleistungserbringung durch die öffentliche Hand.

Der High-Tech-Bereich der deutschen Volkswirtschaft ist einem besonders starken internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Die Kommission geht davon aus, daß die Bundesrepublik Deutschland in diesem Wettbewerb am besten dadurch bestehen kann, daß sie auch in Zukunft ein Profil ihres Innovationssystems anstrebt, das sich deutlich von dem anderer Länder unterscheidet. Die Vorstellung, die Strukturen der Bundesrepublik Deutschland müßten sich an diejenigen anderer Wettbewerbsländer angleichen, hält sie dagegen für eine Sackgasse. Die deutsche Wirtschaft muß in ihren angestammten Märkten auf ihren vorhandenen Stärken aufbauen und sich mit Spitzentechnologie dynamisch weiterentwickeln. Hinzu kommt die Erschließung neuer Märkte, z.B. in Bereichen der Informationstechnik, Multimedia und Biotechnologie. Aus der Auseinandersetzung mit den Stärken/Schwächen des deutschen Innovationssystems folgert die Kommission, daß folgende Ansatzpunkte strategisch entscheidend sind, um die Entwicklungsblockaden des Innovationssystems abzubauen:

  • statt bedingungsloser Aufholstrategien für neue Technologien sollte ein Konzept schnellerer Kopplung von Zukunftstechnologien mit den bisherigen technisch-wirtschaftlichen Stärken verfolgt werden,
  • eine bessere Nutzung der internationalen Wissensproduktion,
  • Erschließung neuer Märkte (insbesondere sogenannter Lead-Märkte) durch frühe und zukunftsorientierte Pilotvorhaben und die Setzung von Rahmenbedingungen,

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  • Strukturänderungen der Forschungslandschaft (Transdisziplinarität, Forschungsmanagement, Forschungsförderung) sowie
  • die internationale Öffnung der Forschungs- und Technologiepolitik (Unterstützung des internationalen Engagements von Forschungseinrichtungen, länderübergreifende Projekte, Mobilität von Studenten und Wissenschaftlern).

Der zweite wesentliche Ansatzpunkt ist das Bildungs- und Ausbildungssystem. Das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem hat in der Vergangenheit ganz beträchtliche Adaptionsleistungen an neue Bedarfs- und Nachfragekonstellationen vollzogen, und zwar sowohl in quantitativer Hinsicht, etwa durch die starke Expansion von gymnasialer und akademischer Bildung seit Anfang/Mitte der 60er Jahre, als auch in qualitativer Hinsicht, wie etwa durch die inhaltliche Reform der Berufsbilder sowie die Ausdehnung und Differenzierung der beruflichen Weiterbildung. Eine im internationalen Vergleich überdurchschnittlich gute Ausstattung mit Humankapital insbesondere im mittleren Qualifikationsbereich wurde denn auch bisher zu den großen Wettbewerbsvorteilen der Bundesrepublik gerechnet. Die Kommission geht davon aus, daß die aktuelle Krise des Berufsbildungssystems ein Ausdruck der Überforderung durch das Ausmaß des gegenwärtigen Strukturwandels ist. Eine berufsbezogene Produktionsverfassung wie die deutsche hat ihre Stärken vor allem im Typus der kontinuierlichen Qualitätsverbesserung von Produkten, gerät aber gegenüber einem „organisationsbezogenen" Produktionsmodell gerade bei der Anpassung an Marktkonstellationen ins Hintertreffen, welche die Beschleunigung der Produktzyklen und radikale Innovationen verlangen.

Die Kommission setzt auf Transformation, nicht auf Auflösung des dualen Berufsbildungssystems. Transformation nicht nur, weil man ein Ausbildungssystem nicht von heute auf morgen umstrukturieren kann, sondern vor allem deswegen, weil es Sinn macht, die Stärken des dualen Systems in einer neuen Form der Institutionalisierung zu wahren und die Schwächen zu beseitigen. Die Stärken verbinden sich mit der institutionell engen Kopplung von Lernen und Arbeiten, Ausbildung und betrieblicher Praxis und heben sich damit gegenüber dem zentralen Schwachpunkt der meisten schulisch organisierten Ausbildungssysteme in Europa und Nordamerika positiv ab. Die Stärken des dualen Ausbildungssystems, die es zu wahren gilt, liegen in einem relativ ganzheitlichen beruflichen Sozialisationsmodus, einer schnellen Umsetzung von neuem Qualifikationsbedarf in Ausbildungsprozesse, einem günstigen Allokationsmechanismus im Übergang

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von Ausbildung in Beschäftigung und einem volkswirtschaftlich wie (im Endeffekt) einzelwirtschaftlich kostengünstigen Finanzierungsmodus.

Um diese Stärken nicht preiszugeben und zugleich die mit Blick auf Strukturwandel und Innovationsdynamik bestehenden Schwächen zu beheben, schlägt die Kommission eine Transformation des Ausbildungssystems in folgende Richtung vor:

  • Lockerung des Berufsprinzips zugunsten breiterer Qualifikationsprofile.
  • Neuordnung der schulischen und beruflichen Bildung oberhalb der Sekundarstufe I (10. Klasse) mit dem Ziel flexibler Kombinationen von allgemein- und berufsbildenden Prozessen und damit einer stärkeren Durchlässigkeit der dualen Aus- und Fortbildungsgänge zu den wissenschaftlichen Studiengängen in Fachhochschulen und Universitäten.
  • Abkehr vom einzelbetrieblichen Finanzierungsmodus.
  • Aufgrund der steigenden Bedeutung der Weiterqualifizierung für den Erhalt der beruflichen Mobilität wird schließlich ein neuer und stabiler institutioneller Rahmen (Transparenz über Qualifizierungsangebote und -träger sowie deren Nachhaltigkeit und Qualitätssicherung) und eine entsprechende Finanzierung von Weiterbildung nötig. Die Kommission schlägt deshalb individuelle Weiterbildungsanrechte (in Form von Gutscheinen) vor, die über Weiterbildungsfonds á la Frankreich oder Steuerabzüge finanzierbar wären (und damit die Sozialversicherung nicht belasten).

