FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 1 ]


1. Die Situation der ostdeutschen Industrieforschung

1.1 Überblick

Die Industrieforschung befindet sich stets in zwei ganz unterschiedlichen Abhängigkeitsverhältnissen. Als Industrieforschung ist sie auf Gedeih und Verderb mit dem Unternehmenserfolg verbunden und damit in hohem Maße von der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung abhängig. Umgekehrt kann der Unternehmenserfolg seinerseits in immer mehr Unternehmen und Branchen ohne Industrieforschung langfristig nicht mehr gesichert werden. Industrieforschung ist zugleich in das Wissenschaftssystem eingebunden, in dem sie hinsichtlich ihres Umfangs absolut dominiert (Bild 1). Sie ist der wichtigste Adressat des Wissens- und Technologietransfers und damit in erheblichem Maße vom Funktionieren dieses Transfers abhängig. In ihrer Vernetzung mit der Grundlagen- und Anwendungsforschung außerhalb der Industrie hat sie zugleich eine orientierende Funktion für die industrienahe staatlich finanzierte Forschung.

[Seite der Druckausg.: 2 ]

Die Industrieforschung in Ostdeutschland unterliegt seit der Herstellung der Einheit Deutschlands in ihrer Substanz, ihren Strukturen und in ihren Beziehungen zur Umwelt tiefgreifenden Wandlungen. Bislang sind diese Wandlungen trotz erheblicher Anstrengungen vieler staatlicher und anderer Akteure vor allem durch den Verlust von Substanz, Verbindungen und Funktionen gekennzeichnet. Diese Prozesse und die daraus erwachsenden Herausforderungen werden im folgenden dargestellt. Die Komplexität der Abhängigkeiten und Wirkungen der Industrieforschung legt es nahe, eine Bestandsaufnahme zur Situation der ostdeutschen Industrieforschung mit den Entwicklungen im wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Umfeld der Industrieforschung zu beginnen.

Im Zuge der Herstellung der deutschen Einheit hat sich die wissenschaftliche Umwelt der ostdeutschen Industrieforschung grundlegend verändert. Die Universitäten und Hochschulen blieben als Institutionen weitgehend erhalten und werden entsprechend den Vorbildern aus den alten Bundesländern umstrukturiert. Die Veränderungen der Lehr- und Forschungsprofile sowie die Anpassung der Personalstrukturen an die Vorbilder der alten Bundesländer vollziehen sich in der Hoheit der neuen Bundesländer und verlaufen deshalb regional differenziert. Sie sind jedoch durchweg mit einem erheblichen Personalabbau verbunden. Parallel dazu kommt es zu zahlreichen Neuberufungen auch von Wissenschaftlern aus den alten Bundesländern. Durch diese Veränderungen im Personalbestand werden die traditionellen Netzwerke zwischen universitärer und Industrieforschung zunächst aufgelöst.

Auch der Bereich der außeruniversitären staatlich finanzierten Forschung wurde grundlegend umgestaltet. Die Akademie der Wissenschaften (AdW) der DDR und die anderen Forschungs-Akademien wurden durch Kommissionen des Wissenschaftsrates evaluiert. Auf der Grundlage von Empfehlungen des Wissenschaftsrates wurden neue Forschungseinrichtungen nach den Vorbildern geschaffen, die die außeruniversitäre Forschungslandschaft der alten Bundesländer bot. Dabei konnten ca. 4000 Wissenschaftler in neuen Forschungseinrichtungen weiterbeschäftigt werden (Bild 2). Eine für die ostdeutsche Industrieforschung zweifellos positive Entwicklung bedeutet das starke Engagement der Fraunhofer-Gesellschaft in den neuen Bundesländern. Auch die Gründung zahlreicher Institute der Blauen Liste kann das wissenschaftliche Umfeld der Industrieforschung stärken, denn nicht wenige von ihnen stehen in der Tradition der an der AdW der DDR zumindest teilweise erfolgreich praktizierten Integration von Grundlagen- und Anwendungsforschung. Andererseits sind stark anwendungsorientierte Potentiale der AdW, die aufgrund der spezifischen Arbeitsteilung im Forschungssystem der DDR Aufgaben der Industrieforschung erfüllten, trotz ihrer durch den Wissenschaftsrat attestierten

