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5. Die europäische Verkehrspolitik
- Gemeinschaftsstrategie für eine bedarfsgerechte und auf Dauer tragende Mobilität


Bernd Törkel

5.1 Paradigmenwechsel der Gemeinsamen Verkehrspolitik

Strukturelle Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft verbunden mit der politisch gewollten Liberalisierung der Märkte haben in Europa die Nachfrage nach Dienstleistungen im Personen- und Güterverkehr stark wachsen lassen. Der Trend steigender Verkehrsleistungen hält an. Dabei gehen wesentliche Impulse von den grenzüberschreitenden Beförderungen aus, die stärker wachsen als die einzelstaatlichen Binnenverkehre. Weit überdurchschnittliche Zuwachsraten entfallen auf den Straßen- und Luftverkehr. Die Folgen dieser Entwicklung sind unschwer auszumachen: Kapazitätsengpässe, Unfallrisiken, Umweltbelastungen und die damit verbundenen Nachteile für wirtschaftliches Handeln und unsere Lebensqualität.

Im Spannungsfeld zwischen wachsenden Mobilitätsbedürfnissen und knappen Umweltressourcen steht die Gemeinsame Verkehrspolitik (GVP). Die doppelte Herausforderung lautet:

  • Steigerung der Leistungsfähigkeit und Effizienz des europäischen Verkehrssystems, um die zu erwartenden neuen Verkehrsströme zu bewältigen.

  • Reduzierung der negativen Auswirkungen des Verkehrs auf Mensch und Natur auf ein vertretbares Maß.

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Zur Lösung der komplexen Probleme hat die Kommission 1992 die GVP unter das Leitmotiv einer „auf Dauer tragbaren Mobilität" gestellt. Das Konzept enthält ein Bündel von Maßnahmen, das als integrierter verkehrspolitischer Ansatz umgesetzt werden soll und sich damit von der bisherigen verkehrsträgerspezifischen Sichtweise löst. Unter Einbeziehung der verschiedenen wirtschaftlichen, umweltpolitischen und sozialen Überlegungen wird für ein systematisches und ganzheitliches Vorgehen plädiert. Damit wird ein Paradigmenwechsel vorgenommen von einer Politik, die im wesentlichen auf die Beseitigung von Hindernissen im freien Dienstleistungsverkehr ausgerichtet war, zu einer umfassenden Politik, die auf die Optimierung der Verkehrssysteme in einem wirklich vereinheitlichten Binnenmarkt unter Beachtung der Umweltbelange abzielt. Diese Neuausrichtung der GVP ist auch Leitbild für die Außenbeziehungen der Gemeinschaft, insbesondere gegenüber den Staaten Mittel- und Osteuropas.

Ein leistungsfähiges, umwelt- und sozialverträgliches europäisches Verkehrssystem kann nur durch das Zusammenwirken ordnungs-, investitions- und finanzpolitischer Maßnahmen erreicht werden. Strategisches Ziel ist es, die Erbringung von Verkehrsdienstleistungen und den Zugang zur Mobilität mit erheblich weniger Ressourcen als bisher zu gewährleisten. Das bedeutet konkret: Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen im Güterverkehr, Stärkung der Marktposition umweltfreundlicher Verkehrsträger, Integration der Verkehrssysteme sowie Anwendung hoher Sicherheits- und Umweltstandards. Im Personenverkehr geht es vor allem darum, dem Bürger echte Wahlmöglichkeiten zwischen den Verkehrsmitteln zu geben. Eine Verkehrspolitik, die zur Autonutzung Alternativen bietet, erhöht die Freiheitsgrade der Bürger. Wichtig für den Güter- und Personenverkehr ist auch die Förderung der Intermodalität. Dies setzt die Beseitigung ordnungspolitischer, finanzieller, organisatorischer und technischer Hemmnisse an den Schnittstellen der Verkehrsträger voraus.

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Die Kommission hat eine spezielle Task Force eingesetzt und bereitet eine Initiative zu diesem Themenkomplex vor.

