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1 Einführung in die Problematik des Themas




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1.1 Gesetzlicher Hintergrund



1.1.1 Das Energiewirtschaftsgesetz

Das geltende Energiewirtschaftsgesetz (EnWG) ist mehr als 60 Jahre alt. Es wurde erlassen in der Zeit des Dritten Reiches, dann von der Bundesrepublik übernommen und seither in seiner Grundkonzeption nicht mehr novelliert. Es ist unübersehbar, daß die Einzelregelungen des geltenden EnWG in einer historischen Situation entstanden sind, die von einer ganz anderen technisch - wirtschaftlichen Ausgangssituation und grundlegend anderen Vorstellungen zur Staats-, Gesellschafts-, und Wirtschaftsordnung geprägt war, als wir sie heute haben. Nur so ist wohl zu erklären, daß es zu den zentralen Zielen dieses noch heute gültigen Gesetzes gehört, die Energiewirtschaft vor den "schädlichen Auswirkungen des Wettbewerbes" zu schützen.

1.1.2 Das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung

Auch das andere für die Energiewirtschaft grundlegende Gesetzeswerk, das Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkung (GWB) wurde vor fast 40 Jahren geschaffen. Es ist zwar mehrfach novelliert worden, in seinem die Energiewirtschaft betreffenden Kern, dem § 103, der die Freistellung der leitungsgebundenen Energiewirtschaft vom Wettbewerb erlaubt, aber unverändert geblieben. Das ist auch deshalb bemerkenswert, weil die weitere Zulassung der durch das EnWG geschaffenen Gebietsmonopole seinerzeit ausdrücklich als Provisorium betrachtet wurde.

1.1.3 Struktur der Energiewirtschaft

Die Tatsache, daß Gesetzesregelungen eine sehr lange Lebensdauer haben, muß nicht zwingend gegen sie sprechen. Auch ist oder war die Vorstellung, daß die Sicherstellung der wichtigsten Infrastruktursysteme einer Gesellschaft grundsätzlich Staatsaufgabe sei oder zumindest eine Aufgabe, die der Staat sehr genau zu regulieren und kontrollieren habe und nicht den schwer kalkulierbaren Entwicklungen der Märkte überlassen dürfe, lange Zeit Konsens in den meisten demokratisch und marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften. In einer ganzen Reihe europäischer Länder ist die leitungsgebundene Energieversorgung noch heute Staatsaufgabe oder war es bis vor kurzem. Im Vergleich dazu herrschen in der Bundesrepublik mit ihrer "pluralitischen Struktur" der Energiewirtschaft mit Selbstregulierungselementen relativ liberale Verhältnisse.

1.1.4 Diskussion der Monopolstellung

Erst unter der Obhut bzw. im Windschatten von EnWG und GWB konnte die deutsche Strom- und Gaswirtschaft ihre privilegierte Ausnahmestellung erlangen. Das gilt für kommunale und regionale Monopole ebenso wie für die national und international tätigen Großversorger, von denen sich einige u.a. dank der staatlich garantierten Monopolstellung mit risikofrei erwirtschafteten Monopolgewinnen zu weltweit agierenden und diversifizierenden Konzernen entwickelt haben. Ohne effiziente Kon-

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trolle und nennenswerten Kostendruck konnten sie Jahr für Jahr hervorragende Renditen erzielen, die vor allem von den vertraglich gebundenen Tarifkunden bezahlt worden sind.

1.1.5 Die Möglichkeit einer Strukturreform

Die Ausnahmestellung der leitungsgebundenen Energiewirtschaft ist seit Jahrzehnten Gegenstand heftiger wissenschaftlicher und politischer Debatten, die zahllose Vorschläge und Forderungen nach mehr oder weniger radikalen Strukturreformen des Energie-, insbesondere des Stromsektors hervorgebracht haben. Allerdings mußte man noch bis vor wenigen Jahren den Eindruck gewinnen, daß alle Vorschläge in diese Richtung von Seiten der Energiewirtschaft nachdrücklich abgelehnt werden. Heute sieht es erstmals so aus, als ob eine realistische Chance bestünde, die politischen, rechtlichen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Energieversorgung neu, möglicherweise sogar grundlegend neu zu gestalten.

