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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausgabe: 25 / Fortsetzung]


5. Potentiale und Grenzen der Telematik zur Lösung der Verkehrsprobleme

5.1 Optimierung des Verkehrsablaufs durch telematikgestützte Verkehrsmanagementsysteme

Im Rahmen eines wirksamen modernen Verkehrsmanagements für Ballungsräume sollen der Verkehrsfluß harmonisiert, die vorhandene Infrastruktur effizienter genutzt, die Kooperation der Verkehrsträger gefördert und damit die ökologischen und sozialen Folgeprobleme des Verkehrswachstums entschärft

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werden. Entsprechende Systeme setzen auf eine engere Kooperation von Individualverkehr und öffentlichem Verkehr. Hierzu werden umfangreiche Erhebungen und Aufbereitungen von Verkehrsdaten (u.a. über die Verkehrssituation, Witterungsbedingungen, Fahrpläne, Betriebszustände des öffentlichen Verkehrs, Notfall- und Unfallmeldungen) notwendig. Die Erfassung und Umsetzung der Daten in Steuerungsbefehle für die Verkehrsleit- und -informationssysteme sind die Hauptaufgaben der Verkehrsleitzentralen. Diese verarbeiten Daten, die von Erfassungs- und Sendesystemen an der Straße (z.B. Induktionsschleifen, Funkbaken), von Sensoren in Fahrzeugen, als Signale "intelligenter" Erfassungsstationen (z.B. ÖPNV-Funkempfänger) und von Satelliten übermittelt werden. Sie steuern die angeschlossenen Signalanlagen, Wechselverkehrszeichen, Warnzeichen etc. zeit- und/oder verkehrsabhängig.

Der verkehrsträgerübergreifende Informationsverbund soll im Personenverkehr jedem Reisenden Informationen zur Verkehrslage, zu Gefahrensituationen, Empfehlungen günstiger Verkehrsrouten, Angaben zu den öffentlichen Verkehrsmitteln sowie Veranstaltungshinweise zur Verfügung stellen.

Im Bereich des öffentlichen Verkehrs zielen dynamische Informationssysteme darauf ab, den Fahrgästen eine optimale Routenplanung zu ermöglichen. Angaben zu Abfahrts-, Ankunfts- und Anschlußzeiten sowie über Verspätungen sind schon vor Reiseantritt bereitzustellen, weil auf diese Weise die Attraktivität des öffentlichen Verkehrs und die Akzeptanz der Benutzer erhöht werden können. Die Anwendungsbereiche der Telematikbausteine liegen hier insbesondere dort, wo bestehende quantitative und qualitative Mängel eine Steigerung des Fahrgastaufkommens behindern. Der Einsatz rechnergestützter Betriebsleitsysteme hilft, die Probleme des öffentlichen Verkehrs - fehlende Direktverbindungen, zu lange Takt- und Fahrzeiten sowie nicht abgestimmte Umsteigebeziehungen - zu beseitigen, und verbessert dadurch die Wertigkeit des Verkehrsangebots. Die Verkehrsrechnersysteme überwachen den Verkehrsfluß im ÖPNV, ermöglichen die Abstimmung der Fahrpläne, erfassen Betriebsstörungen und Engpässe und minimieren so die Zeitverluste des Fahrgastes. In Zürich konnte z.B. allein durch die elektronische Bevorrechtigung des ÖPNV an Lichtsignalanlagen die durchschnittliche Reisegeschwindigkeit der Busse von 20 auf 35 km/h gesteigert werden.

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Nach Einschätzung des Instituts für Zukunftsstudien und Technologiebewertung IZT vermag der Einsatz moderner Informations- und Telekommunikationstechnologien auch im schienengebundenen Personen- und Güterverkehr beträchtliche Kapazitätsreserven zu mobilisieren. Die Streckenleistungsfähigkeit der Schieneninfrastruktur läßt sich durch rechnergestützte Zugüberwachung, automatische Abstandssicherung sowie automatische Zugführung deutlich erhöhen.