[Seite der Druckausg.: 3 ]

Leistungsfähigkeit nicht für eine staatliche Förderung empfohlen worden. Diese Potentiale hätten den Vorstellungen des Wissenschaftsrates zufolge von der Industrie aufgefangen werden sollen. Da die Industrie aber schon ihre eigenen Forschungspotentiale nicht halten konnte, fanden die genannten Gruppen nur vereinzelt in Form von selbständigen Forschungs-GmbHs eine - unsichere - Position in der privatwirtschaftlich organisierten Forschung. Eine weitere Besonderheit des außeruniversitären Sektors in Ostdeutschland besteht darin, daß der Anteil der zu 90 % durch den Bund finanzierten Großforschungseinrichtungen sehr gering, der Anteil der zu gleichen Teilen durch den Bund und das jeweilige Sitzland finanzierten Institute der Blauen Liste dagegen sehr groß ist. Durch diese spezifische Struktur belastet der außeruniversitäre Sektor die ohnehin finanzschwachen neuen Länder überdurchschnittlich stark (Bild 3). Trotzdem bildet der außeruniversitäre Sektor heute den stabilsten Teil der ostdeutschen Wissenschaftslandschaft und stärkt das wissenschaftliche Umfeld der Industrieforschung.

[Seite der Druckausg.: 4 ]

Insgesamt ist im Ergebnis der Transformation der wissenschaftlichen Umwelt der Industrieforschung in Ostdeutschland trotz unterschiedlicher Entwicklungen in den verschiedenen Wissenschaftsdisziplinen und Regionen eine für die nächsten Jahre stabile institutionelle Struktur entstanden, auf deren Grundlage die Profilierung der Forschungsinstitute und Hochschulen erfolgen wird. Mit dem verbliebenen und zum Teil neuen Forschungspersonal könnten alte Vernetzungen mit der Industrieforschung rekonstruiert und neue aufgebaut werden. Auch die Voraussetzungen für die Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses für die Industrieforschung sind geschaffen worden.

Gerade vor diesem Hintergrund einer nun zwar schmaleren, aber stabilisierten Basis in der staatlich finanzierten universitären und außeruniversitären Forschung wird jedoch deutlich, daß die ostdeutsche Industrieforschung selbst der am stärksten von Abbau- und Auflösungsprozessen betroffene Teil des Wissenschaftssystems ist und ins Bodenlose zu fallen scheint. Die Auflösung der ostdeutschen Industrieforschung ist eine Begleiterscheinung der Deindustrialisierung Ostdeutschlands. In Ostdeutschland ging die Beschäftigung im Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe von über 2 Mio. Beschäftigten im Januar 1991 auf ca. 730 000 Beschäftigte im Juli 1993 zurück. Tabelle 1 verdeutlicht den Beschäftigungsrückgang.

[Seite der Druckausg.: 5 ]


Veränderung 1993/91 in %

Ostdeutschland insgesamt

-64,8

Bergbau

-65,6

Grundstoff- und Produktionsgütergewerbe

-66,6

Investitionsgüter produzierendes Gewerbe

-63,9

Verbrauchsgüter produzierendes Gewerbe

-70,1

Nahrungs- und Genußmittelgewerbe

-52,6

Tabelle 1: Entwicklung der Beschäftigung im Bergbau und verarbeitenden Gewerbe in Ostdeutschland von Januar 1991 bis Juli 1993

Im Prozeß der deutschen Vereinigung wurden zwei grundsätzlich miteinander konkurrierende Industrien zusammengeführt. Beide Industrien waren stark exportorientiert, dabei aber auf verschiedene Märkte ausgerichtet. Da jedoch die Nachfrage aus den RGW-Staaten praktisch wegfiel, kam bei der Zusammenführung der Industrien nur die Nachfrage aus Ostdeutschland hinzu. Der damit entstehende Kapazitätsüberhang führte zu einem Verdrängungswettbewerb, in dem die ostdeutschen Unternehmen von Anfang an die schlechteren Ausgangspositionen hatten. Daran wird sich auch in absehbarer Zukunft nichts ändern, da die Ursachen für die deutlich schlechtere Wettbewerbsposition der ostdeutschen Unternehmen bestehen bleiben.

