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5. Auswirkungen der Handelsentwicklung auf die Stadt

5.1. Stadtstrukturelle Probleme

Das gewachsene oder planerisch angestrebte Netz der Einzelhandelseinrichtungen besteht aus dem Citynetz, dem Vorstadtnetz und dem dezentralen Netz. Die einzelnen Standorte sind in die Struktur der Stadt eingebunden. Hier könnte man von einem primären Netz sprechen. In der Gegenwart bildet sich parallel dazu ein sekundäres Angebotsnetz des Handels heraus, das sich von den bestehenden Stadtstrukturen löst. Dieses Netz entwickelt sich nach anderen Gestaltungskriterien als die, nach denen die Stadt bisher gewachsen war. (Abb. 3)

Als Ergebnis dieses Prozesses wird die Entwicklung des Einzelhandels in Stadt und Region schlechter steuerbar. Die zahlreichen Einkaufszentren in peripherer Lage tragen erheblich zur Zersiedlung der Städte bei. Die relativ niedrigen Mieten auf günstigem Baugrund machen periphere Standorte für Investoren attraktiv. Die mit den Standorten verbundenen überproportional hohen Erschließungskosten (Stadttechnik und Verkehr) trägt die Gemeinschaft.

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Abbildung 3:

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Die hohe Anziehungskraft peripherer Einkaufszentren führt zur wirtschaftlichen Schwächung zentraler Orte und zur Verödung der Innenstädte. Im Verkehrs- und Erschließungsnetz der Städte und des Umlandes entstehen hohe Belastungen. Ein weiteres Problem ist der hohe Flächenverbrauch in der Peripherie, während gleichzeitig in der City bisher genutzte Flächen veröden. Die sich gegenwärtig in den neuen Bundesländern erheblich verändernde Arbeitsteilung zwischen Stadt und Region ist eine Ursache dafür, daß sich ein wesentlicher Teil der kommunalen Einnahmen in das Umland verlagert. Diese Umverteilung der Einnahmen bzw. Steuern hat weitreichende Folgen.

Unter den gegebenen Umständen ist nicht sicher, ob die großen Städte Ostdeutschlands aufgrund ihrer Einkommenssituation noch länger die Versorgungsaufgaben, die Infrastrukturaufgaben und die kulturellen Aufgaben für die kleinen Gemeinden im Umland tragen können. Eine stabile ökonomische Potenz, die u.a. auf dem Einzelhandel basiert, ist notwendig, um die Funktionsfähigkeit der Stadt zu sichern.

Die Einzelhandelsstruktur in den neuen Bundesländern ist allgemein von einem hohen Filialisierungsgrad bestimmt. Die damit verbundene Zunahme der Fremdbestimmung im Einzelhandel einer Stadt führt zu einem weiteren Problem: Die vorhandene Zusammenballung von Macht - in der Lebensmittelbranche vereinigen 10 Handelsunternehmen allein 79 % des Umsatzes auf sich - vergrößert den gestalterischen Einfluß der Unternehmen erheblich und wirkt sich auf Standortfragen in vielen Städten aus. (Abb. 4)

Bei stadtplanerischen Entscheidungen zu Einzelhandelsstandorten wird heute oft unterschätzt, in welchem Maß sich die gegenwärtigen Standorte verändern. Durch nachfolgende Ansiedlungen werden sie aufgewertet und sind damit Kristallisationspunkte der Stadtentwicklung. Die Zulassung eines großen Einzelhandelsstandortes kann dazu führen, daß die weitere Entwicklung des Standortes planerisch nicht mehr beherrscht wird.

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Abbildung 4:

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Die gewachsene Hierarchie der Standorte innerhalb der Stadt, bestehend aus einer starken Innenstadt mit 40 bis 45% des Einzelhandelsumsatzes, den Nebenzentren und Nahversorgungszentren wird aufgebrochen. Durch die kaum noch überschaubare und lenkbare Verteilung der Einzelhandelsaktivitäten wird die stadtplanerische Reaktion erschwert.

Eine Gesamtrechnung zeigt, daß periphere Standorte gegenüber integrierten Objekten nicht billiger sind. Die begleitenden und nachfolgenden Kosten wie erhöhte Infrastrukturaufwendungen, die zunehmende Verkehrs- und Umweltbelastung sowie Verluste durch brachliegende Flächen an anderen Standorten tauchen jedoch in keiner Privatkalkulation auf.

