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5. Chancen und Grenzen für eine Verbesserung der Verkehrsverhältnisse durch den ÖPNV

Die Entwicklung der Mobilität des Menschen ist von der gesellschaftlichen Entwicklung nicht zu trennen. Dabei können mit der Schaffung neuer verkehrstechnischer Möglichkeiten und durch den freien Zugang zu den öffentlichen und privaten Verkehrsmitteln bestehende Verkehrsbedürfnisse befriedigt werden. Gleichzeitig werden weitere Mobilitätswünsche geweckt. Dabei hat sich in den neuen Bundesländern nach der Vereinigung eine Trendwende zum Individualverkehr vollzogen. Diese Verkehrsverlagerung blieb nicht ohne Konsequenzen für den ÖPNV. Es kam zu Verschiebungen des Modal Split, die konträr zu den Entwicklungstendenzen in Teilen der alten Bundesländer verlaufen. So ist z.B. in den westlichen Ländern die Zahl der mit öffentlichen Verkehrsmitteln beförderten Personen 1992 im Vergleich zum Vorjahr um 2,5 % gestiegen, während sie in den fünf neuen Ländern im Durchschnitt um 13,5% abgenommen hat. Bei diesem Vergleich ist aber zu berücksichtigen, daß in den neuen Bundesländern trotz einer schlechten ÖPNV-Infrastruktur und den - infolge der zunehmenden Motorisierung und steigender Arbeitslosigkeit - drastisch gesunkenen Fahrgastzahlen weiterhin wesentlich mehr Bürger mit öffentlichen Nahverkehrsmitteln unterwegs sind. So befördern z.B. die Dresdener Verkehrsbetriebe jährlich 154 Mio. Fahrgäste bei 577.700 Einwohnern im Verkehrsgebiet, während die Duisburger Verkehrsbetriebe bei einer höheren Einwohnerzahl im Einzugsgebiet (knapp 604.000) lediglich 46 Mio. Fahrgäste aufweisen.

Für die Entscheidung zwischen ÖPNV und Auto sind die zurückgelegten Reisewege von erheblicher Bedeutung. Diese liegen naturgemäß im städtischen Binnenverkehr in der Regel unter denen für Stadt/Umland-Verkehrsrelationen. In vielen ost- und westdeutschen Städten wird bei 5-10 % der mit Pkw durchgeführte Fahrten maximal 1 km zurückgelegt. Mit 20-40 % endet in verschiedenen Städten ein erheblich höherer Teil der Autofahrten bei höchstens 3 km. Und bei 40-60 % aller Pkw-Fahrten beträgt die zurückgelegte Entfernung bis zu 5 km. Dies sind Entfernungsbereiche, in denen der öffentliche Nahverkehr mit einem attraktiven Angebot Fahrgäste zurückgewinnen kann. Diese Erkenntnisse ist für die künftige Organisation des öffentlichen Nahverkehrs und die Verbindung der einzelnen Verkehrsträger untereinander von hoher Bedeu-

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tung. Wichtig sind dabei kurze Wege. Dementsprechend müssen z.B. an Haltestellen Umsteigevorgänge so gestaltet werden, daß Fahrgäste nicht noch lange Wege zurücklegen müssen, um die Anschlußverbindung zu erreichen.

Viele Verkehrsbetriebe befinden sich heute in einer kritischen wirtschaftlichen Situation und einer schwierigen verkehrlichen Lage. Die Gründe hierfür sind vielfältig. Wichtig ist einmal, daß die Personen, die über den öffentlichen Nahverkehr entscheiden, Autofahrer sind. Zum anderen sind die Hauptbenutzergruppen des ÖPNV Arme, Alte, Auszubildende und Ausländer. Beispielsweise werden in Chemnitz im Durchschnitt 52 % aller Wege im "Umweltverbund" (zu Fuß, Fahrrad, ÖPNV) zurückgelegt; der entsprechende Anteil beträgt bei Kindern unter 6 Jahren 59 %, bei Auszubildenden 74 %, bei Rentner 76 %, bei Hausfrauen 62 % und bei weiblichen Erwerbstätigen 61 %. Dagegen sind nur 24 % der männlichen Erwerbstätigen im Umweltverbund unterwegs.

Hinzu kommt, daß für viele Verkehrsteilnehmer der öffentliche Nahverkehr nicht oder nur eingeschränkt gesellschaftsfähig ist. Entscheidende Bedeutung hat auch die Erkenntnis, daß eine Bevorrechtigung des ÖPNV nur sinnvoll ist bei gleichzeitigen Restriktionen des motorisierten Individualverkehrs.