Die ostdeutschen Unternehmen sind Neulinge auf dem entstandenen deutschen Markt und in der Regel auch auf den internationalen Märkten, auf die sie sich im Export jetzt orientieren müssen. Sie müssen sich die Zugänge zu den Märkten in dem jetzt stattfindenden Verdrängungswettbewerb erst schaffen. Diese Aufgabe müssen die meisten ostdeutschen Unternehmen angesichts erheblicher struktureller Probleme lösen. So haben die Ausrichtung auf den RGW-Markt und die "einheimische Rohstoffbasis" sowie die ökonomischen Strukturen der Planwirtschaft zu Unternehmensstrukturen, Produktionsmethoden und Produkten geführt, die den Anforderungen der heutigen Märkte häufig nicht entsprechen. Der hohe Kostendruck zwingt die Unternehmen zu einer Politik, die an der Erhaltung der Liquidität orientiert ist. Weitere Wettbewerbsnachteile entstehen aus dem veralteten bzw. nicht adäquaten Anlagenbestand und aus der im Vergleich zu westlichen Unternehmen geringeren Eigenkapitalausstattung.

[Seite der Druckausg.: 6 ]

Die Industrieforschung leidet unter dem noch nicht abgeschlossenen Deindustrialisierungsprozeß in besonderem Maße. Bild 4 zeigt den Beschäftigungsrückgang in der FuE der ostdeutschen Wirtschaft seit 1989. Mittlerweile sind nur noch weniger als 20 % des ursprünglich vorhandenen Personals in FuE beschäftigt, ohne daß ein Ende dieses Beschäftigungsrückgangs in Sicht wäre.

Der Wettbewerbsdruck auf die existierenden und neu entstehenden ostdeutschen Unternehmen ist so groß, daß die Anstrengungen der aktuellen Existenzsicherung mittel- und langfristige Interessen völlig in den Hintergrund treten lassen. Aus der Perspektive dieser täglichen Existenzsicherung erscheint die Industrieforschung als ein erheblicher Kostenfaktor, der erst mit einer nur bedingt kalkulierbaren Verzögerung und auch nur mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit marktrelevant wird. Wie andere Funktionen, die nicht unmittelbar der Produktion und dem Absatz dienen, fällt sie dem Rotstift zum Opfer. Bezogen auf die Ausgangssituation von 1989 erfolgte bislang ein deutlich überproportionaler Abbau der Industrieforschung im Vergleich zu den Gesamtbelegschaften. Tabelle 2 zeigt den Rückgang des FuE-Personals in Kernbranchen der ostdeutschen Industrie.

[Seite der Druckausg.: 7 ]

korrigierte Fassung R.uth Gr.
(Problem immer noch: Zelle unten links ist jetzt zwar richtig belegt, wird aber nicht korrekt in WORD angezeigt)

Branchen

FuE-Personal in den befragten Unternehmen (Personen)

Veränderung 1992/89 in %


1989

Oktober 1992


Chemische Industrie

9981

1616

-83,8

Maschinenbau

8724

1950

-77,7

Elektrotechnik

17 752

1634

-90,8

Feinmechanik/Optik, Herstellung von Uhren

2380

366

-84,6

Tabelle 2: Rückgang von FuE-Personal in Kernbranchen

Quelle: Unternehmensbefragungen des 1WH und des ISI in ca. 300 Unternehmen

Auch in den Betrieben der Treuhandanstalt ist ein starker Rückgang der Beschäftigung insgesamt und der FuE-Beschäftigung zu verzeichnen. Der Gesamtstatistik vergleichbare Daten liegen nicht vor, es kann aber generell ein geringerer Personalabbau angenommen werden. Zwischen Oktober 1991 und April 1992 sank die Gesamtbeschäftigung in Treuhand-Unternehmen um 39,5 % und die FuE-Beschäftigung um 46,6 %.

Die Ursachen für den überproportionalen Abbau der Industrieforschung liegen in der Wettbewerbssituation der ostdeutschen Unternehmen, die diese zu einer absoluten Priorisierung der kurzfristigen Existenzsicherung zwingt. Bei diesen Anpassungsprozessen kommt es auch zu überschießenden Reaktionen, d.h. es werden FuE-Kapazitäten abgebaut, die langfristig wieder benötigt werden.

