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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 4]


2. Das Konzept des Schlanken Verkehrs mit begrenzter Verkehrsleistung und hoher Mobilität

Gert Marte

2.1 Ziele

Die wesentlichen Ziele des Schlanken Verkehrs [Fn. 1: Haefner, Klaus; Marte, Gert: „Der Schlanke Verkehr - Handbuch für einen umweltfreundlichen und effizienten Transport von Personen und Gütern", Berlin 1994] sind die Begrenzung der Fahrzeugkilometer und die Maximierung der in Personenkilometern gemessenen Mobilität unter der Randbedingung konstanter Fahrzeugkilometer. Die Fahrzeugkilometer als Leitgröße für die schädlichen Nebenwirkungen des Verkehrs zu wählen, ist üblich und deshalb nicht umstritten. Es wird auch an anderer Stelle vorgeschlagen, die Fahrzeugkilometer zu begrenzen, um eine nachhaltige Mobilität zu erreichen. Die folgende Abbildung soll die Auswirkungen der Maßnahmenpakete verdeutlichen. Dabei steht 0 für die derzeitige Verkehrspolitik, 1 für die beste derzeitige Praxis, 2 für Straßengebühren und Verkehrsberuhigung und 3 für drastische Benzinpreiserhöhungen.

Abbildung 1: Auswirkungen der OECD/ECMT Maßnahmenpakete auf die Fahrzeugkilometer [Fn. 2: EMCT, OECD, Urban travel and sustainable development, 1995]

Abbildung 1: Auswirkungen der OECD/ECMT Maßnahmenpaketeauf die Fahrzeugkilometer

[Seite der Druckausgabe: 5]

Die in Personenkilometern gemessene Mobilität zu maximieren, ist aus mehreren Gründen umstritten. Es gibt unterschiedliche Meinungen darüber, ob die derzeitige Mobilität notwendig ist oder nicht. Der stetig weiter wachsende PKW-Bestand ist allerdings ein Zeichen dafür, daß die Mehrheit der Bevölkerung eine möglichst hohe Mobilität erreichen will. Gegen die Messung der Mobilität durch die Personenkilometer wird ins Feld geführt, daß die Zielerreichbarkeit ein besseres Nutzenmaß ist. Bei konstanter Zieldichte führt ein Maximum der Personenkilometer auch zu einer maximalen Zielerreichbarkeit. Bei Maßnahmen, die die Zieldichte wesentlich beeinflussen, kann es aber nützlich sein, die Zielerreichbarkeit als Kriterium zu wählen. Die beim Konzept des Schlanken Verkehrs vorgesehenen Maßnahmen sind aber so maßvoll, daß man nicht mit einer wesentlichen Änderung der Zieldichte rechnen muß.

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2.2 Maßnahmen

Es soll eine flächendeckende Alternative zum einfachbesetzten PKW entwickelt werden. Grundsätzlich kann man Fahrzeuge mit höherem Besetzungsgrad und sehr viel kleinere Mikrofahrzeuge einsetzen. Ob man Fahrgemeinschaften, Sammeltaxis, Bürgerbusse oder Mikrofahrzeuge einsetzt, ist für das Grundkonzept des Schlanken Verkehrs nicht so wichtig. Entscheidend ist die Prioritätensteuerung für alle platzsparenden Verkehrsmittel durch Sonderparkplätze und Sonderspuren. Der Umweltverbund aus Fußgängerverkehr, Radverkehr und öffentlichem Verkehr soll um die mehrfachbesetzten PKW und die Mikrofahrzeuge ergänzt werden. Die Politik verfügt über diverse Mittel, bei nicht gewünschtem Straßenausbau gewisse Maßnahmen durchzusetzen (Abbildung 2), die entweder auf Gebühren oder Einschränkungen basieren.

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Abbildung 2: Politische Entscheidungen

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2.3 Menschen im Verkehr

Wenn man Verkehrskonzepte untersuchen will, muß man das Verhalten der Menschen im Verkehr kennen. Bei der Analyse des Schlanken Verkehrs kommt es vor allem auf Verhaltensweisen an, die die Fahrzeugkilometer und Personenkilometer stark beeinflussen.

Die Abbildung 3 zeigt die Abhängigkeit der Tagesdistanz von der Tagesgeschwindigkeit nach Herz, 1984 und Mogridge, 1986. Es zeigt sich, daß die

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gemessenen Tagesdistanzen proportional zur Tagesgeschwindigkeit ansteigen, woraus ein nahezu konstantes Zeitbudget folgt. Dies ist von entscheidender Bedeutung, da viele Verkehrsuntersuchungen - fälschlicherweise - von einer konstanten Tagesdistanz ausgehen. Aus Abbildung 3 geht hervor, daß das Verkehrsvolumen durch Geschwindigkeitsänderungen steuerbar ist. Bei von der Geschwindigkeit unabhängigen Tagesdistanzen sind die Fahrzeugkilometer durch Tempoänderungen nicht zu beeinflussen. Daraus wird klar, daß die Berücksichtigung eines konstanten Zeitbudgets für die Analyse von Verkehrskonzepten unbedingt notwendig ist.