Bisher spielt der öffentliche Nahverkehr bei städtebaulichen Grundsatzentscheidungen und in der Gesetzgebung nur eine nachgeordnete Rolle. Ein Beispiel hierfür ist die Entwicklung der Kilometer-Pauschale im Steuerrecht. Diese ist in den letzten Jahren kontinuierlich angehoben worden. Fahrgäste des öffentlichen Nahverkehrs erhalten hingegen kaum eine finanzielle Entlastung.

Zu berücksichtigen ist weiter, daß es den öffentlichen Nahverkehr nicht umsonst gibt. Innerbetriebliche Rationalisierungsmaßnahmen allein können aber nicht zu den finanziellen Mitteln führen, die für notwendige Verbesserungen erforderlich sind. Gerade in den neuen Ländern besteht beim ÖPNV ein hoher Nachholbedarf. Ein gutes Angebot kann es nur bei einem dichtmaschigen Netz geben. Eine Alternative hierzu gibt es nicht. Ist der öffentliche Nahverkehr erst einmal zurückgebaut, kann mit einer erneuten Kehrtwendung nicht mehr gerechnet werden. Überflüssig sind dagegen Investitionen, die auf falschen Zielstellungen - u.a. auf den Selbstdarstellungsbestrebungen von Politikern oder des Managements von Verkehrsbetrieben - basieren.

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Einen positiven Faktor stellt der Sachverhalt dar, daß der ÖPNV objektiv besser und leistungsfähiger ist als von vielen Bürgern subjektiv angenommen. Bei einer empirischen Untersuchung zur Einschätzung von Fahrzeiten des ÖPNV und des motorisierten Individualverkehrs stellte sich heraus, daß bei öffentlichen Verkehrsmitteln einer realen Reisezeit von 28 Minuten ein mehr als doppelt so hoher "erwarteter" Wert gegenübersteht. Beim Autoverkehr waren die Ergebnisse gerade umgekehrt: Hier wurden bei einer reale Fahrzeit von 22 Minuten nur 15 Minuten "geschätzt". Derartige subjektive Informationsmängel gilt es abzubauen.

Mitverantwortlich für die kritische Lage vieler Verkehrsbetriebe ist schließlich auch, daß die Lobby für den öffentlichen Nahverkehr weitgehend fehlt. Der Umweltverbund muß deshalb eine bessere Unterstützung erfahren. Dementsprechend sind ÖPNV, Fußgänger und Radfahrer intensiver in verkehrspolitische Entscheidungsprozesse einzubeziehen.

Will man zu einer auch unter ökologischen Aspekten sinnvollen Aufgabenteilung zwischen ÖPNV und Autoverkehr kommen, dann muß dem öffentlichen Verkehr in allen gesellschaftlichen Bereichen ein Vorrang eingeräumt werden. Gleichzeitig muß eine Vernetzung und Kooperation mit den übrigen Verkehrsträgern erfolgen. Ziel ist dabei ein integriertes Gesamtverkehrskonzept und ein kooperatives Verkehrsmanagement, in dem der ÖPNV nicht als Restgröße, sondern als wesentlicher Bestandteil fungiert. Wichtig ist, daß bisherige Pkw-Fahrer zum Umsteigen auf Straßenbahn und Bus gebracht werden. Die Erfolgsaussichten entsprechender Bemühungen hängen dabei von der Art der Autonutzung ab. Vereinfachend kann hier von folgender Gruppierung ausgegangen werden:

  • Personen, die sogenannten Sachzwängen unterliegen und deshalb überhaupt keine Verhaltensalternative haben; hierzu zählen z.B. Handelsreisende.

  • Personen, die aufgrund des vorhandenen Verkehrsangebotes objektiv keine Verhaltensalternative haben, u.a. weil es in der Nähe ihrer Wohnung entweder überhaupt kein ÖPNV-Angebot gibt, oder weil die vorbeiführende Buslinie zu falschen Zeiten fährt.

  • Personen, für die eine ÖPNV-Erschließung besteht und die damit eine Verhaltensalternative hätten, diese aber bei ihren subjektiven Entscheidungen ignorieren (z.B. keine Information über das Angebot, starke Vorurteile gegenüber dem ÖPNV).

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  • Personen, die eine Alternative haben, sich dessen auch bewußt sind, die aber die Nutzungsmöglichkeiten der Alternative so schlecht einschätzen, daß kein Gebrauch von ihr gemacht wird (Vorurteil: "Mit dem Auto bin ich viel schneller").

  • Personen, die eine auch subjektiv vorhandene Alternative nicht nutzen.

Will man Autofahrer als Kunden gewinnen, dann muß der ÖPNV zu einer echten Alternative entwickelt werden. Dann darf nicht nur "bedarfsgerecht" gefahren werden. Vielmehr muß man angebotsorientiert agieren. Den Fahrgästen müssen die richtigen Informationen zur Verfügung stehen. Erforderlich ist weiter ein benutzerfreundlicher Ausbau und ein moderner Fahrzeugpark.