Der dritte Ansatz besteht für die Kommission in der Entwicklung eines neuen Konzepts eines innovativen Staates in seiner Dienstleistungsfunktion. In allen modernen Marktwirtschaften spielen nichtmarktliche Institutionen eine unerläßliche Rolle in der Entwicklung ökonomischer Leistungsfähigkeit, sozialer Wohlfahrt und gesellschaftlicher Evolution. Es sind insbesondere auch der Staat und der öffentliche Sektor, die weitreichende Ausstrahleffekte auf die Gesamtwirtschaft haben. Mit seinen zwei zentralen Funktionen - der Erbringung öffentlicher Dienstleistungen und der Regulation marktlicher wie nichtmarktlicher Beziehungen - trägt der Staat auf der Basis seiner Eigeneffizienz ganz wesentlich zur jeweiligen Effektivität gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Konzepte und zur Blockade oder Innovation in der Evolution von Gesellschaft und Wirtschaft bei.

Der Verwaltungsapparat in der west- und nordeuropäischen Staatstradition ist hoch vertikal integriert, indem er die Funktionen der Programmierung, Durchführung und Finanzierung verwaltungsmäßig bündelt. Er weist eine Fülle von ganz unterschiedlichen Aufgaben auf, die neben der

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klassischen Ordnungsverwaltung vielfältige Funktionen der Wirtschaftsverwaltung, der Sozialstaatlichkeit und der verstaatlichten Infrastrukturaufgaben, also eine breite Palette von Produkten und Dienstleistungen betreffen. Dabei wird die Verwaltung von konditionalen Rechtsnormen und nach universalistischen Standards gesteuert. Dieses klassische Verwaltungsmodell hat, nach weitgehend übereinstimmendem Urteil, die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit inzwischen überschritten.

Als Lösungskonzept verwirft die Kommission das derzeit vieldiskutierte Modell des „schlanken Staates". Sie betrachtet es als ein fehlorientiertes und irreführendes Leitbild, das häufig als Rechtfertigung für Personalabbau und Leistungseinschränkung mißbraucht wird. Stattdessen schlägt sie ein Modell der Modernisierung staatlicher Dienstleistung vor, das sich auf zukunftsweisende internationale Ansätze und Erfahrungen stützt. Im einzelnen macht sie Vorschläge, die auf den Wandel folgender Kompetenzen zielen:

  • von der Produzentenrolle zur Gewährleistungsfunktion,
  • Entwicklung strategischer Managementkompetenz,
  • nachhaltige und zielorientierte Ressourcensteuerung,
  • bereichs- und hierarchieübergreifendes Re-engeneering sowie
  • eine Institutionalisierung des Modernisierungsprozesses.

Mit diesen Vorschlägen folgt die Kommission der Überzeugung, daß die eigentlichen Schwachstellen der öffentlichen Hand in Deutschland - soweit es ihre Dienstleistungsaufgaben betrifft - in ihrer vergleichsweise schwachen Erneuerungsfähigkeit, mangelnden Professionalität und geringen Kundenorientierung liegen, woraus weitreichende Auswirkungen auf das gesamte Leistungs- und Kostengeschehen in Wirtschaft und Gesellschaft entstehen.

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2.2 Verbesserte Beschäftigungsmöglichkeiten für Niedrigqualifizierte

Bezogen auf die Gesamtzahl der Personen im erwerbsfähigen Alter (also der 15- bis 64jährigen) weist Deutschland eine deutlich niedrigere Erwerbstätigenquote auf als beispielsweise die Vereinigten Staaten, Japan, die Schweiz oder auch Norwegen, Schweden und Dänemark. Allerdings kann dieser Unterschied weder einer generell zu hohen Abgabenbelastung noch einer generell zu geringen internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft zugeschrieben werden. Im internationalen Vergleich gibt

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es keinen statistischen Zusammenhang zwischen Beschäftigungsniveau und Abgabenlast, und in den Wirtschaftszweigen, die in irgendeiner Weise dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, ist das deutsche Beschäftigungsniveau sogar deutlich höher als das der zitierten Vergleichsländer.

Das heißt nicht, daß es in den international exponierten Sektoren (Industrie, Landwirtschaft und produktionsbezogene Dienstleistungen) keinen Grund zur Sorge gäbe: Die Globalisierung der Kapitalmärkte und die Internationalisierung der Märkte für Waren und Dienstleistungen haben den Wettbewerb zwischen den Unternehmen und damit auch zwischen den Unternehmensstandorten wesentlich verschärft, und diesem Wettbewerb sind in Deutschland mehr Arbeitnehmer ausgesetzt als anderswo. Hier sind insbesondere in den Jahren seit 1992 zahlreiche Arbeitsplätze verlorengegangen.

