FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 36 / Fortsetzung]


7. Entwicklungsperspektiven neuer Telematikprodukte

Die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft hängt entscheidend davon ab, ob es gelingt, die Mobilität optimal im Sinne der ökonomischen, der ökologischen und der sozialen Anforderungen zu steuern, ohne die Verkehrs- und Transportbedürfnisse einzuschränken. Hierbei kann die Telematik auch nach Auffassung der Siemens AG wichtige Beiträge leisten. Die Industrie ist aufgerufen, neue Produkte zu entwickeln und auf den Markt zu bringen. Hohe Nutzen für die Anwender stellen dabei vor allem Telematikbausteine in Aussicht, die auf ein verkehrsträgerübergreifendes Verkehrsmanagement abzielen. Von entscheidender Bedeutung ist dabei eine Standardisierung und Normung der verschiedenen Systeme. Nur dann kann verhindert werden, daß Europa die Marktführerschaft an Unternehmen des amerikanisch-pazifischen Raumes verliert und einen Teil der Wachstums- und Beschäftigungschancen

[Seite der Druckausgabe: 37]

auf diesem wichtigen Zukunftsmarkt verspielt. Eine zentrale Voraussetzung für die Nutzung der Potentiale stellen daneben Investitionen in moderne Kommunikationssysteme dar. Beispielsweise macht der Aufbau eines Glasfaser- und Funksystems, das auch in zwanzig Jahren noch leistungsfähig ist, eine erneute kostenintensive Umstellung des Kommunikationssystems überflüssig.

Entsprechende Verkehrsmanagementsysteme sind hauptsächlich in den Segmenten zu finden, in denen Effizienzverbesserungen für die Unternehmen eine Frage des Überlebens sind. Das gilt z.B. für den Speditionsbereich und das Transportgewerbe; in den übrigen Verkehrssektoren erfolgt der Einsatz von Telematikbausteinen erst in der jüngeren Vergangenheit. Entsprechende Telematiksysteme können nicht nur zur Steuerung des Verkaufsablaufs, sondern ebenso zur Qualitätssicherung von Dienstleistungen eingesetzt werden. Treten nämlich Störungen oder Unregelmäßigkeiten im Verkehrsablauf auf, sind Instrumente sinnvoll, die solche Behinderungen frühzeitig anzeigen und geeignete Gegenmaßnahmen einleiten.

Kommunikations- und Informationstechnologien tragen auch im Bereich des Schienenverkehrs zur Lösung von Problemen bei. Hier soll der Einsatz der Telematik die bisher administrative, hierarchische und damit inflexible Betriebsführung dynamisieren und zwar in dem Sinne, daß nicht jeder Betriebsstörung über Dienstbestimmungen und -anweisungen zu begegnen ist. Vielmehr wird ein Leitsystem gesucht, daß ein unternehmerisches, zielorientiertes und verantwortungsbewußtes Agieren und eine flexible Handhabung von Unregelmäßigkeiten erlaubt. Die Aufgabe der Industrie lag zunächst darin, Kommunikationssysteme zu entwickeln. Ein Beispiel hierfür ist der Zugbahnfunk. Durch seine Einführung konnten zahlreiche schwere Unfälle vermieden werden, indem entgegenkommenden Zügen beispielsweise Informationen über Hindernisse auf dem Gleiskörper übermittelt wurden. Dieser Sicherheitsgewinn stellt einen "added value" der Telematikanwendung dar; es lassen sich Nutzen realisieren, die bei Einführung des Systems gar nicht geplant waren.

Wichtige Entwicklungsperspektiven neuer Telematikprodukte liegen im Integrieren aller für die optimale Steuerung und Regelung des Verkehrsprozesses relevanten Daten. Zur Verbesserung der Qualität von Verkehrssystemen werden neue Telematikbausteine erforderlich, die das Sammeln und Trans-

[Seite der Druckausgabe: 38]

portieren jener Daten ermöglichen, die Transportprozesse in der augenblicklichen Situation beschreiben. Zudem müssen die Telematikanwendungen die erfaßten Daten aufbereiten und verknüpfen, so daß hieraus Steuerbefehle resultieren, die den Verkehrsablauf beeinflussen. Ein solches Verkehrsmanagementsystem, das die spezifischen Konditionen und die Komplexität des Verkehrssektors berücksichtigt, trägt dazu bei, die Verkehrsprozesse, die an der Grenze der Leistungsfähigkeit angelangt sind, zu optimieren statt zu verwalten.