Die Entscheidung zum Umsteigen vom motorisierten Individualverkehr auf Straßenbahn und Bus kann durch eine Vielzahl von Maßnahmen zur Erhöhung der Attraktivität des öffentlichen Verkehrsangebotes positiv beeinflußt werden. Zu den entsprechenden Ansatzpunkten, die in eine offensive Strategie einzubinden sind, gehören:

  • die Vermittlung objektiver, nachvollziehbarer und auf die einzelnen Nutzergruppen zugeschnittener Informationen über die Qualität und die Quantität des ÖPNV-Angebots

  • die Sicherung und Erhöhung der Attraktivität des ÖPNV durch Stabilisierung und Ausbau der Verkehrsnetze sowie durch Erhöhung der Reisegeschwindigkeit

  • der Ausbau der vorhandenen und die Schaffung neuer Schienennetze unter Beachtung der zu erwartenden Verkehrsströme bei Einsatz moderner Betriebsleitsysteme

  • die konsequente Umsetzung von Beschleunigungsmaßnahmen für den ÖPNV mittels echter Bevorrechtigung gegenüber dem Pkw durch Anlage von eigenen Bahnkörpern und Busspuren sowie durch Vorrangschaltungen an Ampeln

  • die Beschränkung des Straßennetzausbaus unter Beachtung der tatsächlichen Verkehrsbeziehungen im Binnen- und Quelle/Ziel-Verkehr

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  • die konsequente Anbindung des ÖPNV "mit kurzen Wegen" an aufkommensstarke Ziele und Quellen (z.B. Stadtzentrum, Bahnhof)

  • die Berücksichtigung der kurzen Reisewege der effektiven und potentiellen Kunden (rund 50 % unter 3 km; 25-30 % sogar unter 1 km) bei der Gestaltung der Fahrpläne, Netze, Umsteigeanlagen sowie bei der Führung von Bus- und Straßenbahnlinien durch Fußgängerzonen

  • die Einführung einfacher und übersichtlicher Tarifstrukturen bei einem attraktiven und angemessenen Tarifniveau

  • der Ausbau von Park-and-Ride-Systemen mit gleichzeitiger Absicherung durch flankierende Maßnahmen (Einzelheiten hierzu enthält das Fallbeispiel in Kapitel 6)

  • der Einsatz attraktiver Fahrzeuge in Niederflurtechnik bei gleichzeitiger Aufwandssenkung durch moderne Bauweise und geringen Wartungsaufwand

  • der Ausbau vorhandener Eisenbahnstrecken und deren Integration in das ÖPNV-Angebot bei gleichzeitiger Beachtung der städtebaulichen und infrastrukturellen Entwicklung auf diesen Verkehrsachsen

Fest steht, daß der ÖPNV auch dann den motorisierten Individualverkehr nicht voll ersetzen kann, soll und will, wenn die vorstehenden Maßnahmen zur Erhöhung seiner Attraktivität verwirklicht werden. Beide "Systeme" haben ihre spezifischen Benutzer- und Einsatzkriterien und haben deshalb individuelle Vorteile bei der Erfüllung unterschiedlicher Verkehrsbedürfnisse. Ziel jeder Verkehrspolitik muß es daher sein, eine optimale Verkehrsstruktur zu entwickeln, in der sich die einzelnen Verkehrsträger und Verkehrsarten arbeitsteilig ergänzen. Der ÖPNV ist dabei in seinen Einsatzbereichen durch konsequente Steigerung seiner Leistungsfähigkeit und Attraktivität zu einer echten Alternative für die Pkw-Nutzung zu entwickeln.

Das zentrale Problem ist die Bereitstellung der benötigten Gelder. Betroffen sind nicht nur die Verkehrsunternehmen selbst, sondern auch deren Eigentümer, also die Städte und Kreise. Besonders die Städte in den neuen Bundes-

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ländern verfügen nur über eine äußerst knappe Finanzdecke. Die Möglichkeit einer internen Defizitabdeckung durch die Bildung von Querverbundunternehmen ist angesichts der abgeschlossenen Stromverträge verbaut. Noch leisten die neuen Bundesländer Zuschüsse zu den Betriebskosten. Es gibt aber bereits Ankündigungen - so z.B. von der Regierung des Freistaates Sachsen -, daß diese Mittelzuweisungen für das Jahr 1994 auf der Höhe des Jahres 1993 plafondiert werden. Angesichts der steigenden Betriebs- und Kapitalkosten stellt sich hier die Frage, wie die gewünschte und aus ökonomischen sowie ökologischen Gründen erforderliche Attraktivitätssteigerung beim ÖPNV unter diesen Bedingungen erreicht werden kann.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2001

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