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5.2 Kostenwahrheit und hohe Umweltstandards als Zielvorgaben

Entscheidend für das Gelingen des integrierten Ansatzes ist die Sicherstellung der „Kostenwahrheit". Die Kommission hat zur Preisgestaltung im Verkehr im Dezember 1995 ein Diskussionspapier vorgelegt. Darin wird der Umfang der nicht verursachergerecht angelasteten externen Kosten des Verkehrssystems gemeinschaftsweit auf jährlich 250 Mrd. ECU oder rd. 4% des Bruttoinlandsprodukts (davon rd. 2%-Punkte auf Staus, 1,5%-Punkte auf Unfälle und 0,6%-Punkte auf Luftverschmutzung und Lärm) geschätzt. Auch bei den Wegekosten schwankt der Deckungsbeitrag beträchtlich - sowohl innerhalb als auch zwischen den Verkehrsträgern. Einige Verkehrsnutzer werden zu sehr, manche zu wenig zur Kasse gebeten. Diese Situation ist unfair und ineffizient.

Mit der vorgeschlagenen Preisstrategie sollen keinesfalls die Kosten des Verkehrs für die Gesellschaft insgesamt erhöht werden. Im Gegenteil: Die stärkere Durchsetzung des Verursacherprinzips hilft, die Kosten für Staus, Unfälle, Luftverschmutzung und Lärm zu verringern. Da sich die Kosten je nach Verkehrsträger, Zeit und Ort erheblich voneinander unterscheiden, ist eine weitgehende Differenzierung erforderlich. Eine angemessene und effiziente Preisbildung kann dabei auch die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft stärken. Evtl. Mehreinnahmen ermöglichen eine Reduzierung der Steuer- und Abgabenbelastung durch die Mitgliedsstaaten.

Die Tatsache, daß 90% der gesamten externen Kosten durch den Straßenverkehr verursacht sind und der Lkw seine Infrastrukturkosten nicht vollständig deckt, macht den Handlungsbedarf im Straßengüterverkehr deutlich. Der

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Vorschlag der Kommission für die Nachfolgeregelung der Euro-Vignettenrichtlinie 93/89/EG trägt dem Grundgedanken der Kostenwahrheit Rechnung und ist als Schritt auf dem Weg zu einer Gemeinschaftspolitik der fairen und effizienten Preise zu verstehen. Hierbei geht es im einzelnen

  • um abgestufte Kfz-Steuern je nach Umweltbelastung, zulässigem Gesamtgewicht, Anzahl und Bauweise der (Antriebs-)Achsen;

  • um Benutzungsgebühren zur Anlastung der Wegekosten differenziert nach Umweltbelastung und Straßenschadensklassen (zwischen 750 und 2000 ECU);

  • um einen Zuschlag für externe Kosten bei Mautgebühren (maximal 0,03 ECU pro km); auf sog. „empfindlichen Strecken" liegt dieser Zuschlag höher (bis zu 0,5 ECU pro km).

Langfristig ist an die Umstellung der zeitabhängigen Straßenbenutzungsgebühren auf ein elektronisches System unter Berücksichtigung der Entfernung (road pricing) gedacht.

Die Kommission setzt nicht allein auf den Marktmechanismus. Weitere notwendige Bestandteile des Konzepts für eine auf Dauer tragbare Mobilität sind hohe technische Sicherheits- und Umweltstandards nach der bestverfügbaren Technologie. Die Kommission hat in ihrem Auto-Treibstoff-Programm von Juni 1996 für den Zeitraum bis 2010 ihre Strategie für die Luftreinhaltung, Kraftstoffqualität und PKW-Emissionsstandards festgelegt. Im Interesse der Verkehrssicherheit, fairer Wettbewerbschancen und der Arbeitnehmer liegt auch die einheitliche Anwendung und konsequente Kontrolle der Sozialvorschriften.

