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Kurzfassung


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1
Die Bundesrepublik Deutschland
Ein Modell auf dem Prüfstand




Die Entwicklung des Modells (West-)Deutschland

Das Modell Deutschland, das sich in der Nachkriegszeit herausgebildet hat, ist durch eine dynamische Ökonomie, ein kooperatives Politiksystem, einen Sozialstaat mit breiter Sicherungswirkung und eine traditionelle geschlechtsspezifische Arbeitsteilung gekennzeichnet. Durch marktwirtschaftlichen Wettbewerb und wirtschaftliches Wachstum konnte Vollbeschäftigung erreicht werden. Breite Bevölkerungsschichten kamen in den Genuß steigender Kaufkraft. Der Staat konnte über wachsende Steuereinnahmen eine leistungsfähige Infrastruktur finanzieren. Eine unterbewertete Währung verbesserte die Exportchancen der deutschen Industrie, die ihre Stärken im Bereich technisch hochwertiger, mit qualifizierten Arbeitskräften hergestellter Investitions- und Konsumgüter entwickelte. Der Wiederaufbau und das Streben nach besseren Lebensverhältnissen waren die Motoren des Wirtschaftswachstums; die Risiken der Umweltbelastung wurden nicht gesehen oder gering gewichtet.

Eine kapitalistische Marktwirtschaft wurde durch die kooperative Regelung der industriellen Arbeitsbeziehungen gebändigt. Arbeitgeber und Gewerkschaften handelten im Rahmen der Tarifautonomie Löhne und Arbeitsbedingungen aus. Tarifverträge sicherten den Unternehmen gleiche Wettbewerbsbedingungen und stärkten die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer. Arbeitsgesetzgebung und Arbeitsgerichtsbarkeit dienten dem Schutz der Arbeitenden im Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt. Betriebsverfassung und Mitbestimmung im Unternehmen galten als erste Schritte zur Demokratisierung der Wirtschaft.

Der deutsche Sozialstaat war und ist bis heute an dem Leitbild orientiert, das Abgleiten der Erwerbstätigen und ihrer Familien in die Armut zu verhindern. Deshalb sind die solidarischen Sicherungssysteme fast ausschließlich an die Beteiligung an der Erwerbsarbeit gekoppelt und werden überwiegend durch Beiträge aus dem laufenden Arbeitseinkommen finan-

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ziert. Im Risikofall der Arbeitslosigkeit, der Krankheit und im Alter konnte der durch die Erwerbsarbeit gewonnene Lebensstandard annähernd gehalten werden. Ein stetiges Wirtschaftswachstum und ein hoher Beschäftigungsgrad erhöhten den Verteilungsspielraum und garantierten Sozialleistungen, die über die typischen Arbeitnehmerrisiken hinaus auf die Bildungschancen, die Wohnungsversorgung und zuletzt auch Elternschaft und Pflegebedürftigkeit ausgedehnt wurden.

Das deutsche soziale Sicherungssystem setzte ein Wirtschaftswachstum voraus, das Vollbeschäftigung gewährleistet. Bis in die 70er Jahre hinein meinte „Vollbeschäftigung" kontinuierliche Erwerbschancen für männliche Haushaltsvorstände. Das deutsche Modell sozialer Sicherung baute im Prinzip auf einer geschlechterspezifischen Arbeitsteilung auf, die die Verantwortung, den Lebensunterhalt für die Familie zu verdienen, in erster Linie dem Mann überträgt, während die Frau vorrangig die Erziehung der Kinder und die Hausarbeit übernimmt. Die kontinuierliche - 45 Jahre währende - Erwerbstätigkeit des Mannes gehörte ebenso zu der im Modell Deutschland unterstellten Normalität wie die abgeleiteten Sicherungsansprüche der verheirateten Mütter und Hausfrauen. Dagegen wollte die DDR die gleichberechtigte Integration von Müttern in die Arbeitswelt fördern. Ihre Sozialpolitik war auf dieses Ziel hin ausgerichtet.