Um sie zurückzugewinnen oder die bestehenden Arbeitsplätze zu erhalten, werden weiterhin große Anstrengungen zur Steigerung der Innovationsfähigkeit und der Produktivität der Unternehmen erforderlich sein. Für die Arbeitnehmer bedeutet dies noch weiter steigende Anforderungen an die berufliche Qualifikation und an die Flexibilität des Arbeitseinsatzes. Es ist damit zu rechnen, daß in den Wirtschaftszweigen, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, die Beschäftigungschancen für Arbeitnehmer mit geringer beruflicher Qualifikation weiter abnehmen werden. Die Kommission geht deshalb davon aus, daß auch dann, wenn die qualifizierten Arbeitsplätze in den international konkurrierenden Wirtschaftszweigen erfolgreich verteidigt werden können, weniger qualifizierte oder weniger leistungsfähige Arbeiter und Angestellte hier kaum noch Arbeit finden werden. In den Bereichen dagegen, die dem internationalen Wettbewerb kaum ausgesetzt sind (dazu gehören etwa Arbeitsplätze im Handel, in Gaststätten und Hotels und vor allem im Bildungs- und Gesundheitswesen), zeigt der internationale Vergleich, daß das Beschäftigungsniveau in Deutschland im Vergleich zu den USA ungewöhnlich niedrig ist. Für diese Diskrepanz gibt es zwei Gründe:

Im Bereich der hochqualifizierten Tätigkeiten, vor allem also im Bildungs- und Gesundheitswesen, stagniert die Beschäftigung. Hier werden Arbeitsplätze in Deutschland zum überwiegenden Teil aus dem allgemeinen Steueraufkommen bzw. durch vom Staat zu verantwortende Sozialabgaben finanziert. Statt um weitere Expansion, die dem steigenden Bedarf entsprechen würde, geht es der Politik hier schon seit den 70er Jahren in erster Linie um Personaleinsparung und Kostendämpfung. Daran könnte

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sich nur etwas ändern, wenn derartige Leistungen in weit höherem Maße als heute durch die Gebühren und Eigenbeiträge zahlungskräftiger Nutzer finanziert würden. Diese Frage ist jedoch von der Kommission nicht näher untersucht worden.

Sie hat sich statt dessen auf die Beschäftigungsmöglichkeiten für weniger qualifizierte Arbeitskräfte konzentriert, deren Ausweitung derzeit durch die besondere Struktur des deutschen Sozialstaats verhindert wird. Anders als in Schweden und anderen skandinavischen Sozialstaaten sind die öffentlich finanzierten sozialen Dienstleistungen wenig entwickelt, weil die familienbezogenen Dienstleistungen zum großen Teil von den Müttern, Ehefrauen und Töchtern des alleinverdienenden Ernährers der Familie geleistet werden; und anders als in den Vereinigten Staaten gibt es wegen der sozialstaatlichen Gewährleistung des Existenzminimums und der hohen Lohnnebenkosten in Deutschland kaum noch Arbeitsplätze im privaten Sektor, auf denen einfache Arbeit bei marktgerecht niedrigen Arbeitskosten geleistet werden kann.

Die Kommission ist zu der Überzeugung gekommen, daß unter den heutigen Bedingungen der schwedische Weg einer massiven Ausweitung der Beschäftigung im öffentlichen Sektor für Deutschland nicht mehr in Frage kommt. Andererseits wäre aber auch ein Niedriglohn-Arbeitsmarkt im privaten Sektor mit Einkommen unterhalb des Existenzminimums, wie er in den Vereinigten Staaten existiert, weder normativ akzeptabel noch politisch durchsetzbar. Vertretbar wären jedoch Lösungen, welche die Hindernisse beseitigten, die der deutsche Sozialstaat der Beschäftigung von Personen mit niedriger Qualifikation auch bei Löhnen oberhalb des Existenzminimums entgegensetzt.

Die Kommission hat sich davon überzeugt, daß die rundum beste Lösung zur Sicherung des Existenzminimums ohne Inkaufnahme beschäftigungsschädlicher Nebenwirkungen die Einführung des von Joachim Mitschke vorgeschlagenen „Bürgergeldes" wäre. Dieses würde neben der gegenwärtigen Sozialhilfe eine ganze Reihe anderer, steuerfinanzierter und einkommensbezogener Sozialleistungen zusammenfassen und durch eine einzige, auf den Bedarf des ganzen Haushalts bezogene Geldleistung ersetzen. Für nicht erwerbstätige Personen ohne eigenes Einkommen entspräche dies dem Konzept einer einheitlichen, steuerfinanzierten Grundsicherung. Aus beschäftigungspolitischer Sicht liegt der entscheidende Vorteil jedoch in der - an der Logik der „negativen Einkommensteuer" orientierten - Art der Anrechnung des eigenen Erwerbseinkommens. Während bisher die steuer-

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finanzierten Sozialleistungen entweder - entsprechend ihrer „Subsidiarität" - in der Höhe des Zuverdienstes gekürzt oder nur bis zu einer festen Einkommensgrenze bezahlt werden, würde beim Bürgergeld-Modell das eigene Einkommen lediglich mit einem festen Anrechnungssatz (etwa von 50%) „besteuert". Der Anreiz zur Arbeitsaufnahme und das Interesse an beruflichem Aufstieg - bei einem flankierenden Angebot an staatlichen und betrieblichen Qualifizierungsangeboten - blieben also in jeder Phase erhalten, und zugleich könnten die vom Arbeitgeber zu tragenden Arbeitskosten deutlich gesenkt werden, ohne daß das Einkommen der Arbeitnehmer unter das Existenzminimum gedrückt würde. Allerdings wäre der politische Veränderungsaufwand bei dieser Lösung sehr hoch, da gleichzeitig in das Steuerrecht, das Sozialrecht, und in die Tarifstruktur eingegriffen werden müßte.