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1.2 Diskussionen um die Reformbestrebungen



1.2.1 Ineffizienzen des Monopolsystems

Die Reformdiskussion über das geltende Energierecht war bisher ganz überwiegend von der Kritik an den volkswirtschaftlichen Ineffizienzen des Monopolsystems bestimmt. Dieses tendiert nach Auffassung der meisten Kritiker dazu, Überkapazitäten, also Fehlinvestitionen zu produzieren. Auch das staatliche Kontrollsystem hat Fehlinvestitionen offensichtlich nicht verhindert, möglicherweise aber auch nicht verhindern wollen. Klar ist, daß der Stromverbraucher die Kosten aller Investitionen, auch der Fehlinvestitionen, zu bezahlen hatte und hat.

1.2.2 Ziel: Freisetzung von Rationalisierungsmöglichkeiten


Im Mittelpunkt aller Reformkonzepte steht seit langem die Forderung, die u.a. auch von der Monopolkommission unterstützt und begründet wird, die Erzeugung von Strom sowie den Handel und die Belieferung mit Strom oder Gas wettbewerblich zu organisieren und eine Freistellung vom Wettbewerb nur noch für den Betrieb der Übertragungs- und Verteilernetze, die als natürliches Monopol betrachtet werden, zu gestatten. Die Netze sollten nach diesem Konzept allen Erzeugern, Händlern und Kunden diskriminierungsfrei gegen ein Nutzungsentgelt zur Verfügung stehen. Es wird erwartet, daß unter dem Druck des dann entstehenden nationalen und internationalen Wettbewerbes erhebliche Rationalisierungspotentiale freigesetzt werden. Effizientere, dezentral einsetzbare Technologien und innovative Unternehmen sollen auf diese Weise erstmals gleichberechtigte Marktchancen erhalten, die bisher von den Monopolisten abgeblockt sind. Letztlich sollen dadurch die Voraussetzungen geschaffen werden, um die volkswirtschaftlichen Kosten der Versorgung mit leitungsgebundener Energie erheblich zu senken.

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2.3 Ziel: Kostensenkungspotentiale

Wer sich in der energiewirtschaftlichen Praxis ein wenig auskennt, wird wenig Mühe haben, Beispiele für bestehende Ineffizienzen des Monopolsystems zu finden. Auch der Blick nach England oder in die skandinavischen Länder, wo Staatsmonopole in jüngster Zeit entweder privatisiert oder der Konkurrenz mit Privatunternehmen ausgesetzt wurden, scheint die These zu bestätigen, daß durch Wettbewerb hohe Kostensenkungspotentiale aktiviert werden können.

1.2.4 Argumente gegen die Reform

Dennoch lassen sich den hochfliegenden Hoffnungen auf die segensreiche Kraft des Wettbewerbes auch eine Fülle unterschiedlicher Argumente entgegenhalten. So zum Beispiel, daß eine wettbewerbliche Öffnung des Stromsektors, der durch fehlende Substitutions- und Speichermöglichkeiten des Stroms gekennzeichnet sei und deshalb in besonderem Maße der Versorgungssicherheit und des Kundenschutzes bedürfe, vorrangig die marktstarken Großkunden begünstige. Die Tarifkunden und alle Standorte mit geringer Nachfragedichte werden benachteiligt.

So ist es nach Auffassung kritischer Stimmen kein Zufall, daß die Forderung nach wettbewerblicher Öffnung der Strom- und Gasmärkte vornehmlich von den großen Industrieunternehmen vorgetragen wird. Weiterhin wird eine Verschärfung der ohnehin festzustellenden Konzentrationserscheinungen und -tendenzen in der Energiewirtschaft befürchtet, wo neue Oligopolbildungen die vom Wettbewerb erhofften Kostenvorteile rasch wieder beseitigen könnten.

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1.3 Umweltpolitische Perspektiven



1.3.1 Ökologische Effizienzdefizite

Parallel zu der Diskussion um mehr Wettbewerb im Energiesektor hat sich im Verlaufe von jetzt schon fast zwanzig Jahren eine neuartige Argumentationslinie entwickelt. Hier geht es um den Vorwurf hoher ökologischer Effizienzdefizite im Energiesystem, also um unausgeschöpfte Einsparpotentiale und die Hemmnisse, die einer verstärkten Nutzung regenerativer Energien und ökologisch sinnvoller Technologien entgegenstehen. Dazu gehört auch die Debatte um die noch immer ausstehende Internalisierung der ökologischen Schäden bzw. kompensierenden Abgaben auf die Energiepreise.