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Das Modell stößt an seine Grenzen

Das Modell der sozialen Marktwirtschaft verdankte seine Plausibilität und Akzeptanz jener bis weit in die 60er Jahre hineinreichenden Aufbauphase, in der sich stetiges Wirtschaftswachstum mit Beschäftigungszuwachs und Ausbau der wohlfahrtsstaatlichen Leistungsangebote verband. Der breite Wohlstand sowie die fortschreitende Demokratisierung der Gesellschaft forderten ab Mitte der 60er Jahre auch in der Bundesrepublik die soziokulturellen Umbrüche, mit denen sich alle westlichen Gesellschaften konfrontiert sahen: die Infragestellung der traditionellen Autoritätsverhältnisse zwischen den Generationen und Geschlechtern; die Lockerung der geschlechtsspezifischen und sexuellen Normen; die Betonung von Selbstentfaltungs- gegenüber Pflichtwerten.

Nicht nur die Lebenswelt der Bundesbürger, auch das ökonomische System gerieten unter Veränderungsdruck. Die weltwirtschaftlichen Schocks der 70er Jahre haben zwar die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Modells vermindert, aber weder der Zusammenbruch des Weltwährungs-

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systems von Bretton Woods, die zweimalige drastische Erhöhung des Rohölpreises, der Zusammenbruch der Wirtschaftskonjunktur sowie der massive Anstieg der Arbeitslosigkeit 1973/74 und 1980/81 haben die Unternehmensleitungen oder die staatlichen Entscheidungsträger zu einer ernsthaften Umsteuerung veranlaßt. Vielmehr versuchte man weiterhin, mit den bewährten Mitteln des „Modells Deutschland" die Ziele eines stetigen Wirtschaftswachstums und eines hohen Beschäftigungsstandes zu erreichen, wenngleich die überdurchschnittlich expandierenden internationalen Finanzmärkte die Autonomie nationalstaatlicher Regierungen schon einzuschränken begannen. Insbesondere in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, die durch ein anhaltendes Wirtschaftswachstum und durch die Schaffung neuer Arbeitsplätze gekennzeichnet waren, wurde es versäumt, den Strukturwandel durch Abbau von Erhaltungssubventionen und durch Innovationsförderung voranzubringen; es unterblieb auch eine durchgreifende Umsteuerung in Richtung ökologischen Wirtschaftens.

Das „Modell Deutschland" war nicht stark genug, die Folgen der deutschen Vereinigung zu verkraften. Die Art und Weise, in der die Transferströme in die neuen Bundesländer finanziert wurden, brachten die Konstruktionsdefizite vieler Institutionen der sozialen Sicherung besonders klar zum Vorschein.

Zu Beginn der 90er Jahre verlor auch das weiterentwickelte Modell Deutschland seine Leistungsfähigkeit. Der Grund lag im Zusammentreffen mächtiger Veränderungen, die zu einer raschen Überforderung führten: das Ende des „kalten Krieges" und die Öffnung Osteuropas für westliche Investitionen, die deutsche Vereinigung und ihre Kosten, die Vollendung des europäischen Binnenmarktes, die globale Vernetzung der Kapitalmärkte.

Eine Folge davon war eine außerordentliche Verschärfung des internationalen Wettbewerbs, der dann in der Konjunkturkrise zu Anfang der 90er Jahre zu einem tiefen Einbruch der industriellen Produktion führte. Darauf reagierten die deutschen Unternehmen mit einer sprunghaften Steigerung ihrer Produktivität. Massiver Arbeitsplatzabbau trifft jetzt auch den Kernbereich der qualifizierten Arbeitnehmer. Diese vielfältigen Veränderungen werden in der öffentlichen Diskussion mit dem schillernden Begriff der „Globalisierung" verbunden.