Nachdem von 1989 bis 1991 die Beschäftigung in FuE auf weniger als ein Drittel zurückging, setzte sich anschließend der Trend des überproportionalen Abbaus des FuE-Personals den Erhebungen des Stifterverbandes zufolge nicht fort. Der Anteil des FuE-Personals an den Beschäftigten aller Unternehmen hat sich von 1,8 % im Jahre 1991 auf 2,3 % im Jahre 1992 erhöht, das FuE-Personal ist also in dieser Zeit langsamer abgebaut worden als die Gesamtbeschäftigten.

[Seite der Druckausg.: 8 ]

Page Top

1.2 Die Entwicklung forschungsintensiver Branchen: Das Beispiel Chemische Industrie

Als ein Beispiel für die Entwicklung einer Branche und ihrer Industrieforschung kann die Chemieindustrie dienen. Die Chemieindustrie ist eine traditionell sehr forschungsintensive Branche, die für die DDR große wirtschaftliche Bedeutung hatte. Nach der Währungsunion hatte die chemische Industrie zunächst ein relativ hohes Produktionsniveau halten können, in jüngster Zeit verläuft ihre Entwicklung jedoch eher ungünstiger als die des verarbeitenden Gewerbes insgesamt.

Auch für die chemische Industrie ist ein starker Beschäftigungsrückgang und ein noch stärkerer Abbau des FuE-Personals charakteristisch. Die Bilanz für das Land Sachsen-Anhalt, das mit den Großunternehmen im Raum Halle den größten Teil der chemischen Industrie Ostdeutschlands beherbergt, zeigt Tabelle 3.


12/1989

12/1992

Index
Basis:
12/1989 =100


Beschäftigte

Große Chemieunternehmen1)

83600

23300

28

Kleine und mittlere Chemieunternehmen2)

36000

10000

28


FuE-Personal

Große Chemieunternehmen1)

6100

1300

22

Kleine und mittlere Chemieunternehmen2)

1600

300

19

Der Anteil des FuE-Personals an den Beschäftigten sank damit in den großen Chemieunternehmen von 7,3 % im Dezember 1989 auf 5,7 % im Dezember 1992 und bei den kleinen und mittleren Chemieunternehmen im gleichen Zeitraum von 4,4 % auf 3,0 %. Gegenwärtig arbeiten in der chemischen Industrie Ostdeutschlands nur noch 2 % der Beschäftigten in der Forschung, während es im Westen Deutschlands 10 % sind.

[Seite der Druckausg.: 9 ]

Diese Zahlen sind aber nur die Zwischenbilanz eines noch nicht abgeschlossenen Prozesses. Alle vier Großunternehmen befinden sich noch im Besitz der Treuhandanstalt. Die Wettbewerbssituation dieser Unternehmen ist außerordentlich ungünstig. Nicht zuletzt wegen der weltweiten Chemie-Rezession haben es die früher stark exportorientierten großen Treuhandunternehmen schwer, ihre Kapazität auch nur annähernd auszulasten. Mittlerweile haben zwei der großen Treuhandunternehmen ihr Personal im Forschungsbereich auf weniger als 10 % des Bestandes von Dezember 1989 reduziert. Die Versuche, die Forschungskapazitäten außerhalb der Unternehmen über Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu erhalten, können angesichts der Gesamtsituation der Unternehmen und der Chemieindustrie in der Region Halle den Personalabbau offensichtlich nur verzögern. Nach der Privatisierung der Großunternehmen muß mit einem weiteren Rückgang der Beschäftigung gerechnet werden. Es ist zu erwarten, daß dann nur noch einige hundert Personen im FuE-Bereich übrigbleiben.