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5.3 Maßnahmen in einzelnen Verkehrsbereichen

Die Eisenbahnverkehrspolitik der Gemeinschaft erhielt mit der Richtlinie 91/440/EWG ein neues rechtliches Fundament (Unabhängigkeit der Ge-

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schäftsführung von staatlichen Einflüssen, finanzielle Sanierung einschließlich der Entlastung von Altschulden, Abgeltung gemeinwirtschaftlicher Dienstleistungen). Die Revitalisierung dieses umweltfreundlichen Verkehrsträgers steht jedoch erst am Anfang. Das Weißbuch der Kommission von Juli 1996 zeigt hierfür Perspektiven auf. Dazu gehört u.a. die obligatorische Trennung von Fahrweg und Betrieb. Zur Steigerung des Wettbewerbs und der Leistungsfähigkeit sollen die bisher relativ eingeschränkten Fahrwegzugangsrechte im Güterverkehr ausgeweitet und im Personenverkehr eingeführt werden. In diesem Zusammenhang wird an die Einrichtung internationaler Güterfreeways gedacht. Die Dienstleistungen sollen kostengünstiger und qualitativ besser produziert werden. Weiter schlägt die Kommission Maßnahmen zur Förderung der Interoperabilität des konventionellen Eisenbahnnetzes vor. Für Bahnausrüstungen wird ein einheitlicher Binnenmarkt gefordert.

Der Kombinierte Verkehr (KV) wird ordnungspolitisch und finanziell durch die Richtlinie 92/106/EWG gefördert (u.a. Liberalisierung des Vor- und Nachlaufs, Befreiung bzw. Erstattung bestimmter Steuern). Bei der von der Kommission vorgeschlagenen Fortsetzung des Förderprogramms PACT über 1996 hinaus geht es darum, die Wettbewerbsfähigkeit des KV gegenüber der Straße hinsichtlich des Preis/Leistungsverhältnisses zu verbessern. Der Einsatz fortgeschrittener Technologien im KV wird ebenso gefördert wie der leichtere Zugang zum Markt für kombinierte Verkehrsleistungen.

Die Binnenwasserstraßen und Häfen stellen weitere wichtige Glieder in der multimodalen Transportkette dar. Der Seeverkehr bewältigt 90% des Verkehrs zwischen der Gemeinschaft und der übrigen Welt sowie rd. 35% des Verkehrs zwischen den Mitgliedstaaten. Die Schiffahrt gilt als kostengünstiges, sicheres und umweltfreundliches Verkehrsmittel. Darüber hinaus verfügt sie über genügend freie Kapazitäten. Gelänge es, vermehrt Güter auf die Binnenschiff-

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fahrt und Küstenschiffahrt zu verlagern, würde dies zur Entlastung des Straßennetzes und damit zur Verbesserung der Umweltbilanz beitragen.

In der Luftfahrtpolitik bestand jahrzehntelang volle nationale Handlungsfreiheit. Der Bereich wurde durch ein Netz bilateraler Abkommen geregelt. Die Strukturen waren gekennzeichnet durch staatliche Interventionen in Marktzugang, Kapazitäten und Preise, ein relativ starres Routennetz gemäß den bilateral erteilten Verkehrsrechten sowie staatliches Eigentum an den großen nationalen Linienfluggesellschaften. Durch die Initiativen der Kommission zur Verwirklichung der Dienstleistungsfreiheit auch auf diesem Markt wurde die einzelstaatliche Interventionspolitik zurückgedrängt. In drei Schritten hat der Rat ein Bündel von Maßnahmen beschlossen, die zur Liberalisierung des europäischen Luftverkehrsmarktes geführt haben. Nunmehr geht es darum, die Interessen der Gemeinschaft nach außen wirksam zu vertreten. Bei den Verhandlungen der Kommission mit den USA geht es um die Schaffung eines gemeinsamen transatlantischen Luftverkehrsmarktes (common aviation area). Die technische Sicherheit des Luftverkehrs bleibt eine bedeutende staatliche Aufgabe.