Klare Vorstellungen über die Entwicklung und gewünschte Bedeutung der Innenstadt sowie über die Versorgungsfunktion der Nebenzentren sind Voraussetzung für eine entsprechende Ausrichtung und Dimensionierung der Infrastruktur. Eine diesbezüglich sinnvolle Stadt- und Verkehrsplanung ist nicht möglich, wenn unklar bleibt, wie sich die Investitionen in der Stadt verteilen. Damit deutet sich die Möglichkeit einer Verschwendung von finanziellen Mitteln für die Infrastruktur der Städte an.

In der Gegenwart ist ein zunehmendes Zusammenwachsen des Handels mit anderen Funktionen, vor allem mit Freizeiteinrichtungen, zu beobachten. Die großen Handelsagglomerationen in den alten Bundesländern werden immer mehr zu Freizeitagglomerationen. Ausgehend vom vorhandenen Einkaufszentrum werden Dienstleistungsstandorte sowie Freizeiteinrichtungen wie Großdisco oder Kinocenter mit dem Ziel der maximalen Auslastung aller Einrichtungen angegliedert.

Das Handeln der Städte in diesem Problemkreis ist dringend erforderlich, da sonst ein Durchsetzen der aus planerischer Sicht abzulehnender Standorte zu befürchten ist. Diese Standorte können sich festigen, indem sich andere Nutzungen in der Nähe der Einkaufszentren ansiedeln. Wenn sich die Einkaufsgewohnheiten der Bevölkerung völlig zugunsten peripherer Einkaufszentren ändern, wird die ökonomische Basis der Innenstadt untergraben. Verödung und Verfall der gewachsenen städtischen Zentren wird auf mittlere und längere Sicht programmiert.

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5.2. Verkehrliche Probleme

Die Tendenz der zunehmenden Verlagerung von Einzelhandelsstandorten in die Peripherie der Stadt zieht neben Schwierigkeiten für die Raumordnung auch zahlreiche Verkehrsprobleme nach sich. In der Peripherie der Stadt haben öffentliche Verkehrsmittel nur einen geringen Anteil am Gesamtverkehrsaufkommen. Bei dezentralen Standorten, die über einen ÖPNV-Anschluß verfügen, liegt dieser Anteil bei etwa 10 - 12% mit steigender Tendenz. Eine optimale Anbindung des Standorts an das öffentliche Verkehrsnetz vorausgesetzt, läßt sich dieser Anteil auf etwa 20% steigern - ein Anteil, der allgemein als Grenzwert in diesem Zusammenhang angesehen wird. (Abb. 5)

Angesichts dieser Zahlen verwundert es nicht, daß die meisten peripheren Handelsstandorte kaum an das öffentliche Verkehrsnetz angeschlossen sind. Die Erschließung der Einkaufszentren für die Kunden erfolgt in erster Linie mit dem Pkw. Die dafür notwendigen Stellplätze, die gerade an peripheren Standorten in großem Umfang zur Verfügung stehen, tragen erheblich zur fortschreitenden Flächenversiegelung bei und verursachen damit neben verkehrlichen auch bedeutende ökologische Probleme.

Neben der Verlagerungstendenz im Einzelhandel bereitet auch die Vergrößerung und damit Konzentration der Standorte planerische Schwierigkeiten. Das ausgedünnte Angebotsnetz mit wenigen, räumlich verteilten großflächigen Handelseinrichtungen erschwert zunehmend die Bedienung der Fläche. Die durchschnittliche Einkaufsentfernung wird größer. Damit wachsen die Probleme für die Teile der Bevölkerung, die nicht ständig über einen Pkw verfügen, sich mit Einzelhandelswaren zu versorgen. (Abb. 6)

Eine Studie aus dem Land Brandenburg belegt, daß bereits 40% der Orte mit weniger als 1000 Einwohnern heute kein Einzelhandelsgeschäft mehr haben. Für die Zukunft ist davon auszugehen, daß weitere 2.000 dieser Geschäfte aus wirtschaftlichen Gründen schließen werden. Für die Bewohner der betroffenen Gemeinden werden sich auch hier die Einkaufsentfernungen soweit erhöhen, daß die Abhängigkeit vom PKW eine direkte Folge ist.

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Abbildung 5:

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Abbildung 6:

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Betrachtet man den Einkaufsverkehr in die Innenstadt, so ist hier ein wesentlich höherer ÖPNV-Anteil am Gesamtverkehr zu verzeichnen. Als ÖPNV-Anteile im Einkaufsverkehr mit Ziel in der Innenstadt weist die "BAG-Untersuchung Kundenverkehr 1992" (Bundesarbeitsgemeinschaft der Mittel- und Großbetriebe des Einzelhandels, Köln) für das betreffende Jahr zum Beispiel folgende Werte aus (werktags):

München

75%

ÖPNV, bezogen auf die City

Leipzig

68%


Hamburg

67%


Stuttgart

66%


Frankfurt

61%


Würde der modal split für die Stadtzentren von Großstädten auch nur annähernd den Verhältnissen an peripheren Standorten entsprechen, könnten diese Innenstädte allein aufgrund der nur begrenzt zur Verfügung stehenden Verkehrsflächen nicht funktionieren und überleben.

