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TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausg.: 41 ] 8. Integrierte Stadtverkehrs- und Stadtentwicklungsplanung für die neuen Bundesländer Eine Motorisierungswelle bisher nicht gekannten Ausmaßes bedroht die Funktions- und Lebensfähigkeit der Städte in den neuen Bundesländern. Dabei ist die aktuelle Verkehrssituation hier von einer stetig steigenden Belegungszunahme im Hauptstraßennetz bis an die Durchlaßfähigkeitsgrenze gekennzeichnet. Aber auch im Nebenstraßennetz ist eine erhebliche Zunahme des Verkehrs zu verzeichnen. Staus sind über die Spitzenzeiten hinaus bis in die Schwachverkehrszeiten zu beobachten. Die Umwelt leidet in zunehmendem Maße durch die hohen Abgasemissionen infolge des zähflüssigen Verkehrs. Betroffen ist aber auch der öffentliche Nahverkehr. In Dresden verfügt beispielsweise nur knapp ein Viertel der Straßenbahntrassen über einen eigenen Fahrweg. Folglich werden die Bahnen mit steigender Intensität vom motorisierten Individualverkehr behindert. Der Anteil des öffentlichen Nahverkehrs am Modal Split ist drastisch zurückgegangen. Die Entwicklung des ÖPNV stagniert. Dies gilt sowohl für die Qualität, als auch für den Umfang des Angebotes. Haushaltsbefragungen in ostdeutschen Städten aus den Jahren 1987 und 1991 [Seite der Druckausg.: 42 ] zeigen, daß der ÖPNV-Anteil an einem durchschnittlichen Werktag in Dresden von 64 % auf 55 % und in Leipzig von 66 % auf 51 % geschrumpft ist. Entsprechend gestiegen sind dagegen die Anteile des Pkw-Verkehrs. Hinzu kommen die erheblichen Straßenschäden, die sich über sechzig Jahre der Vernachlässigung der Infrastruktur angehäuft haben. Über die Hälfte des Straßenhauptnetzes in Dresden sind in die Bauzustandsstufen 3 und 4 (Verschleiß- und Tragschicht bzw. Unterbau verschlissen) einzuordnen. Im Straßennebennetz sind es 84 %. Ebenfalls problematisch ist die Situation der Brücken im Hauptnetz. Etwa jede vierte Brücke ist als teilzerstört oder in der Tragfähigkeit eingeschränkt zu bezeichnen. Die Rolle des Autoverkehrs ist in den alten und neuen Bundesländern unterschiedlich zu bewerten. Während in den westlichen Bundesländern in den siebziger Jahren ein Wertewandel eintrat, ist das Auto in den östlichen Bundesländern der Inbegriff der persönlichen Freiheit geworden. Dabei ist in den alten Ländern der Pkw-Besitz weitgehend abhängig von den Einkommensverhältnissen der privaten Haushalte. In den neuen Bundesländern liegt der Pkw-Besitz dagegen oft höher, als es die Einkommensverhältnisse eigentlich zulassen. Wie sollen nun die Stadtverkehrsplanung und die Stadtentwicklungsplanung auf diese erheblichen, bisher nahezu unbekannten Änderungen der Verkehrsplanungsdaten reagieren, die sich als Ergebnis der Wiedervereinigung, Länderbildung und "zweiter Revolution" des Eigentums abzeichnen und die einen Wandel von Status und Bedeutung der Städte induzieren? Nach dem Beitritt wollten viele ostdeutsche Bürger ein eigenes Auto haben und auch damit fahren. Forderungen nach raschem Bau neuer Straßen wurden laut. Die Veränderungen im Modal Split dürfen jedoch nicht dazu verführen, einer vermeintlichen Entwicklung hinterherzulaufen. Vielmehr müssen diese Verkehrsverlagerungen Anlaß sein, eine neue Art der Verkehrspolitik einzuleiten. In Dresden wurde hierzu 1991 das Konzept der "integrierten Raum- und Verkehrsplanung" postuliert. Bemerkenswert ist, daß diese neue Art der Verkehrspolitik bis in die Verwaltungsstrukturen hineingeführt werden kann - von der übergeordneten Planung über die regionale Planung, die Flächennutzungsplanung bis hin zur Verkehrsplanung. Die Probleme des Verkehrs resultieren grundsätzlich aus individuellen und politischen Entscheidungen in anderen Bereichen. Diese Primärbereiche gilt es [Seite der Druckausg.: 43 ] über die Stadtentwicklungsplanung in den Griff zu bekommen. Es stellt sich also im Grunde die Frage, wo Wirkungsmöglichkeiten für die Stadtpolitik und wo Notwendigkeiten und Ansätze für eine entsprechende