Die Chemieindustrie im Raum Halle verfügte bis 1990 auch über ein starkes wissenschaftliches Umfeld in Form einer umfangreichen chemieorientierten Hochschulforschung. In diesen Einrichtungen arbeiteten 1990 noch über 700 Personen in der chemischen Forschung, z.T. in direktem Auftrag der chemischen Industrie. Auch dieses Potential wird erheblich reduziert, nach den gegenwärtigen Planungen auf ca. ein Drittel des ursprünglichen Bestandes (Tabelle 4). Zugleich haben sich die Verbindungen dieser Forschungspotentiale zur Industrieforschung der Region weitgehend aufgelöst, weil die größeren Chemieunternehmen kaum noch Forschungsaufträge vergeben und neue Auftraggeber in der Region noch nicht in Sicht sind. Angesichts der Perspektiven der Industrieforschung in der Region ist zu befürchten, daß der Neuaufbau einer entsprechenden regionalen Vernetzung erst nach längerer Zeit in Angriff genommen werden kann.

[Seite der Druckausg.: 10 ]

Forschungseinrichtungen 1990

1990

1993

1994/95

Neue
Forschungseinrichtungen (Gründung 1992/93)

Technische Hochschule Merseburg

341

270

116

Fachhochschule Merseburg

Technische Hochschule Köthen

164

78

70

Fachhochschule Anhalt

Pädagogische Hochschule Köthen

58

52

-


Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

156

141

60

Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Insgesamt

719

541

246


Index (Basis: 1990 =100)

100

75

34


Tabelle 4: Chemieorientiertes wissenschaftliches Personal an universitären Forschungseinrichtungen der Region Halle

Angesichts dieser ungünstigen Gesamtsituation muß die im Jahr 1991 getroffene politische Entscheidung zur Erhaltung des "Chemie-Dreiecks" um Halle Konsequenzen in Form spezifischer Fördermaßnahmen haben. Diese Maßnahmen wären generell so zu konzipieren, daß sie eine am Markt orientierte Ausrichtung von Produktion und Forschung erreichen. Außerdem müssen die Maßnahmen zur Förderung von Investitionen für potentielle Investoren kalkulierbar sein.

Zur Erneuerung des Anlagenbestandes scheint eine nennenswerte Kapitalförderung dringend erforderlich. Deshalb sollte unabhängig von der Unternehmensgröße eine Investitionszulage von 20% gewährt werden, auf die die Investoren einen Anspruch haben. Eine solche Maßnahme sollte langfristig, z.B. für zehn Jahre, festgeschrieben werden. Der jetzt gewährte Investitionszuschuß könnte dann gestrichen werden. Zur Erhaltung des besonders gefährdeten, mittel- und langfristig jedoch unverzichtbaren Forschungsbereichs sollten für Investitionen in den Bereich Forschung eine erhöhte Investitionszulage von 40 % und für das Forschungspersonal ein Zuschuß zur Lohnsumme von 30 % gewährt werden. Diese beiden Maßnahmen sollten durch günstige Finanzierungs- und Abschreibungsbedingungen ergänzt werden. Auf diese Weise könnten die Standorteigenschaften für einen längeren Zeitraum von z.B. zehn Jahren deutlich verbessert werden. Gemeinsam mit den übrigen, teils traditionell günstigen Standortfaktoren würden dann für den Standort "Chemie-Dreieck" um Halle vor allem die folgenden Faktoren sprechen:

[Seite der Druckausg.: 11 ]

  • Der Raum Halle ist ein traditioneller ausgewiesener Chemiestandort. Das ist ein nicht zu unterschätzender Faktor, da es heute schwer ist, Standorte für die Neuansiedlung von Chemieunternehmen zu finden.

  • Mit den skizzierten Fördermaßnahmen beständen günstige Investitionsbedingungen für die Errichtung moderner Anlagen.

  • Es gibt am Standort gut ausgebildetes und leistungsfähiges Personal sowohl für die Produktion als auch für die industrielle Forschung.

  • Die Infrastruktur am Standort verbessert sich und wird in Kürze den Anforderungen moderner Produktion entsprechen.

  • Trotz der Einschnitte bietet sich der Chemieindustrie mit der universitären und außeruniversitären Forschung am Standort noch immer ein gutes wissenschaftliches Umfeld.

  • Es ist ausreichend Grund und Boden verfügbar.

  • Die Effektivlöhne werden auf absehbare Zeit unter denen westdeutscher Standorte liegen. Neben den Personalkostenzuschüssen für FuE würde hier die überdurchschnittlich hohe Arbeitslosigkeit wirken, die nur in seltenen Fällen zu übertariflichen Entlohnungen führen dürfte.