Ein Problemschwerpunkt in der Innenstadt ist die Koordination von verkehrlichen und nichtverkehrlichen Nutzungen, um den bereits beschriebenen Ansprüchen an Aufenthaltsqualität und Nutzungsvielfalt gerecht zu werden. Die Koordination nichtverkehrlicher Nutzungen mit den Verkehrsträgern des Umweltverbundes ist relativ leicht möglich. Im Fall des Fußgängerverkehrs sind sie ohnehin nicht zu trennen, der Radverkehr und der öffentliche Nahverkehr lassen sich gut in überwiegend nicht verkehrlich genutzte Bereiche integrieren. In der Erfurter Innenstadt lassen sich zum Beispiel gute Lösungsmöglichkeiten erkennen. Die Koordination nichtverkehrlicher Nutzungen mit dem motorisierten Individualverkehr bereitet, u.a. bedingt durch die hohe Verkehrsdichte in der Innenstadt, erheblich mehr Schwierigkeiten.

Verkehrliche Probleme resultieren jedoch nicht allein aus dem Entstehen oder Wachstum des Einzelhandels an peripheren Standorten. Planungsfehler können auch bei der Entwicklung integrierter Standorte zu einer Verschlechterung der Verkehrssituation in der Stadt führen. Neben der Anbindung der Handelsstandorte an das öffentliche Verkehrsnetz ist auch die Anbindung für den Individualverkehr entsprechend zu berücksichtigen, um zu vermeiden,

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daß das vorhandene Straßennetz durch die zusätzlich auftretenden Verkehrsströme überlastet wird.

Neben den Kundenverkehrsströmen darf im Zusammenhang mit dem Einzelhandel auch der Wirtschaftsverkehr nicht vernachlässigt werden. An peripheren Standorten ist seine Realisierung relativ unproblematisch, es existieren genügend Flächen, die für logistische Zwecke genutzt werden können. Aufgrund des geringeren Flächenangebotes in der Innenstadt, ergeben sich hier für die Einzelhandelseinrichtungen häufig Schwierigkeiten.

Wenn die Belieferung der innerstädtischen Einzelhandelsstandorte über unterirdischen Standorte oder auf dem eigenen Grundstück erfolgen kann, laufen die Liefervorgänge meist ab, ohne zu Konflikten mit anderen innerstädtischen Nutzungsformen zu führen. Das Interesse der Planung sollte in diesem Fall vor allem der störungsfreien Zufahrt zu den Lieferpositionen gelten.

Die Belieferung von Handelseinrichtungen in den ostdeutschen Innenstädten erfolgt gegenwärtig zu einem großen Teil von der Straßenseite aus. Lieferpositionen außerhalb des öffentlichen Straßenraums sind bei vorhandenen oder neuerrichteten Kaufhäusern sowie Einkaufspassagen zu finden. Da das Netz logistischer Einrichtungen in einigen Regionen der neuen Bundesländer noch relativ dünn ist, sind hier im Wirtschaftsverkehr noch häufig Fahrzeuge im Einsatz, die für den innerstädtischen Straßenraum zu groß sind. Das Befahren und der Aufenthalt dieser Fahrzeuge im Straßenraum führt immer wieder zu Konflikten mit anderen Verkehrsströmen oder mit den nichtverkehrlichen Nutzungen des Straßenraums.

Da der innerstädtische Straßenraum offenbar nicht allen Ansprüchen des fließenden und ruhenden Verkehrs gerecht werden und gleichzeitig Nutzungsvielfalt und Aufenthaltsqualität bieten kann, müssen aus der Sicht der Stadt- und Verkehrsplanung Prioritäten gesetzt werden. Der Ablauf des notwendigen Verkehrs, zu dem der Wirtschaftsverkehr zu zählen ist, muß gesichert werden, während der für die Funktion der Innenstadt nicht notwendige Verkehr reduziert wird. Dabei muß für jede Stadt definiert werden, in welchem Maß der MIV-Anteil (Motorisierter Individualverkehr) des Kundenverkehrs in der Innenstadt zu akzeptieren ist.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | September 1999

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