In dieser Hinsicht wäre die zweite von der Kommission in Betracht gezogene Lösung, die sich auf die Subventionierung von gering entlohnten Beschäftigungsverhältnissen beschränkt, leichter zu verwirklichen. Dieser Vorschlag verlangt keine durchgreifende Reform des Sozialrechts, und er bindet die Förderung auch nicht an die sozialrechtliche Bedürftigkeit des Arbeitnehmer-Haushalts, sondern ausschließlich an die Höhe des vom Arbeitgeber bezahlten (Stunden-)Lohns, der in einem gesetzlich zu bestimmenden Bereich (beispielsweise bei Stundenlöhnen unter 18 DM) durch einen degressiven Zuschuß aus Steuermitteln aufgestockt würde. Besonders einfach zu verwirklichen wäre der Vorschlag, wenn dieser Zuschuß in Form einer degressiven Entlastung von den Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung gewährt würde - etwa in der Weise, daß bei Stundenlöhnen unter 10 DM die Beiträge vollständig und bei Löhnen zwischen 10 und 18 DM in abnehmendem Maße vom Finanzamt an die Sozialkassen überwiesen würden. Dies würde das sonstige Sozialrecht, das Steuerrecht und die geltenden Lohntarife zunächst unberührt lassen. Die aktuelle Diskussion über eine Entlastung der Sozialkassen von „versicherungsfremden Leistungen" könnte zu diesem Zweck genutzt werden, wenn der aus Steuermitteln aufzubringende Ersatzbetrag nicht für die geringfügige lineare Kürzung aller Beiträge, sondern für eine sehr viel stärkere Entlastung gering entlohnter Arbeitsverhältnisse eingesetzt würde. Hierdurch ließen sich die Arbeitskosten für einfache Tätigkeiten so deutlich vermindern, daß es für Unternehmen lohnend wäre, neue Märkte für einfache Dienstleistungen zu erschließen und auf diese Weise neue Arbeitsplätze in beachtlicher Größenordnung zu schaffen.

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Hinter beiden Vorschlägen steht ein neues Konzept gerechtigkeitsorientierter Verteilungspolitik. Die Kommission erwartet, daß sich innerhalb der gegebenen Struktur des Arbeitsmarktes und des deutschen Sozialsystems die Ausgrenzung von Personen mit geringer beruflicher Qualifikation aus dem Erwerbsleben auch bei stärkerem Wirtschaftswachstum fortsetzen wird. Weil aber die soziale und politische Integration gerade dieser Personen in besonderer Weise von der Teilhabe an der Arbeitswelt abhängt, liegt in der absehbaren Entwicklung ein erhebliches Gefahrenpotential. Wenn also das Angebot von regulären Arbeitsplätzen immer weniger ausreicht, um allen Arbeitswilligen - und insbesondere allen Jugendlichen - eine Chance zu bieten, dann darf sich nach Meinung der Kommission die Sozialpolitik nicht länger darauf beschränken, den Ausgesperrten ein arbeitsloses Einkommen oberhalb des Existenzminimums zu sichern. Statt dessen geht es darum, das Angebot von Einfach-Arbeitsplätzen, auf denen gesellschaftlich nützliche und anerkannte Arbeit geleistet werden kann, dauerhaft zu erhöhen. Unter den gegebenen Umständen müssen dies in erster Linie Arbeitsplätze im privaten Sektor sein. Wenn die dort erzielbaren marktgerechten Einkommen unter sozialen Gesichtspunkten unzureichend erscheinen, dann muß eine auf Integration gerichtete Verteilungspolitik diese Einkommen aufbessern, statt die betreffenden Arbeitsplätze zu vernichten.

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2.3 Wandel der Familie und Beschäftigungskrise als Herausforderungen an eine Politik sozialer Integration

Die gegenwärtigen Probleme deutscher Gesellschaftspolitik können im Wohlfahrtsdreieck von Markt, Staat und Familie diskutiert werden. Sie lassen sich nur dann verstehen, wenn man sie als die Folgen von Veränderungen gegenüber einem in sich stimmigen traditionellen deutschen Wohlfahrtsmodell begreift, das in den Reformen der 50er Jahre seine heutige Gestalt gefunden hat, in seinen Grundzügen aber durchaus noch den gesellschaftspolitischen Leitvorstellungen der Bismarck-Zeit entspricht. In äußerster Vereinfachung lassen sich diese Leitvorstellungen etwa folgendermaßen kennzeichnen:

  • Auf dem Arbeitsmarkt dominiert das „Normalarbeitsverhältnis" des männlichen Facharbeiters und im Laufe dieses Jahrhunderts des qualifizierten Angestellten im Handel sowie im Banken- und Versicherungsgewerbe. Arbeiter und Angestellte erreichen nach einer verhältnismä-

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    ßig kurzen Ausbildungszeit einen sicheren Vollzeitarbeitsplatz, auf dem sie dank ihrer guten beruflichen Qualifikation und unterstützt durch starke Gewerkschaften, gesetzliche Mitbestimmung und ein hochentwickeltes Arbeitsrecht gute, „familiengerechte" Löhne und hohe Arbeitsplatzsicherheit bis zur Rente erwarten können. Die Frauenerwerbstätigkeit spielt eine vergleichsweise geringe Rolle und konzentriert sich auf die Periode vor der Eheschließung.