Auch der Verkehrsablauf im motorisierten Individualverkehr läßt sich durch telematikgestützte Verkehrsmanagementsysteme optimieren. Neben den Instrumenten zur kollektiven Verkehrssteuerung in Ballungsräumen - dynamische Lichtsignalanlagen, Parkleitsysteme, Verkehrsfunk, Verkehrsbeeinflussungsanlagen - spielen die individuellen Verkehrsleit- und -informationssysteme zur Navigation und Zielführung eine bedeutende Rolle. Die verkehrsabhängige, dynamische Zielführung basiert auf der Zweiwegekommunikation. Die Fahrzeuge werden nicht nur mit Informationen über die Verkehrslage versorgt, sondern übertragen selbst Daten über das aktuelle Verkehrsgeschehen an den Leitrechner zurück. Die individuelle Zielführung wird ergänzt durch ein Park&Ride-Management (einschließlich Vorbuchung,

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automatischer Abbuchung der Gebühren), durch Empfehlungen zur Fahrtenplanung und zur Verkehrsmittelwahl vor Fahrtantritt, durch allgemeine Informationsdienste (Kino, Konzerte, Einkaufsmöglichkeiten) im Personenverkehr und durch die Zufahrtsberechtigung und Fahrwegbestimmung für den Güterverkehr.

Die Verkehrssteuerungssysteme sollen durch die Weitergabe speziell aufbereiteter Verkehrsinformationen - beispielsweise zu stark belasteten Streckenabschnitten, zu Staus und Baustellen - dazu beitragen, den Verkehrsfluß zu harmonisieren. Fragwürdig bleibt jedoch, ob sich langfristig eine Entlastung des Straßenverkehrs realisieren läßt. Die automatischen Steuerungssysteme verlangen auf den Straßen Sicherheitsabstände zwischen den Fahrzeugen, die wesentlich größer sind als die gegenwärtig von den Verkehrsteilnehmern eingehaltenen. Konsequenz wären zunächst Verringerungen der Kapazität der Straßeninfrastruktur aus Sicherheitsgründen. Zudem stellt das Park&Ride-Management eine wenig sinnvolle Strategie zur Verkehrsverlagerung dar. Die Effekte sind aufgrund der vergleichsweise niedrigen Anzahl der Park&Ride-Plätze gering, und ein weiterer großflächiger Ausbau ist kaum zu finanzieren (bei Kosten von 40.000 bis 50.000 DM pro Stellplatz). Darüber hinaus ist zu erwarten, daß vor allem die aufwendigen und teuren individuellen Leitsysteme Attraktivitätssteigerungen des motorisierten Individualverkehrs auslösen und neuen Straßenpersonenverkehr induzieren.

Reduktionen des Verkehrs sind aber zu erwarten, wenn in Verkehrsmanagementsystemen ordnungs- und preispolitische Instrumente genutzt werden. Die elektronische Erhebung von Straßenbenutzungsgebühren setzt jedoch die Ausstattung aller Fahrzeuge mit einem Mikrowellensender und -empfänger sowie einem Chipkarten-Lesegerät voraus. Ein elektronisches road pricing wäre daher mit erheblichen Investitionskosten verbunden.

Erhebliche Potentiale für telematikgestützte Systeme liegen in einer Verbesserung des Auslastungsgrades der Verkehrsmittel und damit in einer Verringerung der Fahrleistungen bei unveränderter Verkehrsleistung. Im Personenverkehr können computergesteuerte Mitfahrzentralen und car-sharing-Projekte zur Optimierung des Verkehrsablaufs beitragen. Im Güterverkehr lassen sich u.a. durch elektronische Frachtbörsen und Systeme für ein

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integriertes Frachtmanagement erhebliche Potentiale zur Auslastungssteigerung und Verringerung von Leerfahrten erschließen.


Aus Sicht der Städte und der Ballungsräume stehen höhere Kapazitäten im Straßennetz im Gegensatz zu den Bemühungen um Eindämmung des Autoverkehrs. Im Rahmen der Telematikanwendungen wird versucht, das Autofahren mit individueller Zielführung und Vorbuchung eines Parkplatzes attraktiver zu gestalten. Dies induziert neuen motorisierten Individualverkehr. Der ÖPNV als Überlauf oder Auffangsystem für den Pkw-Verkehr im Rahmen eines Park&Ride-Managements ist weder bezahlbar noch sinnvoll. Nach Einschätzung des IZT geht es vielmehr darum, Individualverkehr und öffentlichen Verkehr durch den Einsatz der Telematik zu optimieren und zu einem effizienten Gesamtsystem zu vernetzen.

