FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




[Seite der Druckausgabe: 12]

2. Entwicklungsperspektiven, Chancen und Potentiale der "Plattenbausiedlungen"

2.1 Sozialräumliche und städtebauliche Potentiale

Die meisten großen Neubau-Siedlungen in den östlichen Bundesländern zeichnen sich durch soziale und städtebauliche Merkmale aus, die gute Chancen für eine langfristig erfolgreiche Weiterentwicklung beinhalten. Dabei zählen zu den besonderen sozialräumlichen Chancen die folgenden Aspekte:

  • Die Bewohnerstrukturen sind sozial gut durchmischt. In der Regel gibt es unkomplizierte, nicht durch soziale Barrieren behinderte Nachbarschaftsbeziehungen.
  • In vielen Bereichen hat sich durch die langjährig stabile Wohnungssituation eine informelle Bewohnerselbsthilfe entwickelt; dies trug zur Bindung der Bewohner an ihr Wohnquartier bei.
  • In allen Siedlungen besteht ein funktionierendes Netz sozialer Grundbetreuung.
  • Die Anbindung an den übrigen Stadtorganismus ist durch einen gut ausgebauten öffentlichen Personennahverkehr garantiert.

Daneben gibt es auch eine Reihe städtebaulicher Chancen:

  • Die Bebauungsstruktur ermöglicht eine Durchlässigkeit der Freiräume und Zugänglichkeit der wohnungsnahen Außenräume, die durch keine Parzellierung und Abschottung durch Zäune oder Verbote behindert wird.
  • Insbesondere für Kinder eröffnen sich große zusammenhängende Areale, die frei von Verkehr gefahrloses Spielen ermöglichen.
  • Die Planungs- und Baurichtlinien der Entstehungszeit haben Grundwerte in Bezug auf die zulässige Lärmbelästigung, die notwendige Belichtung und Besonnung festgeschrieben, die heute günstige stadthygienische Bedingungen darstellen.
  • Ein besonderer Wert der Großsiedlungen ist ihre Lage im Stadtgebiet. Sie grenzen häufig unmittelbar an landschaftlich wertvolle Gebiete oder auch landwirtschaftlich genutzte Zonen, die einen besonderen Freizeitwert bekommen können.

Jedes planerische Eingreifen muß die besonderen sozialen und räumlichen Standortqualitäten erkennen und sie als Entwicklungspotential begreifen. Denn nichts wäre unklüger, als bereits bestehende, langjährig erprobte, funktionierende

[Seite der Druckausgabe: 13]

und taugliche Strukturen zu zerstören. Für den Planer sind daher folgende Entwicklungsziele abzuleiten:

  • Es gilt an erster Stelle, die lokale Identität der Bewohner mit ihrem Quartier zu stärken. Informelle Formen der Aneignung - seien es Formen von Fassadenbegrünungen, Balkonbepflanzungen, Verkleidungen oder Verglasungen an Balkonen und Fenstern oder die intensive Benutzung der Garagen für verschiedene Hobbies u.a.m. - zeigen bereits z.T. einen hohes Maß von Identifikation.
  • Das Wohnumfeld ist eine wichtige Eingriffsebene, auf der schon mit begrenzten finanziellen Mitteln erste wirkungsvolle Maßnahmen realisiert werden können, wie z.B. vernetzte Fuß- und Radverbindungen, Anlage von zentralen Plätzen oder die Organisation und Gestaltung von Räumen für Freizeitaktivitäten in Wohnungsnähe.

Bei allen Planungen sind die angemessene Information über angestrebte Veränderungen und die Beteiligung der Bewohner an den sie betreffenden Planungsprozessen unerläßlich. Gerade in den Siedlungen, in denen sich die Bevölkerung in einem ambivalenten Zustand "paralysierter Motivation" befindet, muß von Seiten der verantwortlichen Behörden und Planer ein deutliches Signal gesetzt werden. Die Bewohner müssen sich sicher fühlen können, daß an Stelle weiterer Entwertungen ihrer Wohnquartiere ein Prozeß der gezielten Konsolidierung eingesetzt hat, für den sie täglich neue Anzeichen sehen.

Page Top

2.2 Städtebauliche Entwicklungskonzepte und stadtplanerisches Vorgehen

Die Kommunen müssen sich der gesellschafts- und wohnungspolitischen Bedeutung bewußt sein, die die Großsiedlungen für ihre weitere Entwicklung übernehmen. Dies gilt in besonderem Maße für Berlin mit Großsiedlungen, die von der Einwohnerzahl her eigene Großstädte sind: In Marzahn leben 150.000, in Hellersdorf 105.000 und in Hohenschönhausen 75.000 Menschen. Etwa 40 % dieser Bevölkerung ist jünger als 15 Jahre.