  • Auch die sozialen Sicherungssysteme setzen das Normal-Arbeitsverhältnis des vollzeitarbeitenden, alleinverdienenden männlichen Arbeitnehmers voraus, von dessen Einkommen auch die anderen Mitglieder der Kernfamilie abhängig sind. Dementsprechend konzentriert sich die Sozialpolitik im deutschen Modell auf die Absicherung der Einkommensrisiken des Normalarbeitnehmers und seiner (ehelichen) Familie im Falle von Invalidität, Krankheit, Erwerbslosigkeit, Alter und Tod des Ernährers. Die Absicherung erfolgt in erster Linie durch gesetzlich normierte und durch Abgaben auf den Arbeitslohn finanzierte Versicherungskassen, deren Leistungen (Transfers und Dienste) auch den Bedarf der Familienangehörigen abdecken.
  • Haushalt und Familie, hier vor allem die weiblichen Familienmitglieder, erbringen subsidiär in Eigenarbeit gesellschaftlich notwendige Leistungen der Regeneration, Betreuung, Erziehung und Versorgung. Ehe und Familie werden dabei als eine über die Zeit stabile, auf Vertrauen und Gegenseitigkeit beruhende Wirtschafts- und Solidargemeinschaft betrachtet, die Ressourcen teilt und anfallende Probleme gemeinsam bewältigt.

Normalarbeitsverhältnis und Normalehe sind für individuelles und kollektives Handeln bis weit in die 70er Jahre leitend gewesen. Das Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit ermöglichte es der Mehrheit der Bundesbürger, nach diesen Normen zu leben. Die Stabilität und der Wohlstand, die das Normalarbeitsverhältnis und die Normalehe boten, konnten lange Zeit die Einschränkungen verdecken, die die geschlechterspezifische Arbeitsteilung insbesondere Frauen auferlegte.

Die gegenwärtigen Probleme der Gesellschaftspolitik erklären sich daraus, daß sich seit den 70er Jahren die beiden zentralen Parameter des deutschen Sozialmodells - stabile Beschäftigung, stabile Ehe und Familie - gewandelt haben. Dadurch verliert das traditionelle Wohlfahrtsdreieck insgesamt seine innere Stimmigkeit, Funktionsfähigkeit und Akzeptanz. Die Veränderungen können knapp beschrieben werden.

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Auch wenn der Wandel der Familienstruktur weniger radikal ist und langsamer vonstatten geht als in anderen westlichen Länder, lassen sich doch einige vergleichbare Trends ausmachen. In dem Maße, wie sich Erwerbs- und Einkommenschancen ausdifferenzieren, sinkt auch in der Bundesrepublik der Anteil der Männer, die auf der Grundlage eines sicheren Vollzeit-Arbeitsplatzes überhaupt in der Lage wären, die Rolle des alleinverdienenden Ernährers in der Familie zu übernehmen. Gleichzeitig ist die traditionelle familiale Arbeitsteilung immer stärker in Konflikt geraten mit dem wachsenden Wunsch der Frauen auf gleichberechtigte Teilhabe an den Chancen der Selbstverwirklichung und sozialen Anerkennung, die in unserer Gesellschaft an die Erwerbsarbeit, das Erwerbseinkommen und die berufliche Identität geknüpft sind. Viele Frauen - und auch Männer - schieben heute Heirat und Familiengründung auf, manche verzichten auf beides, die Kinderzahlen sinken, Trennung und Scheidung nehmen zu, wodurch die Zahl der Einelternfamilien steigt. Die kontinuierlich gestiegene Frauen- und insbesondere Müttererwerbstätigkeit ist vor allem auf einen Anstieg der Teilzeitarbeit zurückzuführen. Das weibliche Arbeitsvolumen hat sich dagegen kaum ausgeweitet. Anders als in den USA oder den skandinavischen Ländern haben sich auf dem deutschen Arbeitsmarkt existenzsichernde Erwerbsmöglichkeiten (Vollzeitbeschäftigung und lange Teilzeit) für Frauen nicht in dem Maße erhöht, wie die frauenpolitische Forderung nach ökonomischer Unabhängigkeit erwarten ließe. Die Förderung der Teilzeitarbeit hat bislang vor allem dazu beigetragen, die „stille Reserve" der bisher nicht erwerbstätigen verheirateten Frauen abzubauen. Dies ist ein Grund, weshalb auch bei steigender Beschäftigung von Frauen die registrierte Arbeitslosigkeit kaum zurückgeht.