Bundes- bzw. für eine übergeordnete Europapolitik bestehen. Neu festzulegen sind die Rahmenbedingungen, von denen der individuelle Entscheidungsprozeß über die Wahl des Verkehrsmittels abhängt. Dies ist der Dreh- und Angelpunkt überhaupt, an dem auch in den neuen Bundesländern eine drastische Änderung der Grundlagen für die Verkehrspolitik notwendig ist. Wie seit den 50er Jahren in den alten Bundesländern bestimmen seit der Wiedervereinigung auch in den neuen Bundesländern die gewollten Transportaufgaben die technischen Lösungen, und aus der gewollten Erreichbarkeit werden Standortkriterien für die Siedlungspolitik abgeleitet. Die Bereitstellung von Verkehrserreichbarkeit und die Individualisierung der Transportnachfrage führen letztendlich zu einer gestörten Verknüpfung von Stadt- und Verkehrsplanung. Dabei werden die kollektiven Transportsysteme uneffektiv und erfolglos. Es entsteht eine wilde Besiedlung, und das Konzept der radialen Achsen greift nicht mehr. Aus diesen Zusammenhängen ergeben sich mehrere selbstinduzierte Prozesse, die vereinfacht wie folgt beschrieben werden können. Der selbstinduzierte Prozeß von Kernfunktion und Nutzung des Pkw oder der Externalisierung der internen Kosten des Verkehrs beeinflußt die Verkehrsplanung unmittelbar.
[Seite der Druckausg.: 44 ] Daraus resultiert letztendlich, daß man zwar für eine Stadt ein gutes Verkehrskonzept erarbeiten kann, sich aber gleichzeitig eine Ohnmacht der lokalen Verkehrsgestaltung abzeichnet, die nicht auf mangelhafte Koordination beispielsweise zwischen Straßen- und Tiefbauamt sowie Stadtplanungsamt zurückzuführen ist. Dies gilt aus der Sicht des Bürgers, aus der Sicht des Politikers und aus der Sicht einer planenden Verwaltung, die in diesen selbstinduzierten Prozessen agieren muß. Örtlich begrenzte Restriktionen für den motorisierten Individualverkehr führen zu einem Attraktionsverlust der Stadt aus der Sicht der auf den Autoverkehr orientierten Wirtschaft und Gesellschaft. Es entstehen neue Standorte im Umland, die autogerecht sind. Folgen sind die Auflösung der Zentren in den Raum hinein, eine weiter steigende Zunahme der Verkehrsleistungen, eine Verminderung der Lebensqualität und Verkehrsprobleme vor Ort. Selbst die Aufhebung der Restriktionen vermag nichts an diesem Prozeß zu ändern. Notwendig ist für die Verkehrspolitik ein "ganzheitlicher Ansatz". Dieser bezieht die Landesregierungen, den Bund und die EG ausdrücklich mit ein. Nur wenn es gelingt, das komplexe Maßnahmenbündel der Verkehrsgestaltung abzuarbeiten, und darüber hinaus integrierend gewirkt wird, ist überhaupt eine Chance für eine neue Verkehrspolitik gegeben. Ansonsten bleibt es beim Reagieren an Stelle von Agieren. Der ganzheitliche Ansatz ist somit kein alternatives Gedankengut, sondern ergibt sich aus der Notwendigkeit der Situation heraus. Es geht um die Gestaltung der Bereiche Wegenetz, Fahrzeug und Betrieb sowie um die Beeinflussung der Verkehrserfordernisse durch Nutzungsplanung, Standortpolitik, Beeinflussung von Wertehaltungen, Public Awareness und Marketing. Notwendig ist ein Rahmenkonzept für die Stadtentwicklung, das auf Flächennutzungsmischung setzt, um bereits durch städtebauliche Strukturen nicht zum Entstehen von Verkehr beizutragen. Aber dieses Vorhaben bleibt wirkungslos, wenn es nicht gelingt, auch die Region einzubeziehen. Viele Probleme des Stadtverkehrs sind zwar größtenteils hausgemacht, aber die regionalen Probleme dürfen nicht vernachlässigt werden. Das Verhältnis Region - Stadt betrifft auch die selbstinduzierten Prozesse, denn "Kernflucht und Verkehrszunahme" reichen über die Stadtgrenzen hinaus in die Region. Ein Ansatz, die Verkehrsproblematik Stadt - Umland in den Griff zu bekommen, liegt in der freiwilligen kommunalen Gemeinschaftsarbeit. Beispiele für solche [Seite der Druckausg.: 45 ] Kooperationen sind der regionale Planungsverband und der Verkehrsverbund Oberelbe. Zu den Aufgaben des regionalen Planungsverbandes gehört auch die Erarbeitung eines