Abbildung 3: Mittlere Tagesdistanz für erwerbstätige Männer in Abhängigkeit von der Tagesgeschwindigkeit

Abbildung 3: Mittlere Tagesdistanz für erwerbstätige Männer in Abhängigkeit von der Tagesgeschwindigkeit [Fn. 3: Herz, R., Verkehrsverhaltensänderungen 1976-1982, Institut für Städtebau und Landesplanung, Universität Karlsruhe 1984]

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Das nahezu konstante von der Stadtstruktur unabhängige Reisezeitbudget hat einige wichtige Konsequenzen. Man kann die Tagesdistanz durch Tempoänderungen wesentlich beeinflussen. Den Verkehr durch Tempolimits oder begrenzte Straßenkapazitäten auszubremsen, wird deshalb als wirksame Maßnahme eingestuft. Da das Reisezeitbudget nicht wesentlich von der Stadtstruktur abhängt, läßt sich die Tagesdistanz durch Stadtstrukturänderungen allein nicht wesentlich verringern. Das Konzept, die Stadt der kurzen Wege durch Stadtstrukturänderungen zu fördern, ist deshalb kein sinnvoller Ansatz.

Im Gegensatz zum Reisezeitbudget sind die Reisekostenbudgets je nach Einkommen sehr unterschiedlich. (Unter Kostenbudget werden die Gesamtkosten verstanden, die ein Verkehrsteilnehmer im Verkehr ausgeben kann.) Da sich diese Kostenbudgets schwer direkt messen lassen, wird der Bereich der monatlichen Ausgaben pro PKW nach Abbildung 4 als erster Anhaltspunkt gewählt. Man erkennt, daß die Ausgaben für den PKW jetzt schon um den Faktor 5 auseinander liegen. Wirksame Kostenerhöhungen führen deshalb immer dazu, daß die Einkommensschwachen vom Individualverkehr ausgeschlossen werden.

Abbildung 4:  Abschätzung des Bereichs der stark unterschiedlichen Kostenbudgets durch den Bereich der tatsächlichen Ausgaben für PKW pro Monat

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Wichtig ist auch die Verkehrsmittelwahl. Regional streuen die Meßergebnisse sehr. Für einen wichtigen Sonderfall ergeben sich nach Abbildung 5 übersichtliche Verhältnisse. Im Zentrum von Paris und London steigt die Mehrheit der Verkehrsteilnehmer in den öffentlichen Verkehr um. Dabei gleichen sich die Luftliniengeschwindigkeiten von individuellem und öffentlichem Verkehr an (Abbildung 5). Dies kann man sich nur so erklären, daß die geringen zur Verfügung stehenden Straßenkapazitäten bei fortgesetzter Nutzung des PKWs zu geringeren Geschwindigkeiten im IV führen würden, als sie im ÖV erreicht werden. Es steigen daher so lange Verkehrsteilnehmer in den ÖV um, bis sich die Reisezeiten angeglichen haben. Man kann sagen, daß der Individualverkehr im Tempo an den ÖV angebunden wird.

Abbildung 5: Verkehrsmittelwahl im Zentrum von Millionenstädten

Abbildung 5: Verkehrsmittelwahl im Zentrum von Millionenstädten [Fn. 4: Mogridge, M.J.H., If London is more spread out than Paris, why don't Londoners travel more than Parisiens?, Transportation 13/1986]

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2.4 Der gebundene Verkehr

Ein an den ÖV gebundener IV entsteht, wenn die dem IV zur Verfügung stehende Straßenkapazität so klein ist, daß ohne die „Umsteiger" die Geschwindigkeit im IV geringer als im ÖV wäre. Es wird dabei von einer konstanten Geschwindigkeit im ÖV ausgegangen, was ein im wesentliches staufreies Netz des ÖV (U-Bahn, Straßenbahn auf Sondertrassen) voraussetzt. Die spezifischen Eigenschaften des gebundenen Verkehrs, der Ausgangspunkt für den Schlanken Verkehr ist, sind in Abbildung 6 den Eigenschaften des ungebundenen Verkehrs gegenübergestellt.

(a)

Ziele

Maßnahmen


Tempo im IV erhöhen

Kapazität im IV erhöhen


Verkehrsmittelwahl zugunsten des ÖV ändern

Tempo im ÖV erhöhen


(b)

Ziele

Maßnahmen


Tempo im IV erhöhen

Tempo im ÖV erhöhen


Verkehrsmittelwahl zugunsten des ÖV ändern

Kapazität im IV verringern

Abbildung 6: Ziele und zugehörige Maßnahmen bei einer Prioritätensteuerung für den ÖV (a) ungebundener Verkehr, (b) gebundener Verkehr

Beim ungebundenen Verkehr kann man die Fahrzeugkilometer nur reduzieren, wenn der ÖV schneller als der IV wird und damit Autofahrer in den schnelleren ÖV umsteigen. Beim gebundenen Verkehr ist die regionale Fahrleistung über die nutzbare Kapazität für den IV einstellbar (über z.B. Straßen-

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rückbau oder Parkplatzmanagement). Dabei ändert sich die Mobilität (Personenkilometer) nicht, da die vom ÖV (bei „beliebiger" Kapazität) vorgegebene Geschwindigkeit konstant bleibt.