Demgegenüber hatte die DDR in ihrer 40jährigen Familien- und Frauenpolitik ein Gleichberechtigungsmodell favorisiert, das auf verallgemeinerter, Frauen und Männer gleichermaßen einbindender Erwerbsarbeit basierte. Bis heute ist die Vollzeitbeschäftigung von Frauen, insbesondere Müttern, in Ostdeutschland deutlich höher als in Westdeutschland und ihr Beitrag zum Haushaltseinkommen nicht wesentlich geringer als der der ostdeutschen Männer. Die Erwerbsorientierung der ostdeutschen Frauen ist nahezu ungebrochen an Vollerwerbstätigkeit geknüpft und weit weniger heterogen als die der westdeutschen Frauen. Gleichwohl differenzieren sich in Ost- und Westdeutschland die Erwerbswünsche der Frauen. Sie orientieren sich zu einem nicht unerheblichen Teil an dem traditionell männlichen Muster der qualifizierten Vollzeit-Erwerbstätigkeit mit reali-

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stischen Aufstiegs- und Karrierechancen. Andererseits haben in unserer Gesellschaft auch die traditionell weiblichen Leitbilder noch stark prägende Kraft, und viele Frauen sind deshalb auch keineswegs bereit, ihre Mutterrolle den Anforderungen des Arbeitsmarktes unterzuordnen. Insbesondere in Westdeutschland käme für sie deshalb in dem durch Mutterschaft geprägten Lebensabschnitt Erwerbsarbeit entweder überhaupt nicht oder nur in der Form von Teilzeitarbeit in Frage - was jedoch an der wesentlich gewachsenen Bedeutung der Erwerbsarbeit in den davor und danach gelegenen Perioden nichts ändert. Zunehmende Bedeutung gewinnt allerdings vor allem in der jüngeren Generation die Forderung der Frauen nach einer radikalen Änderung der familiären Arbeitsteilung und die wachsende Bereitschaft der Männer, sich auf Beziehungsformen einzulassen, in denen beide Partner in gleicher Weise an den Chancen und Lasten sowohl der Erwerbsarbeit als auch der Familienarbeit teilhaben.

Diese Umbrüche auf dem Arbeitsmarkt und in der Familie treffen nun auf staatliche Sicherungssysteme, deren Struktur sich seit den 50er Jahren nicht grundlegend geändert hat. Die innere Stimmigkeit des deutschen Wohlfahrtsdreiecks geht dadurch verloren - mit weitreichenden Folgen für die Lebensplanung und die Lebenschancen der Bürger, schließlich für die Legitimation des Gesellschaftssystems. Insgesamt brauchbare Lösungen sind noch nicht in Sicht. Sie können auch hier nicht angeboten werden. Nötig ist jedoch die Benennung der (durchaus widersprüchlichen) Anforderungen an eine wiederum in sich stimmige neue Konfiguration des deutschen Wohlfahrtsdreiecks.

Die Kommission sieht folgende Anforderungen an die künftigen Sicherungssysteme:

  • An erster Stelle steht die Forderung, daß soziale Sicherungssysteme künftig sowohl hinsichtlich ihrer Finanzierung als auch hinsichtlich ihrer Leistungen so strukturiert sein müssen, daß sie die Aufnahme von Erwerbsarbeit jeglicher Art ermöglichen und erleichtern, statt sie zu erschweren oder zu verhindern.
  • Daraus folgt, daß die künftige soziale Sicherung so ausgestaltet werden muß, daß sie sowohl hinsichtlich des Wechsels zwischen Teilzeitarbeit und Vollzeitarbeit als auch hinsichtlich des Wechsels zwischen selbständiger und abhängiger Erwerbstätigkeit strukturneutral wirkt. Wünschenswert wären überdies Formen der Sicherung, die auch gegenüber internationaler Mobilität strukturneutral wirken.

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  • Daraus folgt auch, daß die künftige Struktur der sozialen Sicherung auf das Individuum bezogen sein muß und den stabilen Familienverband jedenfalls nicht voraussetzen darf. Gleichzeitig muß jedoch auf jeden Fall vermieden werden, daß durch die Struktur der Sicherungssysteme die Bildung von stabilen Partnerschaften und Zwei-Eltern-Kind-Beziehungen erschwert werden könnte. Dies bedeutet beispielsweise auch, daß beim Verzicht eines Partners auf (volle) Berufstätigkeit die individualisierten Beitragspflichten und Leistungsansprüche sich am Gedanken wechselseitiger, leistungsgerechter Teilhabe orientieren müßten. Diese Leitlinien wären für die einzelnen Systeme (Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung) getrennt zu diskutieren.
  • Dementsprechend spricht auch alles dafür, für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme nicht nur das Arbeitseinkommen, sondern alle Einkommensarten heranzuziehen.
  • Schließlich muß auch ein weitgehend individualisiertes soziales Sicherungssystem eine kollektiv finanzierte Grundsicherung für den Fall gescheiterter Lebensplanungen und andere Formen der Einkommensarmut bereitstellen. In diesem Zusammenhang ist auf die Diskussion des „Bürgergeld"-Vorschlages in Projekt 2 der Kommission zu verweisen.


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2.4 Umweltverträgliche Lebens- und Wirtschaftsweise

Die verhängnisvolle Rückkopplung industriegesellschaftlicher Entwicklungsdynamik, wonach das Wohlergehen der Bevölkerung und der Wohlstand der Gesellschaft nur um den Preis eines immer höheren Verbrauchs an Material und Energie gesteigert werden können, ist trotz gewisser umweltpolitischer Erfolge in der Vergangenheit noch nicht durchbrochen. Nach wie vor hat daher die Aufgabe, den gesellschaftlichen Stoff- und Energiedurchsatz von den wirtschaftlichen Aktivitäten und ihrem Wachstum einerseits und von der Lebensqualität der Bevölkerung andererseits abzukoppeln, hohe Priorität.