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Strukturprobleme in den Vordergrund stellen

Die Kommission hat sich ausführlich mit den verschiedenen Aspekten der Globalisierung befaßt. Sie zieht hieraus folgende Schlußfolgerungen. Der globale Wettbewerb hat Rigiditäten und Strukturdefizite der deutschen Wirtschaft deutlicher hervortreten lassen. Es sind Anpassungen nötig, die auch grundlegende Teile des „Modells Deutschland" einschließen. Die Kommission sah es deshalb als lohnende Aufgabe an, wichtige Elemente eines neuen „Modells Deutschland" zu erarbeiten, das eine vergleichbare Robustheit und innere Stimmigkeit wie das alte Modell aufweist. In der gegenwärtigen Globalisierungsdebatte besteht jedoch die Gefahr, daß über die realen Anpassungserfordernisse hinaus erhaltenswerte industriegesellschaftliche Institutionen (wie industrielle Beziehungen, berufliche Bildung, Unternehmensverfassung) zur Disposition gestellt werden. Die Kommission sieht die Herausforderungen des zunehmenden Wettbewerbs weniger im Verhältnis zu den sich entwickelnden Ländern der Dritten Welt, sondern geht davon aus, daß sich insbesondere der innereuropäische Wettbewerb drastisch verschärfen wird und zu einem Abbau von steuerlichen, sozialen und ökologischen Standards führen kann, wenn nicht eine Verständigung auf europäischer Ebene erreicht wird.

In der Debatte um den Standort Deutschland wird die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft oft grundsätzlich in Frage gestellt. Empirische Analysen bestätigen dagegen, daß die deutsche Wirtschaft ihre Marktanteile im internationalen Wettbewerb bisher gut behaupten konnte. Allerdings konnte die Exportstärke der deutschen Wirtschaft strukturelle Schwächen verdecken, welche die zukünftigen Entwicklungschancen beeinträchtigen. In der bundesdeutschen Standortdebatte werden nach Meinung der Kommission die Kostengesichtspunkte zu stark betont und die Strukturprobleme zu wenig berücksichtigt. Sie stellt deshalb die strukturellen Verwerfungen und längerfristigen Änderungsnotwendigkeiten in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen und Empfehlungen.

Mit gravierenden Standortproblemen haben gegenwärtig nicht nur die Bundesrepublik Deutschland, sondern alle wichtigen industriellen Wettbewerber, insbesondere eine Reihe von europäischen Staaten, Japan und trotz aller Erfolge auch die USA zu kämpfen. Allerdings sind die Ausgangs- und Randbedingungen in den einzelnen Ländern so unterschiedlich, daß die schematische Übernahme ausländischer Strategien wenig Erfolg verspricht - noch weniger die selektive Verwendung einzelner Elemente. Für

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Deutschland ist es deshalb nicht sinnvoll, sich auf einen Kostensenkungswettlauf einzulassen. Statt dessen kommt es darauf an, die bisher erfolgreiche Diversifizierungs- und Spezialisierungsstrategie dynamisch weiterzuentwickeln und auf Produkte, Dienstleistungen und Systeme zu setzen, für deren Absatz die Qualität oder Neuheit und weniger der Preis entscheidend sind.

Die Kommission folgt nicht der in der Globalisierungsdebatte häufig geäußerten These vom Ende der politischen Handlungsfähigkeit des Nationalstaats. Sie übersieht nicht die Notwendigkeit zum Ausbau europäischer und multinationaler Regelungen, auch wenn diesen außerordentliche Schwierigkeiten entgegenstehen. Ebenso verkennt sie nicht, daß die Internationalisierung der Wirtschaft nationale Handlungsspielräume begrenzt hat. Dennoch sind im nationalen Rahmen die Handlungsmöglichkeiten von Bund und Ländern, Gewerkschaften, Arbeitgebern, Wissenschaft, Parteien und Kirchen immer noch beträchtlich. Aus diesem Grunde konzentriert sie sich primär auf Handlungsstrategien, die im nationalen Rahmen verwirklicht werden können.

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Gegen verkürzte Strategiekonzepte: soziale und ökologische Sackgassen

In der gegenwärtigen wirtschaftspolitischen Diskussion gibt es zwei unterschiedliche Reaktionen auf die erörterten Probleme durch die Globalisierung, die - konsequent verfolgt - auf zwei unterschiedliche Entwicklungspfade führen.