Wie erwähnt, zielt der Schlanke Verkehrs darauf ab, bei gegebenen Fahrzeugkilometern die Mobilität so groß wie möglich zu machen. Die Fahrzeugkilometer können durch die Beschränkung der Kapazität des IV gering gehalten werden. Da Verbesserungen der Mobilität durch Geschwindigkeitsanhebung des ÖV sich als sehr kostenaufwendig erweisen, ist zu prüfen, ob das angestrebte Ziel auch mit preiswerteren Alternativen - wie Mehrpersonenfahrzeuge und Mikrofahrzeuge - erreicht werden kann.

In Abbildung 7 ist dargestellt, wie sich die Personenkilometer ändern, wenn man die Fahrzeugkilometer z.B. durch eine Kapazitätsreduzierung im Straßennetz verringert. Angenommen ist dabei eine Tür-zu-Tür-Reisegeschwindigkeit von 25 km/h für Fahrgemeinschaften, denen durch Sonderspuren und Sonderparkplätze eine Priorität eingeräumt wird. Ohne Staus soll die Reisegeschwindigkeit im IV 30 km/h betragen. Bei einem Reisezeitbudget von 1,5 h ergeben sich daraus für Einzelfahrer 45 Fahrzeugkilometer und 45 Personenkilometer pro Tag bei Vernachlässigung der Kilometeranteile für Fuß- und Radwege.

Reduziert man die Kapazität im Einzelfahrernetz (z.B. durch Rückbau, Parkplatzmanagement), dann sinken zunächst Fahrzeugkilometer und Personenkilometer proportional zur verringerten Geschwindigkeit. Sobald die Einzelfahrer langsamer werden als die Fahrgemeinschaften, steigen so viele Einzelfahrer in Fahrgemeinschaften um, daß sich die Geschwindigkeiten angleichen. Es entsteht ein an Fahrgemeinschaften gebundener Einzelfahrerverkehr.

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Abbildung 7: Schlanker Verkehr durch Umsteigen von Einzelfahrern in Fahrgemeinschaften

Abbildung 7: Schlanker Verkehr durch Umsteigen von Einzelfahrern in Fahrgemeinschaften

Da die Geschwindigkeiten sich nicht mehr ändern, wenn man die Kapazität im Einzelfahrernetz weiter reduziert, bleiben auch die Personenkilometer konstant. Die Grenze ist natürlich erreicht, wenn alle Einzelfahrer in Fahrgemeinschaften umgestiegen sind. Abbildung 7 zeigt, daß man mit gegebenen Fahrzeugkilometern die höchste Mobilität erreicht, wenn man eine möglichst schnelle Alternative zum IV anbietet. Bei sehr hohen Verkehrsdichten und geringem Platzangebot bleibt allerdings der Öffentliche Verkehr als Alternative unverzichtbar.

Die genauen Zusammenhänge zwischen Fahrzeug-km und Personen-km beim Umsteigen von Einzelfahrten auf Fahrgemeinschaften sind noch nicht empirisch abgesichert. Experimente in den USA haben aber gezeigt, daß man

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allein durch Sonderparkplätze für Fahrgemeinschaften die Einzelfahreranteile um 20 bis 40 % verringern kann. Außerdem wird die Reduzierung der Fahrzeugkilometer durch Tempoverringerung für Einzelfahrer durch die Zeitbudgetmessungen bestätigt.

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2.5 Wirkungen des Schlanken Verkehrs

Der Schlanke Verkehr macht es möglich, das Verkehrswachstum der nächsten 10 bis 20 Jahre ohne Ausbau des Straßennetzes und ohne wesentliche Tempoverringerungen aufzufangen. Der Grund dafür ist, daß die zum einfach-besetzten PKW angebotenen Alternativen nur um 20 bis 30% langsamer in der von-Tür-zu-Tür gemessenen Reisegeschwindigkeit sind. Da die Reisegeschwindigkeiten im PKW-Verkehr schon heute 20 bis 30% unter der optimalen Geschwindigkeit liegen, ist damit zu rechnen, daß bei weiteren Verringerungen der Reisegeschwindigkeiten für Einzelfahrer Verkehrsteilnehmer auf Fahrgemeinschaften und den ÖPNV umsteigen und so das Geschwindigkeitsniveau stabilisieren.

Da die platzsparenden Verkehrsmittel aus den Staus herausgenommen werden, treten Mobilitätsgewinne auf. Insgesamt ist deshalb auch bei wesentlich höherem PKW-Bestand nicht mit einer geringeren Mobilität der Autofahrer zu rechnen. Für die politische Durchsetzbarkeit des Schlanken Verkehrs ist auch wichtig, daß keine vom Einkommen abhängige Bevorzugung erfolgt. Dieses Konzept ist also sozial ausgewogen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Mai 2001

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