Daß ein solcher vorsorgender Umweltschutz auch im wohlverstandenen wirtschaftlichen Eigeninteresse liegt, zeigen die Erfolge deutscher Unternehmen auf den Märkten für emissionsarme, umweltfreundliche Produkte, Technologien und Verfahren. Ganzheitliche Strategien, die auf einen schonenden Umgang mit den Ressourcen und auf hohe Qualität der Nutzung abheben, bringen Spezialisierungsvorteile im internationalen Wettbewerb und auch beachtliche positive Beschäftigungseffekte. Die bisheri-

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gen Erfolge sollten Anreiz genug sein, diese Optionen weiterzuentwickeln. Von entscheidender Bedeutung wird es dabei sein, daß es dem fragmentierten Politiksystem gelingt, technische Innovationen, Verhaltensänderungen und institutionelle Innovationen miteinander zu verknüpfen.

Die Kommission befürwortet in diesem Bericht vier Lösungsansätze, um die Ressourceneffizienz zu erhöhen und den ökologischen Strukturwandel zu beschleunigen. Zwei davon zielen auf die Internalisierung externer Kosten und Effekte wirtschaftlicher Aktivitäten ab: (a) die Beseitigung ökologisch falscher Anreizstrukturen durch eine ökologische Steuer- und Abgabenreform und (b) die Verbesserung der Haftung für Umweltschäden durch Einführung von Schadensfonds. Die beiden anderen Lösungsansätze zielen auf die Förderung umweltschonender Innovationen durch (c) staatliche Innovationsförderung und innovative Unternehmensstrategien sowie (d) die Initiierung und Unterstützung umweltschonender Innovationsprozesse in anderen Ländern (joint implementation). Erst das Zusammenwirken sämtlicher Lösungsansätze verspricht die volle Entfaltung ihrer ökologischen und ökonomischen Vorteile.

Die Kommission hält die schon seit einigen Jahren diskutierte ökologische Steuerreform für einen wichtigen Hebel zur Abkoppelung des Umweltverbrauchs vom wirtschaftlichen Wachstum. Eine Verteuerung der Umweltnutzung in Verbindung mit einer Verbilligung des Einsatzes von Arbeit im Zuge einer aufkommensneutralen Reform des Steuer- und Abgabensystems verspricht - ganz im Sinne des Leitbildes nachhaltiger Entwicklung - die Harmonisierung ökologischer, ökonomischer und sozialer Interessen.

Das geltende Umwelthaftungsrecht stößt bei der Verhütung von Umweltschäden, bei deren verursachungsgerechter Anlastung sowie bei der Entschädigung der Opfer an institutionelle Grenzen und hinterläßt erhebliche Haftungslücken. Die Kommission empfiehlt deshalb die Einrichtung von Schadensfonds, die in besonderer Weise geeignet scheinen, in Fällen kollektiver Schadensverursachung eine Internalisierung der Kosten für Verursachergruppen zu ermöglichen und die Opfer angemessen zu entschädigen.

Mit Vorschlägen zu innovativen Unternehmensstrategien zum Thema „Nutzung statt Kauf" möchte die Kommission an einem praktischen Beispiel verdeutlichen, daß sich ökologische, ökonomische und soziale Zielsetzungen unter bestimmten Bedingungen durchaus in Einklang bringen lassen. Aufgrund der sich ohnehin abzeichnenden Tendenz zur Rücknahme ihrer

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Produkte nach der Nutzung werden die Unternehmen in Deutschland immer stärker nach Wegen suchen, wie sie deren Nutzungsdauer erhöhen können. Produktbegleitende und die Nutzungsdauer verlängernde Dienstleistungen (wie recyclinggerechte Konstruktion, Wiederinstandsetzung, Modernisierung, Flottenmanagement) werden künftig zu wichtigen Ertragsquellen. Einen weitergehenden Schritt bedeutet der Verkauf von Produktnutzen statt von Gütern, der den wirtschaftlichen Schwerpunkt der Unternehmen von der Herstellung zum Produktmanagement verschiebt. Eine längere Nutzungsdauer der Produkte in Verbindung mit einem geringeren Energie- und Materialeinsatz und dem Schließen von Stoffströmen in der Produktion läßt erhebliche Verminderungen sowohl des Ressourcenverbrauchs als auch der Umweltschädigung erwarten. Zu vermuten ist aber auch, daß durch die Reduzierung der materiellen Stoffflüsse zugunsten eines Produktmanagements per Saldo zusätzliche Arbeitsplätze entstehen.

Die Kommission ist der Überzeugung, daß Maßnahmen zur Beschleunigung des ökologischen Strukturwandels und zur Steigerung der Ressourceneffizienz allein nicht ausreichen werden, um eine nachhaltige, umweltgerechte Entwicklung in Deutschland sicherzustellen. Hinzukommen muß die Veränderung der höchst energie- und materialintensiven Konsumstrukturen und Lebensstile, um eine stärkere Entkoppelung der Lebensqualität der Bevölkerung vom industriewirtschaftlichen Stoffwechsel herbeizuführen. Als wichtige Ansatzpunkte für neue, umweltverträgliche Lebensstile werden das Bauen und der Betrieb von Gebäuden, Straßen und sonstigen Infrastrukturen gesehen, die im allgemeinen mehr als die Hälfte der verbrauchten Rohmaterialien und einen erheblichen Anteil der insgesamt verbrauchten Energie verschlingen. Große Möglichkeiten bietet auch der Bereich Ernährung, wo eine Senkung des Fleischanteils an der Nahrung zugunsten eines höheren vegetarischen Nahrungsmittelanteils den Stoffdurchsatz erheblich vermindern würde und darüber hinaus positive gesundheitliche Effekte hätte. Was die ökologischen Belastungen des Individualverkehrs, des Straßengüter- und Luftverkehrs angeht, so sind diese hinlänglich bekannt, die Möglichkeiten ihrer Reduktion werden aber bei weitem nicht ausgeschöpft.

