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3. Wege zu einem ökologisch und sozialverträglichen Stadtverkehr

In den westlichen Industrieländern hat in den vergangenen Jahren verstärkt ein Lernprozeß gegenüber Techniken, die bislang als fortschrittlich galten, stattgefunden. Erkannt wurde, daß bestimmte Techniken in soziale und ökologische Sackgassen führen. Mit einer Behebung von Fehlern war es dabei nicht getan. Vielmehr mußten grundsätzlich neue Wege eingeschlagen werden.

Zu den Problembereichen zählt auch der motorisierte Individualverkehr. Hierbei ist davon auszugehen, daß es sich beim Auto nicht um ein normales Konsumgut handelt, das den marktwirtschaftlichen Zyklus von der Produktion über den Kauf und Gebrauch zur Entsorgung durchläuft. Vielmehr sind mit dem Auto heute sehr umfangreiche und vernetzte Versorgungs- und Nutzungsinfrastrukturen verbunden. Es handelt sich beim motorisierten Individualverkehr deshalb um infrastrukturprägende Systemtechnik. Das führt dazu, daß es bei einer Untersuchung der Zusammenhänge von Auto und Umwelt nicht nur um Detailverbesserungen beim Auto, sondern um Alternativen zum komplexen System des Automobilismus geht.

Will man die Schadwirkungen des Kfz-Systems reduzieren, dann erscheint zunächst eine Bestandsaufnahme der negativen Effekte der individuellen Massenmotorisierung sinnvoll:

  • Nach dem zweiten Weltkrieg wurden in der alten Bundesländern rund eine halbe Million Menschen im Straßenverkehr getötet. Allein in den letzten 10 Jahren wurden 1,6 Mio. Menschen schwer verletzt. Schon im ersten Jahr nach der Maueröffnung sind 1.500 Menschen in den neuen Bundesländern im Straßenverkehr gestorben. Dieses massenhafte Menschensterben und Menschenverstümmeln wird gegenwärtig immer noch kollektiv verdrängt und verharmlost. Notwendig erscheint eine Verkehrstechnik, die bei dieser Schadwirkung ganz erheblich besser abschneidet. Dabei wäre ergänzend die Tötung zahlreicher Tiere durch Überfahren zu beachten, die es auch zu reduzieren gilt.

  • Eine lange Zeit verharmloste Schadwirkung der individuellen Massenmotorisierung ist die "Verlärmung" von Städten, Dörfern und ganzen Landstrichen. Ein sehr hoher Prozentsatz der Bevölkerung wird dadurch in seiner Gesundheit schleichend, aber nachhaltig beeinträchtigt, was

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    erst in der jüngsten Vergangenheit gründlicher erforscht worden ist. Die gegenwärtige Belästigung durch Verkehrslärm in der Bundesrepublik kann nicht akzeptiert werden.

  • Der motorisierte Verkehr erzeugt etwa die Hälfte der "klassischen" Luftschadstoffe. Besonders beunruhigend für die Gesundheit der Menschen ist die große Zahl der von Kraftfahrzeugen emittierten Kohlenwasserstoffverbindungen. Diese sind in ihren Langzeitwirkungen noch sehr unzureichend erforscht. Für einige bestehen keine ungefährlichen Schwellenwerte, da sie auch in kleinsten Dosierungen krebserregend wirken können. Als Beispiel hierfür sei Benzol genannt, das ein Giftstoff mit "fatalen Auswirkungen" (so das Umwelt-Bundesamt Berlin) ist und dennoch in einer Menge von über 50.000 Tonnen pro Jahr von Kraftfahrzeugen ausgestoßen wird.

  • Die Schadstoffe, die vom Kraftfahrzeugverkehr in den Boden und das Wasser eindringen und damit zum "Bodensterben" beitragen, sind sowohl von der Menge als auch von der Zahl her gewaltig. Pro Jahr werden z.B. über 100.000 Tonnen synthetischer Feinstaub durch Reifenabrieb erzeugt, etwa 1,5 Mio. Tonnen Tausalze eingesetzt und im Mittel von der gesamten Fahrbahnfläche in der Bundesrepublik ein Millimeter abgefahren.

