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TEILDOKUMENT:


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4. Verknüpfung von Autoverkehr und öffentlichem Nahverkehr statt Verkehrsverboten

In der Bundesrepublik sind etwa 39 Mio. Pkw zugelassen. Rund 80 % ihrer Betriebszeit - und die liegt sehr niedrig - sind diese Fahrzeuge in den Städten unterwegs. Trotzdem kommen die Autofahrer oft kaum schneller als mit dem Fahrrad oder gerade doppelt so schnell wie zu Fuß voran. Der Verkehr steht in unseren Städten vielfach vor dem Kollaps. Einig sind alle, daß reagiert werden muß. Offen ist aber die Frage nach dem Wie: Soll der ÖPNV weiter ausgebaut werden? Oder soll man dem Auto mit neuen Parkplätzen und Straßen noch mehr Lebensraum geben? Oder sollen die Straßen mit Verboten staufrei gehalten werden?

Bei den Konzepten zur Verringerung des Autoverkehrs in den Innenstädten können vielfältige Ansätze unterschieden werden. Die Vorschläge reichen vom Road-Pricing (Erhebung von Gebühren zur Einfahrt in die Cities), über die Verknappung von Parkraum, die Verlängerung von Rot-Phasen an Lichtsignalanlagen, über den Rückbau von Straßen, die Umgestaltung von Fahrspuren zu besonderen Busspuren bis hin zur Sperrung ganzer Innenstädte für den motorisierten Individualverkehr.

Der Erfolg solcher restriktiver Maßnahmen kann bezweifelt werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn für Verkehrsverminderung und Verkehrsvermeidung plädiert wird, ohne entsprechende Alternativen zu schaffen. Notwendig erscheinen vielmehr konstruktive Maßnahmen, die auf Qualitätsverbesserungen des Gesamtverkehrssystems, also des öffentlichen Nahverkehrs und des motorisierten Individualverkehrs abzielen. Dabei gibt es zur Erhöhung der Attraktivität des Stadtverkehrs eine Vielzahl unterschiedlicher Programmpunkte. Diese erstrecken sich von Maßnahmen, die kurzfristig und ohne großen finanziellen Aufwand umgesetzt werden könnten, bis hin zu Maßnahmen, deren Realisierung erhebliche Mittel und einen langen Zeitraum erfordert.

Nach Auffassung des Automobilclubs von Deutschland AvD kommt bei Bewältigung der Stadtverkehrsprobleme der Verknüpfung der Verkehrsträger eine zentrale Bedeutung zu. Derzeit werden diese Verknüpfungsmöglichkeiten für Autofahrer als unzureichend, nicht vorhanden oder unzumutbar bewertet. Die Annahme der Umsteigeangebote hängt entscheidend von deren Attraktivität, von der Qualität des Umfeldes sowie von nutzerfreundlichen Anreizen ab. Hierfür schlägt der AvD folgendes Bündel von Verbesserungsmaßnahmen vor:

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  1. Leitsysteme zur Verknüpfung der Verkehrsmittel
    Derzeit gibt es in der Bundesrepublik nur an wenigen Autobahnabschnitten Hinweise auf nahegelegene P+R-Stationen. Deutliche Hinweise auf vorhandene Knotenpunkte müssen einmal auf den Ankündigungsschildern von Autobahnabfahrten abgebracht werden. Zum anderen sind diese Umsteigepunkte auch in den Netzplänen der öffentlichen Verkehrsbetriebe besonders zu kennzeichnen. Ergänzend muß mit Verkehrsleit- und Verkehrsmanagementsystemen der Verkehr mittelfristig so gesteuert werden, daß Autofahrer rechtzeitig auf öffentliche Verkehrsmittel hingewiesen bzw. umgeleitet werden.