Die Kommission ist der Meinung, daß das Konzept der „Gelegenheitsstrukturen" neue Impulse zur Veränderung von Lebensstilen geben kann. Verhaltensänderungen werden nicht nur durch rechtliche oder erzieherische Maßnahmen, die auch Widerstände mobilisieren, sondern auch durch die Beeinflussung der konkreten praktischen Rahmenbedingungen des

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Handelns ausgelöst. „Make the environmentally friendly choice the easy choice". Besonders dort, wo es fest eingerastete Gewohnheitsmuster gibt, wie beim Verkehrsverhalten, beim Essen oder bei der Nutzung von Alltagsgeräten, ist es wichtig, die umweltfreundlichere Verhaltensoption technisch, organisatorisch und logistisch zu begünstigen.

Die Kommission ist der Auffassung, daß angesichts der drohenden globalen ökologischen Gefahren und Risiken die Anstrengungen zu einer effektiven internationalen Abstimmung und Kooperation in der Umweltpolitik erheblich intensiviert werden müssen. Sie sieht insbesondere in der Anwendung neuer ökonomischer Anreizinstrumente und der Durchsetzung institutioneller Innovationen in der Umweltpolitik Chancen für mehr Nachhaltigkeit auf der nationalen, der europäischen und der globalen Ebene.

Beim joint implementation-Ansatz kann ein Land seinen eingegangenen Verpflichtungen zur Emissionsreduzierung (Beispiel: CO2) sowohl durch Maßnahmen im eigenen Land als auch durch Maßnahmen in einem anderen Land nachkommen. Dieses Instrument ermöglicht es. Emissionsminderungen dort vorzunehmen, wo die Maßnahmen möglichst kosteneffizient und ökologisch effektiv sind.

Das Instrument international handelbarer Emissionszertifikate wurde explizit in das „Kyoto-Protokoll" der UN-Klimarahmenkonvention aufgenommen und muß nun spezifiziert werden. Grundsätzlich ermöglicht es die Regulierung einer verbindlich vereinbarten globalen Emissionsmenge durch die Vergabe und den Handel mit verbrieften und übertragbaren Rechten (Lizenzen) zur Emission an die Emittenten. Es entsteht ein Markt, wo bisher kein Markt existiert - ein Markt, der ökonomisch effiziente Lösungen hervorbringt, Anreize für innovative Umweltschutzmaßnahmen bietet und konkrete ökologische Entlastungen garantiert. Er kann auch so gestaltet werden, daß es zu einem Nettoressourcentransfer (Finanzmittel und Technologien im Tausch gegen Lizenzen) von Industrieländern in Entwicklungsländer kommt.

Nach Auffassung der Kommission spricht vieles für solche marktkonformen Lösungen der Mengensteuerung, insbesondere für joint implementation in der Initialphase und für handelbare Zertifikate in der Kulminationsphase globaler Umweltvereinbarungen (hier insbesondere der Klimarahmenkonvention), und zwar sowohl auf der europäischen als auch auf der globalen Ebene.

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Institutionen internationaler Umweltpolitik bestehen, schon wegen des Fehlens hierarchischer Steuerungsinstanzen, vorrangig in Form horizontaler, nationalstaatlicher Selbstkoordination. Der Entscheidungsprozeß internationaler Umweltpolitik vollzieht sich traditionell in Verhandlungen, bei denen die freiwillige Zustimmung zur Entwicklung problembezogener Regelmechanismen Voraussetzung ist. Der Abstimmungs- und Koordinierungsbedarf ist mit der Zunahme internationaler Umweltvereinbarungen erheblich gewachsen und hat zu vielfältigen Überlegungen hinsichtlich institutioneller Innovationen und Reformen geführt. Hinzuweisen ist in diesem Zusammenhang besonders auf die Einrichtung von Fonds zum geregelten Technologie- und Finanztransfer von Nord nach Süd als direktes Steuerungsinstrument und auf verschiedene thematisierte bzw. umgesetzte Veränderungen in der indirekten Verfahrenssteuerung (wie capacity building, neue Formen der Entscheidungsfindung). Weitergehende institutionelle Reformen stehen zur Diskussion an, darunter die Gründung eines Weltrates für Umweltfragen analog zum UN-Sicherheitsrat, die Einrichtung einer Umweltinstitution nach dem Vorbild des GATT, die ökologische Reform der Welthandelsorganisation (WTO) und die Errichtung eines Umweltgerichtshofes zur Regelung umweltrelevanter Konflikte und zur Sanktionierung von Umweltschädigern.

Die Kommission ist der Auffassung, daß die Bundesrepublik Deutschland sich an dieser Diskussion aktiver als bisher beteiligen muß. Sie hält die Position Deutschlands zu diesen Fragen internationaler Umweltpolitik dann für glaubwürdig und überzeugend, wenn auch auf der nationalen Ebene entsprechend gehandelt wird, das heißt, wenn zu Hause ein neuer Anlauf zu technischen und sozialen Innovationen im Umweltschutz unternommen wird.

[Seite der Druckausg.: 36 = Leerseite]


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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