Bei den Entwicklungspotentialen neuer Telematikprodukte stellt das Nutzen der Wege der Gegenrichtung eine Option dar. Häufig ist zu beobachten, daß sowohl bei der Schienen- als auch bei der Straßeninfrastruktur eine Fahrtrichtung überlastet ist, während in Gegenrichtung die Kapazität nicht ausgelastet wird. Durch eine Steuerung oder Überwachung auf Basis der Telematik lassen sich diese freien Kapazitäten in Anspruch nehmen. Speditionen können im Rahmen eines Umleitungsmanagements bei solchen Überlastungen der Infrastruktur ihre Lastkraftwagen als intelligente und individuell steuerbare Transportgefäße den Anforderungen und Empfehlungen entsprechend flexibel einsetzen. Der Schienenverkehr hat diese Möglichkeit aufgrund einer fehlenden zentralen Steuerung bisher nur in Teilbereichen.

Eine weitere Option sieht die Siemens AG in der Entwicklung von Telematiksystemen für optimale Geschwindigkeiten von Verkehrsprozessen. Insbesondere im schienengebundenen Verkehr erbringt die Höchstgeschwindigkeit nicht die maximale Leistungsfähigkeit des Netzes. Diese wird z.B. im U-Bahn-Verkehr bei etwa 60 km/h erreicht. Auch bei Straßenbahnen ermöglichen rechnergestützte Betriebsleitsysteme kapazitätssteigernde Geschwindigkeiten. Die gleichen Effekte treten ebenso bei der Straßeninfrastruktur auf. So können Verkehrsbeeinflussungsanlagen die Geschwindigkeiten auf Autobahnen flexibel und belastungsabhängig regeln. Dies führt zu Zeiten eines erhöhten Verkehrsaufkommens zu einer Verstetigung der Verkehrsströme und damit zu einer Erhöhung der Verkehrssicherheit. Die Freigabe höherer Geschwindigkeiten in verkehrsärmeren Zeiten senkt die Reisezeiten im Vergleich zu starren Geschwindigkeitsbegrenzungen. Fixe Geschwindigkeitsbegrenzungen werden zudem von zahlreichen Autofahrern nicht eingehalten. Deshalb reichen oft wenige undisziplinierte Verkehrsteilnehmer zur Störung des Verkehrsflusses aus mit der Konsequenz einer Staubildung, der kein Unfallereignis vorausgeht. Dementsprechend erscheint

[Seite der Druckausgabe: 39]

eine bedarfsabhängige, flexible Geschwindigkeitsbegrenzung psychologisch sinnvoll. Sie steigert die Akzeptanz beim Autofahrer, zumal die Steuerung der Geschwindigkeiten über Verkehrsbeeinflussungsanlagen Kapazitätssteigerungen von etwa 20% in Aussicht stellt. Auf dieser Basis können erhebliche Infrastrukturkosten eingespart werden.

Ein bedeutendes Marktpotential der Telematiksysteme liegt in der Etablierung von Notrufsystemen insbesondere für den Individualverkehr. Aber auch beim ÖPNV bestehen Einsatzmöglichkeiten. So hat z.B. die Berliner S-Bahn ein System installiert, bei dem über Satellitenortung ohne Mitwirkung des Fahrers oder eines Fahrgastes die Lokalisierung eines Notrufs möglich ist. Der Standort des Zuges läßt sich bis auf wenige Meter genau auf einem Stadtplan abbilden. In Notsituationen entfällt damit die Beschreibung des Zugstandortes, und es lassen sich erhebliche Zeitverluste vermeiden.

Die Marktchancen und Entwicklungspotentiale neuer Telematikprodukte hängen entscheidend davon ab, inwieweit der Nutzen solcher Systeme der Bevölkerung vermittelt werden kann. Beispielsweise werden die Realisierungschancen von elektronischen Gebührenerhebungen auch davon abhängen, inwieweit es gelingt, bei den Autofahrern die Akzeptanz dieses Instruments als marktwirtschaftskonformer Ansatz sicherzustellen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Klarstellung, daß es nicht nur um die Lösung eines fiskalpolitischen Problems geht, bei der auch Argumente gegen die Einführung des road pricing entkräftet werden können, weil gerade moderne Telematiksysteme mit ihren technischen Möglichkeiten eine Berücksichtigung sozialer Härtefälle erlauben. Vielmehr dient die Verkehrsdatenerfassung in Verbindung mit der lastabhängigen Bezahlung von Straßenbenutzungsgebühren insbesondere der Verbesserung der Verkehrs- und Umweltverhältnisse.