In ihrem Grünbuch „Das Bürgernetz" beschreibt die Kommission die Probleme des öffentlichen Personenverkehrs (ÖPV). Aus den Problemen der Ballungsräume wird die Notwendigkeit einer Trendwende zugunsten des ÖPV abgeleitet. Für integrierte Lösungen sind nach dem Grundsatz der Subsidiarität in erster Linie regionale und lokale Entscheidungsträger zuständig. Die Rolle der Gemeinschaft besteht eher darin, Rahmenbedingungen zu schaffen und Entwicklungen zu fördern. Der Informationsaustausch und die Weitergabe von Informationen über bewährte Verfahren und neueste Techniken des ÖPV in ganz Europa dürften für die Planung und Umsetzung für alle Ebenen von Nutzen sein.

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5.4 Infrastruktur- und Forschungsaktivitäten

Seit Maastricht gehört auch eine abgestimmte infrastrukturelle Konzeption der Gemeinschaft zu den wichtigsten Aufgaben der GVP. Der Leitlinienvorschlag der Kommission von April 1994 zielt darauf ab, die derzeitigen auf einzelne Verkehrsträger ausgerichteten nationalen Verkehrsnetze bis zum Jahre 2010 in einem transeuropäischen Verkehrsnetz (TEN) zusammenzufassen. Der Investitionsbedarf hierfür wird auf über 400 Mrd. ECU geschätzt, der überwiegend von den Mitgliedstaaten zu tragen ist. Der Vorschlag wurde im Wege des Mitentscheidungsverfahrens nach Durchführung der Schlichtung zwischen Rat und Parlament (Entscheidung Nr. 1692/96/EG) angenommen. Die 14 bedeutendsten Vorhaben, die vom Europäischen Rat Ende 1994 auf der Grundlage der Arbeiten der sog. Christophersen-Gruppe als prioritär identifiziert wurden, haben ihren Schwerpunkt im Bereich Eisenbahnen. Das Finanzvolumen beläuft sich auf etwa 90 Mrd. ECU, darunter entfallen 90% auf Eisenbahnvorhaben. Die Grundregeln für die Gewährung von Gemeinschaftszuschüssen für die TEN sind in der Verordnung (EG) Nr. 2236/95 festgelegt.

Forschungs- und Entwicklungsaktivitäten leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Lösung der Verkehrsprobleme. Unter Berücksichtigung aller verkehrsrelevanter Forschungsthemen stehen hierfür fast 1 Mrd. ECU zur Verfügung. In diesem Zusammenhang sind insbesondere die Telematikvorhaben zu nennen. Sie können zur effizienteren Nutzung der Verkehrsinfrastruktur und zum rationelleren Einsatz der Verkehrsmittel beitragen. Durch informatorische Vernetzung der Verkehrsträger werden die Bildung multimodaler Transportketten begünstigt, Umweltbelastungen verringert und nicht zuletzt die Verkehrssicherheit verbessert. Viele Telematikdienste bewähren sich bereits im praktischen Einsatz (z.B. Betriebsleitsysteme im ÖPV, Flottenmanagement, Sen-

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dungsverfolgung). Kommission und Rat wollen den Implementierungsprozeß gemeinsam beschleunigen. Für Anfang 1997 ist die Vorlage eines Aktionsplans für die Einführung von Telematikanwendungen im Straßenverkehr vorgesehen.

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5.5 Weiterhin großer Handlungsbedarf

Mit Maastricht wurde der gesellschaftliche Auftrag und Anspruch an die GVP erweitert. Über den Beitrag zum Binnenmarkt hinaus wurde die Verkehrspolitik ausdrücklich auch zur Berücksichtigung der Umweltbelange, zur Steigerung der Verkehrssicherheit und zur Schaffung transeuropäischer Verkehrsnetze verpflichtet. Die Grundlinien dieses neuen Entwicklungsmodells zeichnen sich klar ab. Die konkrete Gestaltung der verkehrlichen Zukunft erfordert auf allen Ebenen noch viel Arbeit. Die Größe der Aufgabe darf nicht unterschätzt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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