Bei solchen telematikgestützten Verknüpfungen verschiedener Verkehrsträger ist aber auch zu beachten, daß hier die verfügbaren Kapazitäten im ÖPNV, aber auch bei den Eisenbahnen die nutzbaren Spielräume stark einengen.

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Der ADAC weist darauf hin, daß heute gerade dann die benötigten Umsteigekapazitäten nicht vorhanden sind, wenn sie gebraucht werden (z.B. im Berufsverkehr oder zu Ferienbeginn und -ende). Diese Engpässe können aufgrund der hohen Investitionskosten, aber auch wegen der hohen Kosten des täglichen Betriebs wohl kaum kurzfristig und auf Dauer beseitigt werden.

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5.2 Substitution physischen Verkehrs durch Telematik

Geeignete Telematikanwendungen können Verkehrsprozesse durch alternative Informationsübermittlungen substituieren. Das größte Potential liegt in einer Zunahme von Telearbeitsplätzen, die in den USA in den 70er Jahren erstmals u.a. zur Entzerrung der gewaltigen Berufspendlerströme eingerichtet wurden. Verschiedene Firmen in den USA beschäftigen bereits über tausend Teleheimarbeiter. Auch in Deutschland werden telematikgestützte Arbeitsplätze weiter zunehmen.

In einer Untersuchung zu den verkehrlichen Wirkungen der Telearbeit im Rahmen des seit 1987 laufenden "California Telecommuting Pilot Project" wurde eine Abnahme des Verkehrs um etwa 30% beobachtet. Als unzutreffend erwies sich die Behauptung, daß Familienangehörige infolge der Telearbeit zusätzliche Fahrten im Freizeitverkehr durchführen. Vielmehr stellte sich heraus, daß sowohl die Telearbeiter als auch ihre Familien das Auto in der Freizeit weniger benutzten. Außerdem war eine Verringerung der Aktionsradien zu registrieren.

Die weitere Zunahme der Telearbeitsplätze wirkt sich im volkswirtschaftlichen Rahmen positiv aus

  • durch Senkung des Verkehrsaufkommens in den Ballungsräumen,

  • durch Verbesserung der Luftqualität über eine Verminderung der Schadstoffsemissionen,

  • durch Energieeinsparungen infolge geringerer Kraftstoffverbräuche,

  • durch Verringerung der Unfallzahlen sowie

  • durch Belebung kommunaler Aktivitäten.

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Die Unternehmen ziehen aus der Einrichtung von Telearbeitsplätzen über eine erhöhte Produktivität der Arbeitnehmer, einen sinkenden Büroflächenbedarf und damit geringere Kapital kosten, den niedrigeren Krankenstand sowie einen geringeren Ausbildungs- und Einarbeitungsaufwand ebenfalls einen erheblichen Nutzen. Für die Telearbeiter selbst sind an Vorteilen vor allem die Zunahme an Eigenständigkeit und Eigenverantwortung sowie die Möglichkeit einer flexibleren Zeiteinteilung zu nennen.

Diese insgesamt sehr positive Einschätzung sollte jedoch nicht zu einer Überbewertung der kurzfristig mittels Telearbeit erzielbaren verkehrlichen Effekte führen. Da die Verbreitung dieser neuen Arbeitsform bislang relativ langsam vor sich geht, ist zunächst kaum eine nennenswerte Verkehrssubstitution zu erwarten. Mittel- bis langfristig bestehen jedoch erhebliche Potentiale.

Für die USA gehen Schätzungen davon aus, daß sich etwa 45 Millionen Arbeitsplätze für Telearbeit eignen. In Deutschland wird die Einrichtung von 8 Millionen Telearbeitsplätzen für möglich gehalten. Dies zeigt, daß hier ein großes Potential zur Reduzierung des Straßenverkehrs und damit des Infrastrukturbedarfs liegt. Die Ausschöpfung dieser Spielräume hängt entscheidend von den zukünftigen politischen, ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen ab. Eine Senkung der Hard- und Softwarepreise sowie eine Reduzierung der Telefongebühren im Zuge der Deregulierung des Telekommunikationsmarktes und eine Änderung der Arbeitsorganisation in den Unternehmen werden die Verbreitung der Telearbeitsplätze fördern.