1.3.2 Staatliche Förderprogramme

Unter umweltpolitisch engagierten Energiepolitikern schienen zunächst staatliche Förderprogramme als Markteinführungshilfen der aussichtsreichste Weg zu sein, um ökologische Hemmnisse zu überwinden. Doch nach einiger Zeit hat sich Ernüchterung breitgemacht. Man glaubte zu erkennen, daß es wenig Sinn hat, auf Dauer mit staatlichen Subventionen die Folgen mangelhafter rechtlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen zu bekämpfen. Insbesondere schien zunehmend klarer zu werden, daß die geltenden Rahmenbedingungen es den Energieversorgern geradezu nahelegen, unerwünschte Konkurrenten und Technologien systematisch zu behindern,

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während zugleich für die Energieversorger selbst innerhalb dieser Rahmenbedingungen kaum ein betriebswirtschaftliches Interesse besteht, eigene Investitionen in Einspartechnologien und ökologisch sinnvolle Stromerzeugungsanlagen zu tätigen. Solche Erfahrungen und Erkenntnisse haben dazu geführt, daß sich auch die Umweltpolitik verstärkt mit Monopol- und Wettbewerbsfragen des Energiesystems befassen muß.

1.3.3 Ökologische Effizienzsteigerung durch marktwirtschaftliche Instrumente

Dieser umweltpolitische Kritikansatz ist von den traditionellen Energiepolitikern lange Zeit nicht ernst genommen worden. Inzwischen scheint allerdings ein Paradigmenwechsel stattgefunden zu haben. Die Zweifel sind gewachsen, ob es heute noch Staatsaufgabe sein muß, traditionelle Ziele wie Versorgungssicherheit und Preisgünstigkeit sicherzustellen, und ob der Staat überhaupt in der Lage sei, solche Ziele ökonomisch effizient umzusetzen.

Gleichzeitig war die gesellschaftliche Bedeutung des Klima- und Umweltschutzes immer weniger zu ignorieren. Viele Umweltpolitiker sind inzwischen der Auffassung, daß die Legitimation des Staates, aus Gründen des Allgemeinwohls regulierend in den Energiesektor einzugreifen, in der heutigen Zeit vorrangig ökologisch begründet werden sollte. Wenn die reichlich vorhandenen Potentiale zur Senkung des Bedarfs an fossilen Energieträgern aktiviert werden sollen, werden dafür geeignete rechtliche und wirtschaftliche Rahmenbedingungen benötigt, die die Nutzung marktwirtschaftlicher Instrumente zugunsten dieses Zieles erlauben.

1.3.4 Das Instrument Deregulierung



1.3.4.1 Der Begriff Deregulierung

In diesem Zusammenhang wird häufig der Begriff der "Deregulierung" verwendet, der in der politischen Diskussion gegenwärtig sehr positiv besetzt ist, ohne daß aber meist geklärt wäre, was darunter jeweils verstanden wird. Deregulierung wird oft gleichbedeutend mit "Entstaatlichung" im Sinne von Entmonopolisierung verwendet, obwohl doch eigentlich klar sein sollte, daß es im Gegenteil staatlichen Handelns (etwa durch das GWB) bedarf, um die Bildung von Monopolen oder Oligopolen zu verhindern. Andere verstehen unter Deregulierung einfach den Verzicht auf wirksame Umweltauflagen oder gar auf jegliche Rahmenbedingungen zur Durchsetzung staatlicher Gemeinwohlziele - jedenfalls soweit diese den "freien Wettbewerb" einschränken könnten. Beide Begriffsverständnisse sind fragwürdig.

1.3.4.2 Deregulierung und Energiesteuern

Wenn man sich darauf verständigt, daß geeignete Rahmenbedingungen nach wie vor notwendig sind, um eine ökologischen Ansprüchen genügende Energiepolitik zu betreiben, kann man allerdings der Frage ausweichen, inwieweit sich Wettbewerbs- oder "Deregulierungs"-ziele einerseits und Umweltziele anderseits miteinander vereinbaren lassen oder einander grundsätzlich ausschließen. Für beide Positionen gibt es gute Gründe, die jeweils hartnäckig verfochten werden.