Die Berliner Großsiedlungen haben städtebauliche Mängel, aber auch besondere Entwicklungsmöglichkeiten: Flächenpotentiale zum Weiterbau für ergänzende soziale und kulturelle Infrastruktur, für ein differenziertes Wohnungsangebot, für Arbeitsplätze und für ein ökologisch orientiertes Umfeld - und dies alles bei vorhandener technischer und sozialer Infrastruktur. Sie haben bauliche Mängel, die zu einem Drittel vergleichbarer Neubaukosten zu beheben sind. Es besteht die

[Seite der Druckausgabe: 14]

Chance, eine Destabilisierung der Großsiedlungen zu verhindern, wenn die städtebaulichen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, umgehend erfahrbare Verbesserungen im Stadtbild und in der Versorgung erreicht werden und mit der Behebung der baulichen Defizite begonnen wird.

Berlin ist seit Ende 1991 mit einem Landesförderungsprogramm in den Großsiedlungen tätig. Neben sofort wirksamen Maßnahmen zur Aufwertung von Großhöfen, Spielplätzen, zur Straßenbegrünung etc. wurden Planungsverfahren und Beteiligungsprozesse in die Wege geleitet, die nachfolgend am Beispiel Marzahn-Ost vorgestellt werden.

Ein städtebaulicher Rahmenplan, wie er z.B. für Berlin/Marzahn-Ost erarbeitet wurde und in vielen anderen Siedlungen ebenfalls diskutiert wird, gibt für einen begrenzten und überschaubaren Stadtbereich eine zusammenfassende Darstellung von Ausgangsbedingungen, Problemstellungen und Mängeln. Er zeigt ebenfalls Veränderungsmöglichkeiten und Entwicklungspotentiale auf. Für Marzahn-Ost behandelt der Rahmenplan im einzelnen folgende Inhalte:

  • Eine detaillierte Erhebung über den derzeitigen Gebäudebestand und die darin vorliegenden Nutzungen.
    Daraus leiten sich Mängel und Konflikte bezüglich des Bestandes ab. Ein Stufenplan zur Instandsetzung bzw. Ergänzung wird erarbeitet. Die Bewohner der Siedlungen möchten auch in Zukunft dort wohnen bleiben. Sie brauchen aber z.T. mehr Wohnraum als bisher oder auch qualitativ anderen Wohnraum. Das Wohnungsangebot muß also differenziert werden, um den Ansprüchen der Bewohner gerecht zu werden und sie langfristig in den Gebieten zu halten. Im Durchschnitt wurde eine notwendige Bestandsergänzung für die Berliner Großsiedlungen von jährlich insgesamt 1000 bis 3000 Wohneinheiten ermittelt, damit die dort ansässige Bevölkerung ihre veränderten Wohnwünsche realisieren kann.

  • Die Erhebung und Bestandsbewertung der vorhandenen Infrastruktur ergab eine notwendige Anpassung der sozialen Infrastruktur:
    Der Bestand an KITA-Flächen muß als ausreichend bzw. abhängig vom Bezugsjahr der Siedlung sogar schon als zu hoch angesehen werden. Schon 1994 wird in Marzahn-Ost ein Viertel der KITA-Plätze nicht mehr belegt werden. Die damit frei werdenden Räume stellen ein solides Angebot für Umnutzungen dar.

[Seite der Druckausgabe: 15]

  • Die neue Organisation der Schulversorgung bedingt einen Umbau und Ausbau der bestehenden Schulgebäude sowie den Neubau von weiteren Schulen. Hier sind noch große Defizite zu verzeichnen. Für eine Stabilisierung der Großsiedlungen und eine positive Weiterentwicklung ist aber auch die Ausstattung mit Jugendfreizeiteinrichtungen, mit Seniorenbegegnungsstätten und mit Freizeit- und Sporteinrichtungen von besonderer Wichtigkeit. Hier werden ausreichend Flächen für zukünftige Neubauten bzw. Umnutzungspotential in bestehenden Gebäuden - auch in Wohngebäuden - nachgewiesen.

  • Eine Analyse des Freiraumbestandes ergibt Aufschlüsse darüber, welche Art von Stadträumen vorhanden sind, welche Qualitäten verschiedene Freiräume aufweisen und welche Nutzungen möglich sind. Es stellt sich durchgängig heraus, daß genügend Flächen und auch die richtigen Freiflächen vorhanden sind, um die erforderlichen Nachrüstungen im sozialen Infrastrukturbereich vornehmen zu können und ein abgestimmtes Grün- und Freiflächenkonzept zu erstellen.

  • Ein weiterer Aspekt ist der fließende und der ruhende Verkehr. Die vorwiegend autogerechte Ausbildung der Großsiedlungen -trotz guter Anbindung an die Innenstadt durch den ÖPNV !- wird den veränderten Nutzungsanforderungen nicht mehr gerecht. Eine Hierarchisierung des Straßensystems, die Herausnahme von Stellplätzen aus den Blockinnenbereichen, die Anlage zusammenhängender Fuß- und Radwegverbindungen und die Verbesserung der Aufenthaltsqualität in den Wohnstraßen und auf zentralen Stadtplätzen sollen Priorität haben - ein schwieriges Thema, das sorgfältig mit den Bewohnern entwickelt werden muß.