Dem ersten Entwicklungspfad entspräche eine konsequente Kostensenkungsstrategie zum Erhalt der internationalen Wettbewerbsfähigkeit und zur Wiedergewinnung der für einen hohen Beschäftigungsstand erforderlichen Wachstumsdynamik. Gemeint ist damit die Forderung an die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften, Lohnzuwächse unterhalb des Produktivitätsfortschritts oder sogar Reallohnsenkungen zu akzeptieren, um auf diese Weise die Lohnstückkosten gegenüber denen der Mitbewerber zu senken. In die gleiche Richtung gehen Forderungen auf die Entlastung der Unternehmen von Lohnnebenkosten, von Steuern auf andere Produktionsfaktoren und auf eine weitgehende Senkung der ertragsabhängigen Steuern. Der gleichen Logik entsprechen ferner die Forderungen nach einer Beseitigung oder erheblichen Lockerung der Flächentarife, nach einer Deregulierung des Arbeitsrechts einschließlich des Kündigungsschutz-

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rechts und nach einer radikalen Flexibilisierung der Arbeits- und Arbeitszeitorganisation. Die Kommission hält einige dieser Forderungen für durchaus vernünftig. Zusammengenommen führen sie jedoch zu einer Verminderung der nominalen Arbeitseinkommen und des Steueraufkommens, die negative makroökonomische Effekte haben können.

Noch wichtiger erscheinen der Kommission die Risiken, die eine konsequente Kostensenkungsstrategie für die soziale Integration der deutschen Gesellschaft hätte. Wenn die Lohneinkommen sinken und die Lohndifferenzierung zunimmt, dann steigt das Armutsrisiko vieler bereits heute einkommensschwacher Familien sowie einer großen Zahl von Alleinstehenden mit geringeren Qualifikationen. Sinkende Einkommenschancen und abnehmende Sicherheit des Arbeitsplatzes werden sich insgesamt auf die Lebenspläne der Bürger verunsichernd und entmutigend auswirken. Die Bereitschaft, sich längerfristig in einer Partnerschaft und Familie zu binden, sich in der Nachbarschaft oder in gemeinnützigen Vereinen zu engagieren, sinkt als Folge solch einer Strategie; kurzfristige, einseitig nutzenorientierte Bindungen, die das Kostenrisiko verringern, nehmen dann in der Lebenswelt weiter zu. Die Gelegenheiten, Vertrauen und Kooperation zu praktizieren, werden spärlicher, und damit versiegen die Quellen, aus denen eine demokratische politische Kultur schöpft.

Werden zugleich dem Sozialstaat die Mittel zum Auffangen dieser Armutsrisiken entzogen, dann ist mit einer sozialen Ausgrenzung eines wachsenden Teiles der Bevölkerung zu rechnen. Betroffen wären vor allem Kinder in sozioökonomisch benachteiligten Familien und Jugendliche ohne Berufsausbildung, die ohne sozialstaatliche Unterstützung den Eintritt in das Erwerbsleben endgültig verpassen und sich, wie der amerikanische Fall lehrt, stattdessen immer öfter auf illegale Formen der Lebensbewältigung einlassen. Die sozialen und politischen Folgen der genannten Entwicklungen sind nicht absehbar.

Das ist um so gravierender, als der Transformationsprozeß in Ostdeutschland noch nicht abgeschlossen ist. Er tritt vielmehr in eine neue Phase ein. Dies gilt zum einen für die Lebensbedingungen und Mentalitäten, also für die sozialpolitischen und kulturellen „Folgezustände" der schnellen Vereinigung. Dies gilt zum anderen für den ernsthaft ins Stocken geratenen wirtschaftlichen und sozialen Wiederaufstieg der neuen Bundesländer. Die Stagnation ist keine konjunkturelle Atempause, sondern Ausdruck struktureller Probleme. Es ist daher von einer langfristigen Spaltung des Arbeitsmarktes zuungunsten Ostdeutschlands auszugehen. Die Wirt-

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schaft in den neuen Ländern befindet sich vermutlich erst am Anfang einer zweiten und sehr langen Phase des Transformationsprozesses. Die Startbedingungen für diese zweite Phase sind die Ergebnisse der ersten Umbruchphase: auf der Aktivseite eine modernisierte technische Infrastruktur und angeglichene Qualifikationspotentiale der Erwerbspersonen, auf der Passivseite eine dramatisch geschrumpfte industrielle Basis mit der Gefahr einer „tertiären Krise" und sich polarisierender Lebensbedingungen.