  • Eine sehr dramatische Umweltbelastung ist auch die "raumzerstörende" Auswirkung des motorisierten Individualverkehrs. Er gehört zu den größten Landschaftsverbrauchern, und er verursacht tiefgreifende Belastungen der Landschaft, die weit über den reinen Flächenbedarf hinausgehen. Städte und Landschaften werden durch die autogerechte Ausrichtung zerstört, lebensfeindlich und häßlich. Vor allem in den lebenswichtigen Nahräume entstand durch den motorisierten Individualverkehr ein nicht zumutbarer Funktionsverlust.

Es gibt kein anderes Techniksystem, das in so vielen Dimensionen so dramatisch viele Schäden produziert wie der gegenwärtige Automobilismus. Selbstverständlich stehen dem auch Vorteile gegenüber. So ermöglicht das Auto eine wettergeschützte, schnelle Fortbewegung zu jeder Zeit, zu jedem Ort. Es erweitert den Aktionsradius für Erkundungen, Kontakte und Erholung. Es transportiert und schützt eingekaufte Waren und schützt die Autofahrerin vor männ-

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lichen Belästigungen. Es stabilisiert ökonomische Strukturen, die einen großen Teil der volkswirtschaftlichen Ressourcen und Arbeitskräfte an sich binden, und es kann über den Straßenbau als Konjunktursteuerungsinstrument genutzt werden.

Dringend notwendig ist die Erstellung einer "Gesamtbilanz" des Automobilsystems, die dann mit den entsprechenden Bilanzen alternativer Verkehrssysteme zu vergleichen ist. Dabei kann eine Technikfolgenabschätzung und -bewertung die Informationen liefern, die für eine politische Entscheidung über eine Ergänzung, einen Umbau, einen teilweisen Abbau oder einen Ausstieg aus dem Autosystem benötigt werden. Bei der Abwägung der verschiedenen Aspekte ist zu beachten, daß einige Schadwirkungen des motorisierten Individualverkehrs nicht kompromißfähig und mit positiven Effekten verrechnungsfähig sind. Die heute in den Städten vorhandenen Kfz-Dichten und gefahrenen Geschwindigkeiten liegen über der zuträglichen Belastungsgrenze für Mensch und Natur. Da mit technischen Verbesserungen des Autosystems sich keine akzeptablen Belastungen erreichen lassen, erscheint der Übergang auf ein anderes Verkehrskonzept und Verkehrssystem unumgänglich.

Bei den Überlegungen zur Neuorientierung der Stadtverkehrspolitik ist davon auszugehen, daß das Auto nicht zu Erhöhung der Mobilität geführt hat. Im Mittel legt jeder Einwohner pro Tag ungefähr drei Wege zurück. Daran hat sich auch mit der starken Zunahme des Autoverkehrs nichts verändert. Was sich verändert hat, ist die Wahl des Verkehrsmittels. Es kam zu einer Substitution von Fußwegen, Radfahrten und auch von Wegen mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Autofahrten.

Bei der Mobilität sollte es hauptsächlich auf die Zweckorientierung ankommen, also auf die Zurücklegung von Wegen für bestimmte Zwecke wie Wohnen, Arbeiten, Besuche. Entscheidend kann nicht das Bequemlichkeitsverhalten der Autofahrer auf Kosten der übrigen Verkehrsteilnehmer sein, wobei die Schadwirkungen unbeachtet bleiben. Notwendig wäre ein echter Systemvergleich zwischen dem motorisierten Individualverkehr und dem Umweltverbund, der im Ergebnis eindeutig zugunsten des "Umweltverbundes" ausfallen dürfte.

Ging man früher davon aus, es sei möglich, Städte so umzubauen, daß sie auto- und menschengerecht würden, so weiß man heute, daß nur eins geht: auto- oder menschengerecht. Aber selbst wenn der Autoverkehr reduziert wird,

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bleiben die abgestellten Autos unvereinbar mit den Zielen einer ökologisch und sozialverträglichen Stadtverkehrspolitik. Als Ausweg bleibt deshalb nur die Verringerung der Autoanzahl. Das Auto kann kein Massenverkehrsmittel bleiben.

