FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 3 / Fortsetzung ]


2. Geringfügige Beschäftigung als Haupt und Nebenbeschäftigung

2.1. Rechtliche Grundlagen

Hinsichtlich der Lohnsteuer und der Unfallversicherung bestehen auch bei geringfügiger Beschäftigung keine Besonderheiten. Lediglich für den Fall, daß der Beschäftigte keine Lohnsteuerkarte vorlegt, kann der Arbeitgeber die pauschalierte Lohnsteuer in Höhe von derzeit 20%, zuzüglich Kirchensteuer und Solidaritätszuschlag, abführen. Aus Praktikabilitätsgründen wird dieser Weg zumeist gewählt, da die Lohnsteuerklassen V (Ehegatten-Verdienst) und VI (Zweitverdienst) extreme Lohnsteuersätze enthalten.

Die Geringfügigkeitsgrenze, bis zu der Sozialversicherungsfreiheit besteht, ist in Paragraph Acht Sozialgesetzbuch (SGB) IV festgelegt. Hierbei wird bei der geringfügigen Beschäftigung eine geringfügig entlohnte Dauerbeschäftigung und eine kurzfristige Beschäftigung unterschieden.

Eine geringfügig entlohnte Dauerbeschäftigung liegt vor, wenn

  • die Beschäftigung regelmäßig weniger als 15 Stunden in der Woche ausgeübt wird und

[Seite der Druckausg.: 4 ]

  • das Arbeitsentgelt regelmäßig ein Siebtel der monatlichen Bezugsgröße (1996 = DM 590,- im Westen und DM 500,--im Osten) nicht übersteigt.

Die Bezugsgröße wird jährlich neu festgelegt und richtet sich nach dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt aller Versicherten der gesetzlichen Rentenversicherung im vorangegangenen Kalenderjahr. 1996 betrug die Bezugsgröße also 4130,- DM in Westdeutschland und 3500,- DM in Ostdeutschland.

Ein höheres Arbeitsentgelt ist dann versicherungsfrei, wenn es ein Sechstel des Gesamteinkommens (der Einkünfte nach dem Einkommenssteuergesetz) nicht überschreitet und eine Nebentätigkeit vorliegt. Eine geringfügige Nebentätigkeit liegt dann vor, wenn eine sozialversicherungspflichtige oder in anderen Systemen (Beamtenversorgung) abgesicherte Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausgeübt wird, zu der eine geringfügige Beschäftigung hinzutritt. Verdient beispielsweise ein Arbeitnehmer 7000,- DM im Monat, so ist eine Nebenbeschäftigung von bis zu 1400,-DM versicherungsfrei, wenn sie weniger als 15 Stunden wöchentlich in Anspruch nimmt.

Eine kurzfristige Beschäftigung liegt vor, wenn sie unabhängig von der Höhe des Arbeitsentgeltes im Laufe eines Jahres auf höchstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage begrenzt ist. Die Begrenzung muß entweder im voraus vertraglich vereinbart werden oder aufgrund der Eigenart der Beschäftigung (z.B. Erntehelfer) feststehen. Sie ist aber nur dann sozialversicherungsfrei, wenn sie nicht berufsmäßig ausgeübt wird, d.h. sie muß für den Beschäftigten von untergeordneter wirtschaftlicher Bedeutung sein.

Zur Feststellung der Versicherungspflicht sind mehrere geringfügig entlohnte Beschäftigungen und mehrere kurzfristige Beschäftigungen bei verschiedenen Arbeitgebern zusammenzurechnen. Überschreiten Einkommen oder Arbeitszeiten die Geringfügigkeitsgrenze, so tritt Versicherungspflicht ein.

Für die Beitragspflicht zur Arbeitslosenversicherung gilt eine besondere Regelung: Beitragsfreiheit ist - unabhängig von der Höhe des Entgeltes - dann gegeben, wenn die Beschäftigung auf weniger als 18 Stunden wöchentlich beschränkt ist. Außerdem sind alle kurzfristigen Beschäftigun-

[Seite der Druckausg.: 5 ]

gen beitragsfrei, die in der Renten- und Krankenversicherung beitragsfrei sind. Hier werden mehrere kurzzeitige Beschäftigungen nicht zusammengerechnet.

Für Studierende galten bis Oktober 1996 noch weit großzügigere Ausnahmeregelungen von der Versicherungspflicht. Ihre Beschäftigung oder Tätigkeit war versicherungsfrei, wenn sie nicht mehr als 20 Stunden wöchentlich arbeiteten. In den Semesterferien war eine selbst vollschichtige Beschäftigung versicherungsfrei. Voraussetzung war aber, daß Zeit und Arbeitskraft überwiegend durch das Studium in Anspruch genommen werden. Nunmehr gilt aber auch für sie nur noch die Geringfügigkeitsgrenze.