  • In den meisten Gebieten fehlen wohnungsnahe Gewerbe- und Dienstleistungsbetriebe. Eine Neuansiedlung wäre hier wünschenswert, wobei die Standorte gebietsabhängig festzulegen sind. Denkbar wäre eine Lokalisierung auf den Flächen bisheriger Pkw-Stellplätze an den großen Durchgangsstraßen. Aber auch eine dezentrale Integration in Erdgeschoßbereiche der Wohnblocks sollte überprüft werden. Die Lebensqualität in den Siedlungen wird wesentlich gesteigert werden können, wenn vielfältige und leicht zugängliche Nutzungen möglich sind.

[Seite der Druckausgabe: 16]

  • Wenn die Forderung nach größerer Differenzierung des Wohnungsangebotes und der Nutzungsstrukturen erhoben wird, dann ist auch an Neubau in den Großsiedlungen zu denken. Es gibt eine Vielzahl von Flächen innerhalb der Siedlungen und an Randlagen, die eine Neubebauung aufnehmen könnten. Eine sinnvolle Nutzung von solchen Restflächen oder Zwischenzonen mit wohlüberlegter Bebauungsstruktur kann die Gesamtgestalt des Gebietes nicht unwesentlich neu prägen und zur Erkennbarkeit und Identität einzelner Stadtviertel beitragen.
    In diesem Zusammenhang sind auch zusätzliche Eckbebauungen zu nennen. Hier ist bereits eine Typologie möglicher baulicher Lösungen erarbeitet worden, wobei die jeweiligen kleinklimatischen Standortbedingungen im Einzelfall zu überprüfen sind. Eine Akzentuierung der Ecken bietet aber grundsätzlich gute Chancen, gestaltprägend für die gesamte Siedlung zu wirken.

Alle kontinuierlich mit der Bewohnerschaft erarbeiteten Konzepte zu einzelnen inhaltlichen Teilaspekten müssen koordiniert und in einen konkreten Maßnahmenplan umgesetzt werden. Dabei wird von folgenden grundsätzlichen Überlegungen ausgegangen: Eine zukunftsträchtige Weiterentwicklung der Großsiedlungen - bei den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und dem sich daraus ergebenden Funktionswandel - erfordert zunächst ein Nachholen all derjenigen Investitionen, die bisher im öffentlichen Raum, bei den Grün- und Freiflächen, bei der sozialen und kulturellen Infrastruktur, bei der Instandhaltung der Wohngebäude oder für weitergehende stadtgestalterische Maßnahmen am Gebäudebestand nicht getätigt wurden. Es ist als eine öffentliche Aufgabe anzusehen, solche Maßnahmen nachzuholen. Erst dann wird eine Siedlung fähig, den normalen weiteren Prozeß der Stadtveränderung zu tragen.

In Berlin ist daher ein Förderprogramm entwickelt worden, das für einen Zeitraum von 10 bis 15 Jahren Maßnahmen

  • der Schadensheilung,
  • der nachholenden Instandsetzung
  • und der städtebaulichen Nachrüstung

koordiniert und finanziert. Nach einer schrittweisen Umsetzung des Förderprogramms sollten die Großsiedlungen dann dem normalen Stadtwerdungsprozeß übergeben werden.

[Seite der Druckausgabe: 17]

Jedes Eingreifen wird allerdings auch nur dann nachhaltig erfolgreich sein, wenn die betroffenen Bewohner die Konzepte selbst mitentwickeln, wenn sie die Maßnahmen einordnen können, um sie mitzutragen. Eine Bewohnerbefragung in Marzahn-West ergab, daß die dort lebende Bevölkerung erst einmal weniger an großartigen Umgestaltungsmaßnahmen interessiert ist; vielmehr wünscht sie sich kleine Verbesserungen der alltäglichen Gebrauchstauglichkeit ihrer Wohnumgebung, wie z.B. die Sicherung von Schulwegen besonders an stark befahrenen Kreuzungen oder die Trockenlegung der am häufigsten benutzten Fußwege in der Siedlung und deren angemessene Beleuchtung.

Die unverzügliche Realisierung dieser Wünsche hat einerseits das Vertrauen der Bewohner in den gemeinsamen weiteren Arbeitsprozeß gestärkt. Andererseits wurden aber auch die Planer in folgender Grundauffassung bestätigt: Eine Weiterentwicklung der Großsiedlungen kann nur dann zu positiven Ergebnissen führen, wenn alle Maßnahmen vor Ort und im Dialog mit der Bewohnerschaft und in Kooperation mit allen Verwaltungen und Institutionen stattfinden. Alle Akteure müssen frühzeitig eingebunden werden, um den gesamten Prozeß mit gestalten zu können, denn wichtiger als ein fertiger Plan ist oft der eigentliche Prozeß. Schon vor einer abgestimmten Gesamtplanung sind aber Sofortmaßnahmen einzuleiten, die j e t z t zu einer Stabilisierung der Siedlungen beitragen: Eine unverzügliche Weiterentwicklung und ergänzender Neubau müssen Vorrang haben vor abwartender Beobachtung oder gar Abriß.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2000

Previous Page TOC Next Page