Zu den Ursachen, warum bisher keine Kehrtwende zugunsten des Umweltverbundes stattgefunden hat, gehört der niedrige Kraftstoffpreis. Würden die enormen externen Kosten des Autoverkehrs - die Schätzungen liegen hier je nach Ansatz zwischen 50 Mrd. bis 250 Mrd. DM - auf den Kraftstoffpreis umgelegt, würde der Liter Benzin bis zu 10 DM kosten. Das Auto hat jedoch die Eigenschaft, Nutzen zu privatisieren und Schäden zu sozialisieren.

Der wichtigste Ansatz zu einem ökologischen und sozialverträglichen Stadtverkehr ist eine Neuverteilung bzw. Rückerstattung von Flächen. Durch den extrem hohen Raumbedarf des motorisierten Individualverkehrs werden Fußgänger, Radfahrer und der öffentliche Nahverkehr stark beeinträchtigt. Zur Flächenrückerstattung und zum Abbau von Privilegien des Autoverkehrs gehören auch Umorientierungen beim Parkplatzangebot. Vermutete Parkplätze am Zielort begünstigen die Entscheidung, für die Fahrt in die Innenstadt das Auto zu nutzen. Gibt es in der Innenstadt und in ihrer Nähe keinen Parkraum, dann wird auf entsprechende Autofahrten verzichtet. Damit entfällt zugleich der Parkplatzsuchverkehr, der in den Städten bis zu 40 % des werktäglichen Autoverkehrs ausmacht.

Seit einigen Jahren ist bei einer Reihe von Stadtplanern, Architekten, Verkehrsingenieuren und Politikern ein mühsamer, aber tiefgreifender "Lernprozeß" für eine Neuorientierung der Stadt- und Verkehrspolitik im Gange. Im Mittelpunkt der Planungen soll wieder der Mensch stehen. Abschied genommen wird von "Monsterbauten" bei Krankenhäusern, Schulen, Büros usw., weil sozialkritische Größen beachtet werden, die nicht überschritten werden sollten. Plädiert wird für behutsamere Sanierungen und den Erhalt gewachsener Lebenszusammenhänge. Gefragt sind wieder Nahraumqualität und Naherreichbarkeit von wichtigen Einrichtungen. Bedeutung erhält eine überlegte Standortplanung mit Funktionsdurchmischungen, um motorisierten Verkehr möglichst zu vermeiden. Dabei wird für einige Stadt- und Verkehrsplaner die Fußgängerstadt wieder zum Leitbild für eine ökologisch- und sozialverträgliche Stadtgestaltung.

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Sollen die Fußgänger wieder im Mittelpunkt der städtischen Verkehrsabläufe stehen, dann müssen vor allem die Verkehrsflächen neu verteilt werden. Als Orientierungshilfe können hierbei folgende Werte fungieren: Rund ein Drittel des jetzigen Verkehrsraums in den Städten sollte an Bäume und Grünflächen zurückerstattet werden. Von der verbleibenden Verkehrsfläche müßte rund die Hälfte den Fußgängern zur Verfügung stehen. Für diese sind zusammenhängende Wegenetze bereitzustellen. Über- und Unterführungen sind als fußgängerfeindlich einzustufen und deshalb zu vermeiden. Den restlichen Verkehrsraum müßte sich der "Fahrverkehr", also Radfahrer, Straßenbahnen, Busse, öffentliche Gütertransportfahrzeuge und die wenigen noch geduldeten Autos (hauptsächlich Taxen) teilen. Zusätzliche Begrenzungen des Autoverkehrs ergeben sich aus der Rückübertragung der Straße als Lebensraum für Anwohner; auch hierdurch wird die Lebensqualität der Städte spürbar verbessert.