  2. Einheitliche Fahrausweissysteme für alle Busse und Bahnen
    Umfragen und Tests haben immer wieder bestätigt, daß die Tarifsysteme der öffentlichen Verkehrsunternehmen gerade für den ortsunkundigen Fahrgast undurchschaubar sind. Da kann z.B. der Einzelfahrschein bei einem Unternehmen direkt zur Fahrt genutzt werden, während in der Nachbarstadt der gleiche Fahrausweis vor Fahrtantritt noch entwertet werden muß. Dringend notwendig ist daher ein einheitliches Tarifsystem für ganz Deutschland, wie es in einigen Verkehrsverbünden regional bereits angewendet wird.

    Ein weiterer Ansatz zur einfacheren Nutzung der öffentlichen Nahverkehrsmittel ist die Verwendung von Scheck- und Kreditkarten als Zahlungsmittel. Die vorgesehene Integration eines Chips in die weit verbreitete ec-Karte ist hierbei ein möglicher Ansatzpunkt. Für neue Kunden sind preislich rabattierte "Kennenlern-Karten" anzubieten. Dauerkunden müssen übertragbare Umwelt-Monatskarten erhalten, wie sie bereits von vielen Verkehrsunternehmen eingeführt sind. Mittelfristig könnte diese Monatskarte auch als Auto-Zufahrtsberechtigung für die City gültig werden.

  3. Attraktive P+R-Plätze
    Notwendig sind P+R-Plätze, zu denen die Autofahrer unproblematisch hingeführt werden, die Schutz vor Diebstahl und einen zusätzlichen Service bieten. Solche Anlagen können z.B. in Modul-Bauweise errichtet werde. Hierbei werden in einem Gebäudering zusätzlich zur Abstellmöglichkeit für Pkw Angebote wie Tankstelle, Werkstatt, Reifendienst und Waschanlage unterbreitet. Hinzu kommen Reinigungen, Lotto-

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    Annahmestellen, Gepäckaufbewahrungsmöglichkeiten, Foto-Dienste und evtl. sogar ein Kindergarten und Arztpraxen. Je nach Bedarf kann die Anlage mehrstöckig, unter- oder oberirdisch, gebaut werden. Neben Berufspendlern können auch auswärtige Besucher von solchen Anlagen profitieren; diese verzichten i.d.R. gerne auf eine Autofahrt durch eine für sie fremde Stadt.

    Zur Finanzierung können die verschiedenen Händler und Dienstleister der Anlage herangezogen werden. Ein P+R-Platz muß also in finanzieller Hinsicht kein Streitpunkt sein zwischen den Gemeinden, auf deren Gemarkung eine solche Anlage errichtet wird, und den Gemeinden, die von der Verringerung des Autoverkehrs vorrangig profitieren.

  4. Europa-einheitlicher Farbcode in ÖPNV-Netzen
    Warum kann man sich in Europa nicht auf einen internationalen Farb- und Symbol-Code einigen, der Fahrgästen auch in fremden Städten die Orientierung erleichtert? Wer von einer P+R-Anlage stadteinwärts fahren will, orientiert sich z.B. an durchgehenden grünen Linien auf dem Bahnsteig. Vom Stadtzentrum auswärts führende Verbindungen erkennt der Fahrgast an einer durchbrochenen rote Linie; Querverbindungen sind z.B. gelb, Ringverbindungen blau gekennzeichnet. Ein entscheidender Vorteil des Systems: Es ist mit geringem Aufwand zu realisieren.

  5. Flexible Fahrzeuggrößen
    Die Nahverkehrsunternehmen und die Deutsche Bahn AG setzten vielfach Verkehrsmittel ein, die nicht bedarfs- und umweltgerecht sind. Einerseits sind häufig überdimensionierte S-Bahn und Busse unterwegs, auf der anderen Seite herrschen in Intercity-Zügen Engpässe.

    Warum erfolgt keine Rückkehr zum Schienenbus? Die einzelnen Fahrzeuge können nach Bedarf gekuppelt oder in den Schwachverkehrszeiten einfach abgestellt werden. Warum werden nicht kleinere oder wendigere Buseinheiten beschafft, deren Kapazität in den Verkehrsspitzenzeiten durch Anhänger erhöht wird? Warum werden auf Intercity-Strecken keine Doppelstockwagen eingesetzt? Mit ihnen könnte ohne große Aufwendungen das Sitzplatzangebot verdoppelt werden. Angesichts der geringeren Zahl von Haltepunkten fallen die längeren Fahrgastwechselzeiten kaum ins Gewicht.