Verkehrsentwicklungsplanes, der von folgenden Grundsätzen ausgeht: Notwendig ist eine ganzheitliche Betrachtung des Lebens- und Wirtschaftsraumes; es muß eine Abkehr von ressortorientierter Verkehrsplanung erfolgen, und die Kriterien der Flächennutzungsmischung und Verkehrsreduktion sind generell zu beachten. Da der Bau zusätzlicher Straßen die Funktionsfähigkeit eines Ballungsraumes beeinträchtigt, gibt es Entwicklungskonzepte mit der Forderung: kein Straßenausbau ohne Straßenrückbau. Diese Konzepte, die außerordentlich umstritten sind, gehen von der Erkenntnis aus, daß kein isolierter Straßenbau betrieben werden darf. Vielmehr ist ein schneller Ausbau des Gesamtverkehrsystems mit Schwerpunkt einer Attraktivitätserhöhung des Schienenverkehrs erforderlich. Hinzu kommen muß eine räumliche Ordnung der Ballungsraumstruktur zur Verkehrsverringerung. Ergänzend sind planerische und preispolitische Maßnahmen für ein umweltschonendes Ansiedlungskonzept bzw. ein umweltschonendes Verkehrsverhalten zu verwirklichen, und die Verkehrsflächen sind neu zwischen den Nutzern aufzuteilen. Ein derartiges Gesamtkonzept wurde z.B. für die Landeshauptstadt Dresden entwickelt. Hierin wurden als zwei wesentliche zusätzliche Punkte die Frage eines Güterverkehrszentrums zur Abwicklung des Wirtschaftsverkehrs und der Verkehrsverbund Oberelbe integriert. Der künftige Bedienungsraum des Verkehrsverbundes soll sich dabei mit dem um einen Kreis erweiterten regionalen Planungsraum decken. Vorgesehen ist dabei ein Drei-Ebenen-Modell analog dem Aufbau des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr mit dem Zweckverband als politische Entscheiderebene, der Verbundgesellschaft als Managementebene und den Verkehrsunternehmen als ausführende Ebene nach dem Besteller/Bezahlerprinzip. Mit dieser Form der Ausgestaltung des Verbundes ist ein Ansatzpunkt gefunden, der die planerischen Ziele der Stadtentwicklung und der Regionalentwicklung miteinander verbindet, und es wird verhindert, daß sich die Verkehrsentwicklung verselbständigt. Verallgemeinerbare Erkenntnisse sollen mit Hilfe des Programms "Integriertes Wirtschafts- und Strukturkonzept für den Ballungsraum oberes Elbtal" gewonnen werden, das in Dresden im Rahmen des Projektes "Experimenteller Wohnungs- und Städtebau" (ExWoSt) durchgeführt wird. Gegenstand der Unter- [Seite der Druckausg.: 46 ] suchung ist hierbei eine Reihe von Punkten - wie Vorgänge der Umlandsexpansion, Auswirkungen auf den Kernbereich, Lage von Wohnen und Arbeiten, Standortgefüge, Produktionsstruktur, Arbeitsteilung, Wohlstand, Lebensstandard sowie Ableitung von adäquaten Beförderungs- und Transportmöglichkeiten. Von diesem Projekt werden - neben Ergebnissen zu den einzelnen Punkten - auch neue Ansätze für die Regionalentwicklung erhofft. Insgesamt ist die Situation in den neuen Bundesländern dadurch gekennzeichnet, daß eine außerordentlich starke Autoorientierung eingesetzt hat, deren Ende nicht abzusehen ist. Die Aufgabe von Städtebau und Planung, von Regionalplanung und Raumordnung besteht darin, diesem Prozeß ganz bewußt aktiv entgegenzusteuern. Letztendlich ist das eine der entscheidenden Fragen auch für das Bestehen der neuen Bundesländer und die einzige Chance, die im Grunde für die Bewältigung der Verkehrsfrage in den nächsten Jahrzehnten besteht. Nur im Agieren kann ein echter Ansatz dafür gesehen werden, daß vermeidbare Fehler, die sich im Verlauf der Entwicklung in den alten Bundesländern herauskristallisiert haben, in den östlichen Bundesländern nicht wiederholt werden. Es bleibt zu hoffen, daß die Ansätze, die in der Stadt Dresden und im Umland gefunden werden, auch für das Forschungsfeld ExWoSt Durchschlagskraft haben und übertragbar auf andere Entwicklungsräume in den neuen Bundesländern sind. Damit würden Lösungswege aufgezeigt, mit deren Hilfe die Siedlungspolitik im Ostteil Deutschlands in neue Bahnen gelenkt und damit der Zersiedlung entgegengewirkt werden könnte. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2001 |