Auf dem Weg zu einer menschenwürdigeren und umweltverträglicheren Stadtgestaltung kommt auch der Intensivierung der Fahrradnutzung eine wichtige Bedeutung zu. In diesem Zusammenhang ist die Mobilitätsstruktur der Bevölkerung zu beachten. Untersuchungen ergaben, daß die meisten mit dem Auto zurückgelegten Wege relativ kurz sind. Beispielsweise sind 3 % aller mit dem Auto zurückgelegten Wege nicht weiter als 500 m, ein Drittel aller Autofahrten endet spätestens nach 3 km, insgesamt die Hälfte aller Autofahrer hat nach Fahrten von maximal 5 km ihr Ziel erreicht, und etwa zwei Drittel aller Autofahrten sind nicht weiter als 15 km. Man könnte also mindestens die Hälfte aller Autofahrten "spielend" mit dem Fahrrad zurücklegen, ohne daß es zu einer Beeinträchtigung der Mobilität käme. Zwar hat die Fahrradbenutzung in den letzten Jahren wieder zugenommen, der große Durchbruch zum "Alltagsverkehrsmittel" ist bisher jedoch nicht gelungen. Um diesen zu bewerkstelligen, wären eine generelle Geschwindigkeitsbegrenzung für Kfz in den Städten auf 30 km/h (in Wohngebieten Schrittgeschwindigkeit), Flächenrückerstattungen an Radfahrer und eine deutliche Verringerung des Autoverkehrs notwendig. Noch aber wird die umweltfreundliche Fahrradnutzung durch den Kraftfahrzeugverkehr erheblich gefährdet, behindert und zum Teil unmöglich gemacht.

Einen dritten Ansatzpunkt für eine umweltverträgliche Verkehrsgestaltung in den Städten stellt der öffentliche Verkehr dar. Dieser ist als Alternative zum Auto zu entwickeln und zwar als flächendeckendes Konzept, das primär auf

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den Fußgänger- und Radverkehr orientiert ist. In den Großstädten sind zwar vergleichsweise gut entwickelte öffentliche Nahverkehrssysteme vorhanden, ihr Auslastungsgrad ist jedoch unzureichend. Der Ausbau des Straßennetzes und die dem Autofahrer eingeräumten Vorteile tragen wesentlich dazu bei, daß nicht auf den Umweltverbund umgestiegen wird. Irrig ist aber die Auffassung, man müsse nur den öffentlichen Nahverkehr attraktiver machen und schon würden Autofahrer umsteigen. Mittlerweile verbreitet sich die Erkenntnis, daß Autofahrer nur dadurch zur Nutzung umweltverträglicherer Verkehrsmittel bewegt werden können, wenn Maßnahmen zum Abbau ihrer ungerechtfertigten Flächenprivilegien ergriffen werden.

Der öffentliche Nahverkehr läßt sich in vieler Hinsicht noch umweltfreundlicher gestalten. Neben relativ kostengünstigen Optimierungen in der Organisation und Koordination sind vor allem Emissionsverbesserungen möglich. Der heute verbreitete Dieselbus ist laut und rußend. Wesentlich günstiger für Fahrgäste und Umwelt sind Straßenbahnen, wobei diese aber noch leiser gemacht werden müßten. Der spezifische Flächenverbrauch ist bei Bussen fünfzehnmal und bei Bahnen dreißigmal günstiger als bei Pkw. Bei vielen umweltschädigenden Emissionen ist die spezifische Belastung durch öffentliche Nahverkehrsmittel aber bereits heute erheblich niedriger als beim motorisierten Individualverkehr.

Zur Zeit ist noch kein klarer politischer Wille zu einer Verkehrswende erkennbar. Ob und wann sich ein menschengerechtes und umweltverträgliches Verkehrssystem durchsetzen wird, hängt einmal von den Aktivitäten der Autofahrer und der Autolobby und dabei insbesondere davon ab, inwieweit diese ihre Interessen durchsetzen können. Zum anderen kommt es auch auf die Strategie an, die die Autogeschädigten in Vertretung ihrer Rechte und Interessen einschlagen. Fest steht: Das Konzept "Wir müssen alle Verkehrsmittel fördern und auch gleichzeitig nutzen" kann nicht zu dem gewünschten und notwendigen Erfolg führen. Vielmehr kommt es darauf an, ein integriertes Stadtverkehrssystem von Fußgängerwegen, Radnetzen und öffentlichen Verkehrslinien so aufzubauen, daß der Autoverkehr nicht ergänzt, sondern in seine Grenzen verwiesen wird. Und während der Übergangszeit müssen die Schadwirkungen des motorisierten Individualverkehrs - z.B. über Geschwindigkeitsbegrenzungen und Verkehrsberuhigungen - möglichst rasch verringert werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 2001

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