Selbst wenn jedoch die skizzierten Maßnahmen sofort ergriffen würden, verstriche weiter Zeit, bis sie zur Wirkung gelangten. Bis zum Eintritt dieser Wirkungen besteht die Gefahr, daß Forscher ohne Arbeit bzw. ohne Aufgaben sind. Gerade Forschungskapazitäten können jedoch nicht funktionslos "aufbewahrt" werden. Erstens wird dies bereits durch den Kostendruck auf die Unternehmen verhindert, und zweitens unterliegen nicht genutzte Forschungskapazitäten einem raschen Verlust an Leistungsfähigkeit. Deshalb ist als Übergangslösung für die Industrieforschung eine spezifische Förderung chemierelevanter Projekte erforderlich. Solche Projekte hätten in erster Linie den Erhalt der "Forschungsfähigkeit" der Industrieforschung zum Ziel. Da derartige Projekte Zeit brauchen, um sich entwickeln zu können, sollte der Schwerpunkt auf eine längerfristige kontinuierliche Forschung und nicht unbedingt auf eine kurzfristige Evaluation jeder Maßnahme gelegt werden.

[Seite der Druckausg.: 12 ]

Page Top

1.3 Die Entwicklung von Forschungseinrichtungen: Das Beispiel FZM Dresden

Ein typisches Beispiel für das Schicksal großer FuE-Einrichtungen der Industrie der DDR ist die Zergliederung und Privatisierung des Forschungszentrums Mikrolektronik (FZM) Dresden. Das FZM gehörte zum Kombinat Carl Zeiss Jena. In enger Kooperation mit der Akademie der Wissenschaften der DDR sowie Universitäten und Hochschulen erbrachte es Forschungs- und Entwicklungsleistungen für die Halbleiterhersteller der DDR, insbesondere in Frankfurt, Berlin, Erfurt und Neuhaus. Außerdem gab es eine umfangreiche Pilotproduktion. Die Personalstruktur des FZM zeigt Tabelle 5.

Bereich

Beschäftigte

Schaltungsentwurf

210

Verfahrensentwicklung

380

Schablonenzentrum

100

Rechenzentrum

200

Produktion

1000

Rationalisierungsmittelbau

200

Personalwesen

20

Technik/ Investitionen

500

Marketing/ Verkauf

140

Einkauf

120

Ökonomie

90

Sonstige

300

Gesamt

3260

davon H/F-Personal

1540

Tabelle 5: Aufgabengebiete und Personalstruktur des FZM Dresden 1990

Die Tabelle zeigt als wichtigste Bereiche eine relativ große Pilotproduktion (insgesamt 1000 Mitarbeiter) und ca. 1000 Mitarbeiter, die mit Leistungen zur Absicherung des Betriebes und mit der Realisierung von Investitionen beschäftigt waren - eine für die DDR typische Struktur. Hervorhebenswert ist die günstige Alters- und Qualifikationsstruktur des Personals. Da die Mikroelektronikindustrie in der DDR erst in deren letzten 15 Jahren aufgebaut worden ist, verfügte das FZM über sehr viele junge, hochqualifizierte Mitarbeiter.

[Seite der Druckausg.: 13 ]

Der Haushalt des FZM belief sich zuletzt auf ca. 400 Mio. Mark, von denen 300 Mio. Mark durch das Ministerium für Wissenschaft und Technik der DDR bereitgestellt wurden und 100 Mio. Mark aus dem Verkauf der Pilotproduktion stammten. Die umfangreichen Investitionen des FZM wurden über Kredite der Staatsbank finanziert. Die Kredite beliefen sich zum Zeitpunkt der Währungsunion auf 700 Mio. Mark bzw. 350 Mio. DM. Damit hatte das FZM eine außerordentlich ungünstige Startposition: Die Schulden waren so hoch, daß ein Verkauf des Unternehmens sie nicht gedeckt hätte.