Große Bedeutung kommt nach Einschätzung der Siemens AG den Möglichkeiten der automatischen Erfassung von statistischen Daten über den Einsatz der Telematik zu (Störungs-, Betriebsstatistiken, Verkehrszählungen). Die gegenwärtigen städtischen Verkehrsplanungen basieren überwiegend auf nicht aktuellen Daten über den Verkehrszustand. Umfassende Verkehrszählungen erfolgen lediglich in großen zeitlichen Abständen. Änderungen innerhalb der Verkehrsströme bis zur Umsetzung der Verkehrsplanung werden deshalb nicht mehr berücksichtigt mit der Konsequenz, daß beabsichtigte

[Seite der Druckausgabe:40]

Wirkungen der Verkehrspolitik durch die aktuelle Entwicklung teilweise kompensiert werden können. Zudem dauert es mit den bisherigen empirischen Verfahren sehr lange, bis öffentliche Verkehrsunternehmen neue Verkehrsströme identifiziert haben und darauf mit neuen Dienstleistungen oder Änderungen des Angebotes reagieren. Der Einsatz von Telematik ermöglicht dagegen eine permanente Anpassung der Angebotsplanung an die aktuellen Verkehrszustände.

Im schienengebundenen Verkehr wurde bisher durch verzögerte Einführung von Telematikbausteinen ein großes Potential für einen attraktiven Bahnverkehr nicht genutzt. Dies gilt auch für S- und U-Bahnen im Nahverkehr. Die Zukunftsaussichten der Bahn im Güterverkehr werden entscheidend davon abhängen, inwieweit es durch den Einsatz der Telematik gelingt, den Güterwaggon - ähnlich wie den Lkw - intelligenter einzusetzen. Die Ladungsüberwachung, Identifizierung des Waggons und die automatische Kupplung stellen nur einige Beispiele für den Einsatz moderner Verkehrssystemtechnik dar. Während die mittlere Reisegeschwindigkeit eines Gutes in Europa vom Versender zum Empfänger im Straßengüterverkehr um ca. 10% in den letzten Jahren gefallen ist und heute bei etwa 40 km/h liegt, ist sie im schienengebundenen Güterverkehr von 15 auf 18 km/h gestiegen. Der Einsatz neuer Telematikbausteine insbesondere im Verlade-, Belade- und Rangiervorgang hat zu Zeitgewinnen während des Gütertransportes geführt, die dazu beitragen, daß der Schienengütertransport seinen Qualitätsrückstand gegenüber der Straße verringert. Derzeit bestehen aber nach wie vor Produktivitätsdefizite bei der Bahn. Diese spiegeln sich darin, daß ein Lkw durchschnittlich im Jahr 120.000 Lastkilometer in Deutschland fährt, während ein Güterwaggon lediglich 8.000 Lastkilometer erreicht. Hier werden Ansatzpunkte neuer Telematiksysteme und -produkte bei den Eisenbahnen deutlich. Der Einsatz moderner Telematikbausteine, mit denen die Bahn Güter wie eine Spedition verfolgen und steuern kann, wird die Wettbewerbsposition der Schiene gegenüber dem Straßengüterverkehr verbessern und Verkehrsverlagerungen auslösen.

Ein weiteres großes Aufgabenfeld ergibt sich für die verschiedenen Telematikanwendungen im Schnittstellenmanagement Schiene/Straße. Der Bahn sind Haus-zu-Haus-Belieferung im Güterverkehr nur eingeschränkt möglich. Daher ist sie auf die Kooperation mit der Straße angewiesen. Die Sammlung und Verteilung der Waren erfolgt im Nahbereich über den Straßengüter-

[Seite der Druckausgabe: 41]

verkehr. Die Zeitverluste während des Rangier- und Umladevorganges lassen sich durch den Einsatz moderner Kommunikationstechnologien minimieren. Hierzu werden Informationen über den Güterzug (die Länge; Angaben darüber, in welchen Waggons sich welches Stückgut befindet) frühzeitig weitergegeben. So kann bereits bei Ankunft des Zuges im Güterbahnhof der Lkw neben dem Gleis genau positioniert warten, um die jeweilige Ladung zu übernehmen. Der Umladevorgang läßt sich so rasch durchführen, weil durch Telekommunikation eine Verknüpfung von ausreichender Qualität und Zuverlässigkeit mit den Systemen der Speditionen gelingt.

Weitere Ansatzpunkte zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs gegenüber dem Individualverkehr stellen Entwicklungen im Bereich der zentralen Betriebsführung dar. Ein solches Telematiksystem baut Siemens z.Zt. auf der Strecke Magdeburg - Potsdam auf. Dieses System ermöglicht es, bei Störungen (z.B. Gleisbauarbeiten) den Zugweg im vorhandenen Netz flexibel zu steuern, um die Restriktionen kundenfreundlich zu umgehen. Durch ein solches Umleitungsmanagement kann der Qualitätsverlust (Zeitverlust) minimiert werden. Dieses Konzept soll zu einem neuen Betriebsführungssystem ausgebaut werden, in dem Störungen besser identifiziert und deren Auswirkungen im nächsten Knotenpunkt über Betriebssimulationen ermittelt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

Previous Page TOC Next Page