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Immerhin gibt es einen ziemlich weitreichenden Konsens, daß Deregulierung nicht automatisch dem Umweltschutz nützt. Zumindest solange die politische Kraft fehlt, eine wirksame Internalisierung der ökologischen Schadenskosten der konventionellen Energieerzeugung etwa via Energiesteuer durchzusetzen, setzt jede wettbewerbliche Öffnung der Energiemärkte deshalb - wie immer geartete - Präferenzregelungen zugunsten ökologischer Energieerzeugung und -nutzung und zugunsten von Einsparzielen voraus. Andernfalls würden die Umwelt- und Klimaschutzziele der Bundesregierung und der europäischen Gemeinschaft in unerreichbare Ferne gerückt.

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1.4 Die Binnenmarkt-Richtlinien der EU



1.4.1 Die Auswirkungen der Richtlinien auf die Diskussion in Deutschland

Der Grundsatzstreit über diese Fragen hat erheblich an Aktualität gewonnen, seit die europäische Union vor einigen Jahren ihre ersten Entwürfe für die Binnenmarktrichtlinien Elektrizität und Gas in die Diskussion gebracht hat. Die EU-Richtlinien provozierten in Deutschland zunächst eine breite Ablehnungsfront, in die sich das ökonomisch und das ökologisch orientierte Reformlager gleichermaßen einreihen konnten wie die Gegner jedweder Reform - wenn auch aus entgegengesetzten Gründen.

Die Verfechter des Wettbewerbsgedanken kritisieren die Richtlinie als einen regulierungsüberfrachteten, lediglich halbherzigen Schritt in die richtige Richtung. Die Umweltschützer sahen ihr Anliegen allenfalls als Lippenbekenntnis erwähnt, das in der Praxis von dem alles dominierenden Ziel, möglichst niedrige Energiepreise durchzusetzen, überrollt werden würde. Und die Anhänger des Status quo sahen ihrerseits schwere Wettbewerbsnachteile für die deutsche Energiewirtschaft voraus und malten unerträgliche Energiepreissteigerungen für die Tarifkunden und den Zusammenbruch der Kommunalfinanzen an die Wand.

1.4.2 Die Stromrichtlinie

Diese Diskussionsfronten haben sich im Verlaufe der Zeit freilich verschoben, und zwar in dem Maße, wie die Wahrscheinlichkeit wuchs, daß sich die EU-Mitgliedsländer zumindest im Elektrizitätsbereich auf einen Kompromiß verständigen würden. Dieser beinhaltet im Kern weiterhin eine diskriminierungsfreie Öffnung der Strommärkte für den Wettbewerb, beläßt den einzelnen Mitgliedsstaaten jedoch große Spielräume, wie sie die von der EU vorgegebenen Prinzipien und Handlungsmöglichkeiten realisieren wollen. Mit der Verabschiedung des "Gemeinsamen Standpunktes" der EU im Juni diesen Jahres und aufgrund der Einschätzung, daß das Europäische Parlament die Richtlinie weitgehend unverändert passieren lassen würde, ist die Bereitschaft erheblich gestiegen, sich mit der im Richtlinienentwurf erkennbaren Philosophie der EU nolens volens anzufreunden. Alle Gruppierungen konzentrieren sich nunmehr darauf, das nationale Reformprojekt zu beeinflussen. Alle berufen sich dabei neuerdings auf die europäische Richtlinie - allerdings, je nach Interessenlage, auf ganz unterschiedliche Bestimmungen.

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1.5 Position der Länder zu der Novelle des Energiewirtschaftsgesetzes

Nachdem die Bundesregierung im Oktober 1996 ihren jahrelang diskutierten Novellierungsentwurf von EnWG und GWB endlich verabschiedet hat, wird der Bundesrat in diesen Tagen eine erste Weichenstellung vornehmen, die für das politische Schicksal des Regierungsentwurfs nicht ganz unwichtig sein dürfte. Es zeichnet sich ab, daß sich der Bundesrat wohl mit ziemlich breiter Mehrheit auf eine Reihe kritischer Positionen zum Regierungsentwurf einigen wird.

Besonders bemerkenswert ist, daß die Bundesratsmehrheit die Bundesregierung wahrscheinlich rügen wird, daß ihr Wettbewerbskonzept unzulänglich sei und hinter den von der EU vorgegebenen Prinzipien und Möglichkeiten einer diskriminierungsfreien Marktöffnung weit zurückbleibe.

Ein zweiter Kernpunkt der Bundesratskritik dürfte sich darauf beziehen, daß die Bundesregierung zwar den Umweltschutz zum energiepolitischen Ziel erhebt, es aber unterlassen habe, Instrumente zu schaffen, die dieses Ziel praktikabel und wirkungsvoll absichern könnten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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