Bereits 1990 zeigte sich jedoch auch, daß eine direkte Privatisierung auch eines sanierten Unternehmens aussichtslos war. Es fanden sich weder im Inland noch im Ausland Interessenten, die das im Juni 1990 aus dem FZM gebildete Zentrum Mikroelektronik Dresden GmbH (ZMD) als Ganzes übernommen hätten. Deshalb wurde gemeinsam mit dem Betriebsrat eine Strategie der Zergliederung des Unternehmens entwickelt, das ab Juni 1991 als Werk Dresden der Mikroelektronik und Technologie Gesellschaft mbH (MTG mbH) firmierte. Diese Zergliederung erfolgte im Zeitraum von 1990 bis Ende 1992, wurde also über mehr als zwei Jahre gestreckt. In dieser Übergangszeit finanzierte die Treuhandanstalt den verlustbehafteten Geschäftsbetrieb mit Zuschüssen von ca. 110 Mio. DM. Die Zeit wurde genutzt, um Interessenten für Teile des ZMD zu werben und Ausgründungen zu realisieren. Ein wesentlicher Abschluß dieses Prozesses erfolgte Ende 1992 mit der Entscheidung der Treuhandanstalt, den verbliebenen Rest des Unternehmens zu liquidieren. Den Verlauf der Zergliederung des Forschungszentrums zeigt Bild 5. Dieser Verlauf ist in qualitativer Hinsicht typisch für vergleichbare Einrichtungen der Industrieforschung, das quantitative Ergebnis bei der Erhaltung von Arbeitsplätzen liegt jedoch über dem bei anderen Einrichtungen erreichten.

Insgesamt erfolgten in dem in Bild 5 dargestellten Prozeß 63 Neugründungen, in den neuen Unternehmen arbeiten jetzt ca. 1100 Menschen, das ist ein Drittel des Personalbestandes von 1990. Insgesamt ein Drittel des Personalbestandes mußte entlassen werden. Ein weiteres Drittel der Beschäftigten fand andere Arbeitsplätze, die meisten von ihnen in Dresden, einige in westlichen Halbleiterfirmen. In die Liquidation sind ca. 300 Beschäftigte geführt worden. In dieser Phase seit Anfang des Jahres 1993 kam es kaum noch zu Neugründungen. Obwohl auch von der Treuhandanstalt häufig angenommen wird, daß aus der Liquidationsmasse noch Neues entstehen kann, besagen die praktischen Erfahrungen im Fall der MTG das Gegenteil.

[Seite der Druckausg.: 14 ]

[Seite der Druckausg.: 15 ]

Das Ergebnis der Zergliederung und Privatisierung des ZMD ist besser als das vergleichbarer Betriebe. Ein wesentlicher Grund dafür ist die bereits erwähnte günstige Personalstruktur. Es gab vergleichsweise viele junge, hochqualifizierte Menschen, die sich an die Spitze der neuen Unternehmen gestellt haben. In dieser Hinsicht bot das ZMD bessere Voraussetzungen als reine Fertigungsbetriebe wie z.B. in Erfurt oder Frankfurt.

Die Geschichte des ZMD verweist zugleich auf spezifische Probleme, die mit dem Prozeß der Ausgründungen und Privatisierungen verbunden sind. Eine Bilanz des Prozesses hinsichtlich der Profile und der Größe der neugegründeten Einrichtungen zeigt Tabelle 6.

Profil

Zahl der Firmen bzw. Einrichtungen

Beschäftigte

Forschung und Entwicklung Mikroelektronik

1

130

Entwicklung/ Fertigung Mikroelektronik

4

568

Entwicklung/ Fertigung andere High-Tech-Bereiche

9

80

Verkauf und Service für High-Tech-Produkte

10

50

High-Tech-Dienstleistungen

15

122

Handwerk und Dienstleistungen

13

67

Verbände, Behörden, Ämter, Kanzleien

7

17

Bildungseinrichtungen

4

17

Gesamt

63

1051

Tabelle 6: Profile und Größe der aus dem Forschungszentrum Mikroelektronik Dresden entstandenen neuen Einrichtungen

Forschung wird nur in einer der neuen Einrichtungen betrieben, und zwar im Fraunhofer-lnstitut. Das ist der Teil des ZMD, der in den staatlich geförderten außeruniversitären Sektor übergegangen ist. In keiner der neuen Einrichtungen in der Wirtschaft gibt es Forschung. Lediglich Entwicklungsarbeiten werden in einigen der neuen Unternehmen durchgeführt. Zwar gibt es Kooperationen und Förderprojekte auf dem Gebiet der Forschung, aber auch das betrifft nur sehr wenige der neuen Betriebe.