Eine weitere Möglichkeit, Verkehr durch Telematik zu ersetzen, liegt im Teleshopping. Da das Einkaufen aber mit der Befriedigung vieler psychologischer Bedürfnisse verbunden ist, muß eher von einer relativ geringen Bereitschaft zur Substitution des Einkaufsverkehrs ausgegangen werden. Potentiale bestehen jedoch bei der Beschaffung von Waren des täglichen und periodischen Bedarfs. Hier kann der Lieferverkehr effizienter disponiert und gebündelt werden.

Die Einsparungsmöglichkeiten von Dienst- und Geschäftsreiseverkehr durch Videokonferenzen hängen entscheidend von den Kosten ab. Es wird geschätzt, daß sich in diesem Verkehrssektor bis zu 30% aller Reisen ersetzen lassen. In den Bereichen Akquisition, Vertrieb und Auftragsabwicklung ist die Präsenz vor Ort allerdings meist unabdingbar. Zudem werden die durch Sub-

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stitution von Geschäftsreisen erzielten Zeitgewinne häufig wieder zur Intensivierung der Kommunikation zwischen den Geschäftspartnern genutzt und damit die Einsparpotentiale verringert.

Wichtiges Ziel einer langfristig orientierten Politik ist die Veränderung der z.Zt. sehr verkehrsintensiven Siedlungs- und Raumstrukturen. Aufgabe der Raumordnungs- und Verkehrspolitik ist eine Korrektur der räumlichen Trennung von Wohnen, Arbeiten und Freizeit. Standortnachteile ländlicher Regionen können durch den Einsatz der Telekommunikationstechnologien kompensiert werden. Dezentrale Produktions- und Lagerstrukturen machen die verkehrsintensiven "Just-in-time"-Konzepte zum Teil ersetzbar. Die verkehrlichen Effekte dieser langfristigen Strategien lassen sich noch nicht abschätzen. Das IZT sieht hier aber ein großes Potential zur Verringerung des Verkehrs.

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5.3 Ambivalente Telematikwirkungen

Die vorstehenden Ausführungen verdeutlichen, daß der Einsatz von Informations- und Kommunikationstechnologien innerhalb und außerhalb des Verkehrssektors mittel- bis langfristig beträchtliche Reduktions- und Substitutionseffekte auslösen kann. Das IZT betont jedoch, daß die Anwendung von Telematik allein noch keine Garantie für einen Abbau der Verkehrsströme darstellt, denn sie kann - wie jede andere Technologie - ambivalent wirken. Verkehrsinduzierende Wirkungen von Telekommunikationstechnologien ergeben sich beispielsweise aus der Ausweitung der Aktionsräume und der Vervielfältigung der Kontakte, weil der Telematikeinsatz Lebensstile, Wirtschaftsweisen und Siedlungsstrukturen heute meist in Richtung zu mehr Verkehrsaufwand beeinflußt.

Auch der Verband der Automobilindustrie weist darauf hin, daß die durch Telematik eingesparten Fahrten nicht einfach wegfallen. Vielmehr werden sie von den Menschen zumeist für andere Verkehrszwecke - z.B. im Freizeitsektor - genutzt und erweitern dabei die Mobilitätsspielräume. Das Volumen des Zeitbudgets für Mobilität bleibt also im wesentlichen unverändert; dagegen ändert sich seine Struktur. Unbestritten ist, daß durch Teleworking, Teleshopping, Telebanking etc. Verkehr eingespart wird, wobei sich die gesellschaftliche Isolation tendenziell verstärkt. Gleichzeitig entstehen aber neue

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Mobilitätsmuster mit größeren Spielräumen für gesellschaftliche Kontakte. Da Telematik physischen Verkehr also nicht überflüssig macht, fordert der VDA die Politik auf, auch in Zukunft in beide Infrastrukturen - in die der Telematik und in die für Straßenverkehr - zu investieren.

Entscheidend für die tatsächlich erzielten und erzielbaren Effekte sind die politischen, ökonomischen und ökologischen Rahmenbedingungen des Telematikeinsatzes. Die Telematik ist kein Allheilmittel für die Lösung der Verkehrsprobleme von Ballungsräumen. Sie kann aber innerhalb eines ökologisch orientierten Verkehrskonzeptes zu effizienteren Verkehrsabläufen und zu einer Verringerung des Verkehrsaufkommens beitragen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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