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  6. Vorhandene Infrastruktur nutzen
    Warum werden nicht innerstädtische Straßenbahnnetze mit den Regionalstrecken der Bundesbahn verknüpft? Voraussetzung ist allerdings, daß die derzeit schmalspurigen Straßenbahnnetze auf die bei der Bundesbahn gebräuchliche "Normalspur" umgerüstet werden.

    Zu dem Konzept gehört auch, daß Straßenbahnschienen und Oberleitungen nicht rückgebaut werden dürfen. Selbst bei eingestelltem Betrieb stören die Schienen nicht. Aber sie lassen die Möglichkeit offen, den Betrieb bei Bedarf zu reaktivieren. Vorhandene Oberleitungen können für einen umweltfreundlichen Obus-Betrieb in den Innenstadtzonen verwendet werden.

  7. Innerstädtischer Güterverkehr
    Es ist weder umwelt-, noch sozialverträglich, wenn Lkw ihre Waren direkt in den Städten verteilen. Notwendig ist die Einrichtung von Güterverkehrszentren. Hierzu bieten sich z.B. frühere Großmarkthallen oder Schlachthöfe an, sofern sie über einen Schienenanschluß verfügen. Von den Verteilzentren aus könnten die Güter über eine "Waren-Pipeline" zu den großen Kaufhäusern weiterbefördert werden. Für solche Pipelines, durch die dann ansteuerbare Selbstfahr-Container die Waren befördern, reichen die üblichen Kanalisationsrohre mit einem Durchmesser von 1 m oder 2 m aus. Der Bau der Waren-Pipelines könnte mit laufenden Arbeiten am Wasser- oder Abwasserkanalnetz erfolgen. Aber auch auf den bestehenden U-Bahn- und Straßenbahnnetzen könnten in den Nachtstunden Gütertransporte stattfinden. Der umfangreiche Lkw-Verkehr , der die Städte auch dann belastet, wenn umweltfreundlichere Fahrzeuge eingesetzt werden, muß somit nicht stattfinden.

    Nach wie vor gibt es keine zentrale Buchungslogistik für Güter und Laderaum. Systemtechnisch wird ein Buchungssystem analog dem bei Reisebüros eingesetzten START-Programm angeboten. Aber dieses System wird nicht genutzt, weil die Spediteure nur für ihre eigenen Kunden fahren. Rund ein Drittel aller Lkw-Leerfahrten könnte vermieden werden, wenn Frachtkapazitäten und Güteraufkommen besser verknüpft würden.

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  8. Spezialleistungen für Citypendler
    Analog zum Luftverkehr ist ein Gepäck-Transportdienst zu den P+R-Anlagen zu organisieren. Hierbei geben Besucher der Innenstädte nach ihrem Einkauf Taschen, Tüten und Pakete an bestimmten Sammelpunkten ab. Dort wird das Transportgut nach den verschiedenen P+R-Standorten sortiert und in Sammelcontainer gefüllt. Diese könnten dann - wie bei den Flugzeugen - auf den Bahnhöfen in die U- und S-Bahnen gerollt und bis zu den P+R-Stationen gebracht werden. Dort können die Kunden dann gegen Vorlage des Gepäckscheines ihre Einkaufsware wieder In Empfang nehmen.

    Zusätzliche Serviceleistungen müssen auch in anderen Bereichen greifen. Sinnvoll erscheinen z.B. Fahrradverleihstationen und die Möglichkeit der Fahrradmitnahme. Zur Serviceverbesserung gehört weiter die Kombination von Fahrkarte und Eintrittskarte, die schon von zahlreichen Verkehrsunternehmen angeboten wird. Einen besonders wichtigen Bereich stellt schließlich die Fahrgastinformation dar.