Fazit: Eine konsequente Kostensenkungsstrategie führt nach Ansicht der Kommission auf einen Entwicklungspfad, der in einer „sozialen Sackgasse" endet.

Dem zweiten Entwicklungspfad entspräche eine konsequente Wachstumsstrategie. Sie setzt eine expansive Geldpolitik und Fiskalpolitik voraus, aber sie muß auch über Instrumente zur Kostendämpfung verfügen, wenn sich anders inflationäre Entwicklungen nicht verhindern lassen. Insbesondere aber ist eine primär auf Wachstum setzende Strategie darauf angewiesen, „Investitionshemmnisse" aller Art zu beseitigen, um auf diese Weise zu einer Vermehrung und Beschleunigung wachstumsdienlicher und arbeitsplatzschaffender Investitionen zu kommen. Dem entspräche z. B. die Forderung nach der Lockerung des geltenden Umweltrechts, der Revision von geltenden Grenzwerten, dem Verzicht auf langwierige Umweltverträglichkeitsprüfungen und der Beseitigung oder jedenfalls radikalen Beschleunigung von Genehmigungsverfahren.

Auch hier hat die Kommission Bedenken, ob die mit einer solchen Strategie verbundenen Hoffnungen auf Wachstum sich erfüllen werden. Sicher aber würde eine Verschlechterung der Umweltbedingungen nicht nur die Lebensqualität der Bevölkerung, sondern auch die Attraktivität des Standorts für forschungsintensive, dienstleistungsintensive und humankapitalintensive Wirtschaftszweige beeinträchtigen. Vor allem würde man auf die bisher errungenen Wettbewerbsvorteile auf den Märkten für Umweltschutztechnologie verzichten.

Fazit: Nach Auffassung der Kommission führt eine primär auf Wachstum setzende Strategie wegen ihrer unkalkulierbaren Risiken in eine „ökologische Sackgasse".

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Wirtschaftliche Leistung, sozialer Zusammenhalt, ökologische Nachhaltigkeit: Drei Ziele - ein Weg

Stattdessen ist die Kommission zu der Überzeugung gekommen, daß die gegenwärtigen Schwierigkeiten der deutschen Wirtschaft und Gesellschaft nur durch Strategien überwunden werden können, die geeignet sind, wirtschaftliche Leistungsfähigkeit, sozialen Zusammenhalt und ökologische Nachhaltigkeit auszubalancieren. Abstrakt und theoretisch mag ein solches Zieldreieck stimmig und nicht umstritten sein. Aber derzeit setzen sich viele dafür ein, daß den ökonomischen Interessen ein größeres Gewicht eingeräumt wird. Andere verteidigen heftig den Vorrang des sozialen Zusammenhalts oder einer intakten Umwelt. Dabei ist offenkundig, daß die rigorose Verfolgung eines Ziels ohne Rücksicht auf die anderen dieses Ziel selbst verletzt. Wer beispielsweise ausschließlich auf wirtschaftliche Leistung setzt, untergräbt mit der sozialen Integration und der ökologischen Stabilität sowohl die gesellschaftlichen als auch die natürlichen Voraussetzungen des Wirtschaftens selbst. In der Wirklichkeit und in der politischen Gewichtung sind also Zielkonflikte zwischen den genannten Komponenten der Normalfall. Die Kommission tritt dafür ein, daß die Konflikte durch kreative Strategien minimiert werden und daß in der Annäherung an die drei Ziele die Balance gehalten wird.






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Vier strategisch wichtige Reformprojekte

Von diesem Vorverständnis ausgehend hat die Kommission insgesamt vier „Projekte" ausgewählt, die exemplarisch zeigen, wie unter der Anforderung der ökonomischen, sozialen und ökologischen Verträglichkeit zukunftsweisende Strategien entwickelt werden können, die im Ergebnis

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wieder zu einem in sich stimmigen und robusten „Modell Deutschland" unter den absehbaren Rahmenbedingungen der nächsten Jahrzehnte führen könnten. Die einzelnen Projekte sind jeweils einem Pol des beschriebenen Anforderungs-Dreiecks zugeordnet. Charakteristisch für sie ist jedoch, daß sie nicht lediglich den Zielwert, dem sie in erster Linie zugeordnet sind, maximieren sollen, sondern daß sie zugleich die von den beiden anderen Polen bestimmten Randbedingungen und Anforderungen mitberücksichtigen:

  • Verbesserung der Innovationsfähigkeit und Stärkung der Humanressourcen (Projekt 1),
  • Verbesserte Beschäftigungsmöglichkeiten für Niedrigqualifizierte (Projekt 2),
  • Wandel der Familie und Beschäftigungskrise als Herausforderungen an eine Politik sozialer Integration (Projekt 3),
  • Umweltverträgliche Lebens- und Wirtschaftsweise (Projekt 4).

Projekt 1 „Verbesserung der Innovationsfähigkeit und Stärkung der Humanressourcen" widmet sich der Frage, wie in den Wirtschaftszweigen, die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind, die Konkurrenzfähigkeit am Hochkosten-Standort Deutschland gesichert werden kann. Vor dem Hintergrund eines neuen Typus von Strukturwandel wird dargestellt, welche Anforderungen eine kontinuierliche Steigerung der Innovationsfähigkeit von Wirtschaft und Staat an die Organisation von Forschung und Entwicklung, an die Organisation von Produktionsprozessen und an die Ausbildung und Weiterbildung der Arbeitnehmer sowie für die Organisation effizienter staatlicher Dienstleistungen stellt.

Die Kommission sucht im Projekt 2 durch sozialstaatliche Strukturänderungen nach „Verbesserten Beschäftigungsmöglichkeiten für Niedrigqualifizierte". Das Projekt steht im Spannungsfeld zwischen Erfordernissen der wirtschaftlichen Marktökonomie und der sozialen Integration. Die Kommission unterscheidet zwischen Beschäftigungsmöglichkeiten in den dem internationalen Wettbewerb ausgesetzten Wirtschaftszweigen und in den auf die Befriedigung lokaler und regionaler Nachfrage gerichteten Wirtschaftszweigen einerseits und zwischen Beschäftigungsmöglichkeiten für Personen mit hoher und mit niedriger beruflicher Qualifikation andererseits.

Setzt Projekt 1 zur Sicherung von Wettbewerbsfähigkeit und hochqualifizierter Beschäftigung in Wirtschaftszweigen, die der internationalen Konkurrenz ausgesetzt sind, auf die Stärkung von Innovationskräften und

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Humankapital, so zeigt unter anderem die ländervergleichende Arbeitsmarktanalyse, daß neuen Arbeitsplätzen für Geringqualifizierte die besondere Struktur des deutschen Sozialstaats entgegensteht. Etwa die Hälfte der Arbeitslosen besitzt keine oder keine abgeschlossene Berufsausbildung, zudem stellen Geringqualifizierte und Geringqualifizierbare die Masse der Langzeitarbeitslosen. Die Kommission sieht in der dauerhaften sozialen Ausgrenzung einer Millionenzahl von Mitbürgern ernsthafte Gefahren für die demokratische Verfassung des Landes. Der nach wie vor für Beschäftigung verantwortliche Nationalstaat kann nicht Jahrzehnte zuwarten, bis steigende Existenz- und Entlohnungsansprüche in Billiglohnländern den Konkurrenzdruck auf Waren- und Arbeitsmärkten senken und so die Wiedereingliederung Geringqualifizierter in den Arbeitsmarkt ermöglichen. Aus diesem Grund macht sie Vorschläge zu einer sozialverträglichen Öffnung eines Niedriglohnarbeitsmarktes.