[Seite der Druckausg.: 16 ]

Die Anstrengungen zur Werbung großer Investoren und zur Initiierung von Neuansiedelungen blieben lange Zeit erfolglos. So scheiterten die Versuche der sächsischen Politik und Wirtschaft, das größte öffentlich geförderte Forschungsinstitut auf dem Gebiet der Informationstechnik nach Sachsen zu bekommen, an den Interessen und an der Stärke der alten Bundesländer: Die Grundsteinlegung erfolgte 1993 in Schleswig-Holstein. Auch die Idee, in Dresden eine Fabrik für den 64 Mbit-Chip zu bauen, schien bis vor kurzem chancenlos zu sein. Dieses Projekt wird jetzt aber realisiert und kann die Grundlage zur Sicherung des Hableiter-Standortes Dresden bilden. Die Firma Siemens wird in Dresden das modernste deutsche Halbleiter-Werk errichten, in dem die Entwicklung und Fertigung von Speicherschaltkreisen auf der Basis der 64 Mbit- und der 256 Mbit-Technologie erfolgen soll.

Die großen Ausgründungen aus den ehemaligen Mikroelektronik-Betrieben der DDR in Frankfurt/Oder, Erfurt und Dresden gehen einer schwierigen Zukunft entgegen. Diese drei "industriellen Kerne" mit jeweils ca. 500 Beschäftigten werden in der Anfangsphase von der Treuhandanstalt mit enormen finanziellen Mitteln unterstützt. Im Falle der Dresdener Ausgründung waren das z.B. 250 TDM für jeden Arbeitsplatz. Das sind Summen von ca. 100 Mio. DM für die ersten drei Jahre, die je zur Hälfte als Verlustausgleich und für Investitionen gezahlt werden. Diese Betriebe haben jedoch in naher Zukunft, d.h. für die nächsten fünf Jahre, keine Wachstumspotentiale. Im Gegenteil: Mit den Besitzern sind die üblichen Treuhandverträge abgeschlossen worden. Diese Verträge beinhalten die Verpflichtung, zunächst 500 Arbeitskräfte zu übernehmen und im Durchschnitt der ersten drei Jahre 400 Arbeitskräfte zu beschäftigen. Damit ist bereits vertraglich vereinbart, daß der Käufer am Ende dieser drei Jahre nur noch 300 Arbeitskräfte zu beschäftigen braucht. Die geringen Umsätze je Beschäftigten lassen eine solche Entwicklung als sehr wahrscheinlich erscheinen. Natürlich ist es nicht ausgeschlossen, daß es in zehn Jahren auch für diese Betriebe ein Wachstum geben wird. Gegenwärtig jedoch haben nur die kleinen unter den ausgegründeten Unternehmen Wachstumspotentiale. Die Erwartungen bezüglich des Wachstums von Umsatz, Investitionen und Personal liegen bei einigen dieser Unternehmen im Bereich von 10 bis 20 %. Dabei haben diese Unternehmen von der Treuhandanstalt keine Unterstützung in Form von Geld oder Vergünstigungen erhalten.

Während also die ausgegründeten "industriellen Kerne" einen weiteren Schrumpfungsprozeß vor sich haben, weisen die ausgegründeten kleinen Unternehmen teilweise gute Wachstumsaussichten auf. Sie sind aber hinsichtlich ihrer Größe unterkritisch für die Entwicklung einer Industrieforschung. Ein Entstehen und Wachsen von FuE-Potentialen und insbesondere von

[Seite der Druckausg.: 17 ]

Forschungskapazitäten in diesen Unternehmen, die maximal 20 Beschäftigte haben, ist kaum zu erwarten. Damit zeigt sich auch an diesem Beispiel, was für die ostdeutsche Wirtschaft in 1.1 generell festgestellt wurde: die gegenwärtige Struktur der ostdeutschen Industrie bietet kurz- und mittelfristig nur geringe Wachstumschancen für Forschung und Entwicklung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

Previous Page TOC Next Page