  9. Neue Finanzierungsmodelle
    Der ÖPNV braucht neue Finanzierungskonzepte - wie Sponsorship und Franchise-Modelle zur Teilprivatisierung -, die die herkömmliche Finanzierung ergänzen. Denkbar sind nicht nur Job-Tickets, Veranstalter-Tickets, Fahrgelderstattungen bei Einkäufen, sondern auch gesponserte Linien, Fahrzeuge, Haltestellen etc. Eine Haltestelle kann z.B. nicht nur durch Werbeflächen, Warenautomaten oder Verkaufsstellen mitfinanziert werden; die Ausstattung und Wartung des Haltepunktes kann vielmehr auch über Spenden und Sponsorship erfolgen.

    Großveranstaltungen und Messen müssen die ÖPNV-Tickets in ihre Eintrittspreise integrieren. Motto: Wer Verkehr auslöst, um für sich Erträge zu erzielen, muß dafür auch die Kosten tragen.

    An die Ausweisung gewerblicher oder privater Baugebiete ist eine Verkehrserschließungsabgabe zu koppeln, die zweckverbunden zur Finanzierung von Haltestellen, Verkehrsflächen, P+R-Plätzen usw. zu verwenden ist. So können bislang öffentliche Investitionen privat finanziert werden.

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    Denkbar ist auch Großsponsorship für einzelne Fahrzeuge, bestimmte Linien und Haltepunkte. Warum sollte eine S-Bahnlinie in München nicht "BMW-Express", eine Haltestelle in Hamburg nicht "Shell Überseering" genannt werden?

  10. Umdenkungsprozeß einleiten
    Erforderlich ist ein Umdenken im gesamten Verkehrsbereich. Der klassische Verkehrsunterricht muß in anderer Form Pflichtfach werden, d. h. der Umgang mit den Verkehrsmitteln muß gelernt und geübt werden, denn nur was man kennt, nutzt man auch optimal. Schon im Kindergarten gehört ein Verkehrsunterricht in die Ausbildung, der auch den Umgang mit Bahn und Bus vermittelt und deren Benutzung übt. Bestandteil des Unterrichtsprogramms sollte auch das Abwägen von Kosten, Umweltbelastung und Nutzen verschiedener Verkehrsmittel sein.

Alle diese Vorschläge des AvD machen deutlich, daß nicht der Mut zu unpopulären Entscheidungen, wie ihn einige Politiker noch fordern, sondern der Mut zu Entscheidungen für die Zukunft benötigt wird. Es ist vielfach nicht die Lust am Autofahren, sondern der Mangel an Alternativen, der zum Autofahren zwingt. Deshalb sind nicht restriktive, sondern konstruktive Maßnahmen gefragt. Hierzu gehört auch, daß der Straßenbau nicht vernachlässigt werden darf. Die erzielten Einnahmen aus der Mineralölsteuer dürfen nicht nur für den öffentlichen Verkehr ausgegeben werden. Vielmehr müssen bestimmte Investitionen im Straßenverkehr ebenfalls konsensfähig bleiben oder wieder werden.

Benötigt werden eine grundlegende Verknüpfung der Verkehrswege, -mittel und -ströme, der Ausbau der Knotenpunkte und Hinweise auf Alternativen und Umleitungen. Es geht um eine sinnvolle, ökologisch und sozialverträgliche Kooperation aller Verkehrsarten. Hierin hat auch der Autofahrer seinen Platz. Er muß lernen, daß er seinen Pkw nur dann wird behalten können, wenn er ihn maßvoll, partnerschaftlich und umweltbewußt einsetzt. Damit kommt auch dem Autofahrer eine wichtige Bedeutung bei der Beseitigung der hausgemachten Probleme zu.

Diesen Prozeß müssen die Automobilclubs unterstützen. Zu ihren Aufgaben gehört es, einen Dialog zwischen den verschiedenen Nutzergruppen, Verkehrs- und Entscheidungsträgern herbeizuführen und konstruktiv an der Lösung der Probleme mitzuwirken. Nur so können nach Auffassung des AvD die Weichen in Richtung auf eine menschengerechte Zukunft mit Mobilität gestellt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2001

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