Im Mittelpunkt des Projektes 3 „Wandel der Familie und Beschäftigungskrise als Herausforderungen an eine Politik sozialer Integration" stehen die Zielkonflikte, die sich aus der gegenläufigen Entwicklung von Erwerbsorientierungen und
-chancen bei gleichzeitig veränderten Parametern der Sozialpolitik ergeben. Von Frauen wird heute erwartet, daß sie eigenständig ihren Lebensunterhalt verdienen, sofern nicht Kinder oder andere hilfsbedürftige Familienmitglieder zu Hause zu betreuen sind. Die hohe Bildungsbeteiligung und gute berufliche Qualifikationen haben die Erwerbschancen von Frauen erheblich verbessert. Frauen wollen erwerbstätig sein, viele von ihnen auch kontinuierlich und im Vollzeitberuf. Auf der anderen Seite hat die Beschäftigungskrise die Chancen für Frauen und Männer verringert, einen sicheren Arbeitsplatz mit guten Verdienst- und Aufstiegsmöglichkeiten zu erhalten. Dies gilt verstärkt für Ostdeutschland, wo vor dem Hintergrund einer höheren Erwerbsintegration der Frauen der Partnerschaftshaushalt mit zwei vollerwerbstätigen Erwachsenen die wichtigste Form privater Lebensführung geblieben ist.

Die Familie ist nicht nur im deutschen Modell eine wichtige Säule der Produktion von Wohlfahrt. Andererseits wird - wie schon heute - das System sozialer Sicherung in der Zukunft stärker auf das Prinzip einer individuellen Beitrags-Leistungs-Relation umgestellt. Es droht diejenigen zu diskriminieren, die weniger in die Erwerbsarbeit integriert oder weniger verfügbar sind, darunter viele Frauen. Die Kommission macht deshalb Vorschläge zum Zusammenspiel von Familie, Arbeitsmarkt und Sozialpolitik, so daß Konflikte verringert und ein hohes Maß an sozialer Integration

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erreicht werden kann. Da sich die Erwerbsorientierung und
-integration von Frauen in Ostdeutschland, auch die Formen privater Lebensführung, von denjenigen in Westdeutschland unterscheiden, behandelt die Kommission die Situation in Ostdeutschland gesondert.

Das Projekt 4 „Umweltverträgliche Lebens- und Wirtschaftsweise" beschreibt die komplexe Zukunftsaufgabe, wie Strategien zur Reduzierung des Umweltverbrauchs mit dem Ziel einer Förderung des wirtschaftlichen Wachstums besser vereinbar gemacht werden können und welche Veränderungen der Lebensweisen und des Sozialverhaltens notwendig und möglich wären, wenn die ökologischen Ziele erreicht werden sollen. Hierzu werden differenzierte umweltpolitische Instrumente und die Möglichkeiten der Förderung umweltverträglicher technischer, institutioneller und sozialer Innovationen behandelt. Damit dem grenzüberschreitenden Charakter vieler Umweltprobleme (wie Schädigung der Ozonschicht, Veränderung des Klimas, Verlust an Biodiversität usw.) adäquat entsprochen werden kann, wird zugleich auf die Notwendigkeit einer weiteren Internationalisierung der Umweltpolitik, die auch institutionelle Reformen einschließt, hingewiesen.

Insgesamt sind die Projekte und Vorschläge der Kommission gekennzeichnet von dem Bestreben, auch unter den Bedingungen der verschärften internationalen Konkurrenz und der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse an den Zielen des deutschen Modells einer erweiterten sozialen Marktwirtschaft festzuhalten. Dies kann nur Erfolg haben, wenn nicht gleichzeitig der Versuch unternommen wird, die überkommenen Strukturen des deutschen Modells um jeden Preis zu verteidigen. Deshalb kommt die Kommission zu Vorschlägen, die in vieler Hinsicht von den klassischen Lösungen abweichen, die in den Nachkriegsjahrzehnten mit Unterstützung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratie aufgebaut wurden.

Die Kommission konnte sich nicht intensiv mit allen Fragestellungen beschäftigen, die aus ihrer Sicht entscheidende Bedeutung haben. Ausgeklammert wurden insbesondere Konzepte zur Sanierung beitragsfinanzierter sozialer Sicherung, der Umgang mit den sich verschärfenden Verteilungsungleichgewichten im Steuersystem sowie das bisher ungenutzte Potential privater Nachfrage nach überwiegend öffentlich bereitgestellten Dienstleistungen im Bereich von Bildung, Kultur und Gesundheit.

Die Kommission hat sich nicht mit kurzfristig angelegten Themen der aktuellen politischen Debatte beschäftigt, da sie zukünftig wichtige, strukturelle Probleme in den Vordergrund ihrer Überlegungen stellen wollte.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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