Arbeitsrechtlich sind geringfügig Beschäftigte den "normalen" Beschäftigten gleichgestellt. Sie haben also Anspruch auf bezahlten Urlaub, auf Kündigungsschutz und auf Lohnfortzahlung im Krankheitsfall. Das Mutterschaftsschutzgesetz gilt ebenfalls für sie.

Die gesetzlichen Sozialleistungen werden ihnen allerdings in der Praxis häufig nicht gewährt. Auch werden sie nicht selten unter Tarif bezahlt mit dem Argument, daß ihre Bezüge ohne weitere Abzüge brutto für netto zur Auszahlung gelangten.

Oft ist geringfügig Beschäftigten nicht klar, daß sie einen Anspruch auf gesetzliche Sozialleistungen, z.B. auf Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall haben. Bei Aushilfstätigkeiten gibt es einen besonders großen Graubereich. Geringfügig Beschäftigte, die eine Aushilfstätigkeit "ausüben", unterliegen keinem persönlichen Kündigungsschutz. Arbeitspolitische Fördermaßnahmen greifen für geringfügig Beschäftigte kaum, da sie nicht Leistungsbezieher des AFG sind. Auch zu betrieblichen Weiterqualifikationen haben sie in der Regel keinen Zugang. In den seltensten Fällen sind geringfügig Beschäftigte gewerkschaftlich organisiert. Es handelt sich also um zumindest in Teilbereichen ungeschützte Beschäftigungsverhältnisse.

[Seite der Druckausg.: 6 ]

Page Top

2.2 Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse aus Sicht der Beschäftigten und der Arbeitgeber

Die Mehrzahl der geringfügig Beschäftigten empfindet diese ungeschützten Arbeitsverhältnisse nicht als prekär. Im Gegenteil ist es für sie attraktiv, daß ihr Entgelt ohne weitere Abzüge brutto wie netto ausgezahlt wird. Dazu gehören Schüler, Studenten und Rentner. Auch die meisten Ehefrauen werten ihre Beschäftigung nicht als prekär, da sie - auf Kosten aller Beitragszahler - über die Familienversicherung abgesichert sind. Hier ist jedoch zwischen individuell empfundener und objektiver Prekarität zu unterscheiden. Angesichts der derzeitigen Scheidungsrate ist das objektive Risiko, ohne Versicherungsschutz zu enden, größer als die meisten der geringfügig beschäftigten Frauen es einschätzen. Zudem ist bei vielen Gruppen von Frauen zu bezweifeln, ob sie tatsächlich diese Beschäftigungsform wünschen. Das Angebot der Arbeitgeber läßt ihnen vielmehr gar nicht die Wahl, auf ein "Normalarbeitsverhältnis" zurückzugreifen.

Für die Unternehmen ist die Einstellung geringfügig Beschäftigter mit vielen Vorteilen verbunden: Durch den Einsatz geringfügiger Beschäftigter sparen sie Lohn(neben)kosten und erzielen somit Wettbewerbsvorteile gegenüber ihren Konkurrenten. Allerdings resultiert dieser Kosteneinsparungseffekt eher aus dem in der Praxis zumindest teilweise nicht eingehaltenen gesetzlichen Sozialleistungen wie Urlaubsgeld, Lohnfortzahlung im Krankheitsfall usw. als aus der Sozialversicherungsfreiheit. Denn bei Einführung einer Versicherungspflicht und gleichzeitigem Wegfall der Pauschalsteuer von 20 vH würde sich die Kostensituation der Unternehmen kaum verändern. Für die Unternehmen sind geringfügige Beschäftigungsverhältnisse insbesondere aber deshalb vorteilhaft, weil sie ein hohes Flexibilitätspotential aufweisen. Sie erlauben es ihnen, auf saisonale Schwankungen und unterschiedliche Kapazitätsauslastungen besser zu reagieren. Angesichts zunehmenden internationalen Wettbewerbsdrucks nimmt der Bedarf an flexiblem Arbeitskräfteeinsatz zu.

Für Kleinbetriebe sind geringfügig Beschäftigte, die monatlich nicht mehr als 25 Stunden arbeiten, auch deshalb vorteilhaft, weil diese nicht auf die "Kleinstbetriebsgrenze" von 20 Beschäftigten angerechnet werden.

[Seite der Druckausg.: 7 ]

Bis zu dieser Beschäftigtenzahl erhalten Kleinbetriebe bei der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter einen "Ausgleich der Arbeitgeberaufwendungen" durch die Krankenkassen im Wege eines Umlageverfahrens.

Page Top

2.3 Gesellschaftliche Prekarität geringfügiger Beschäftigung und Herausforderung zum Mißbrauch

Die gesellschaftliche Prekarität geringfügiger Beschäftigung wurde von der Vertreterin der Gewerkschaften anhand von vier Dimensionen aufgezeigt:

Zunächst wurde auf die frauenpolitische Dimension hingewiesen, da geringfügige Beschäftigung zwar nicht ausschließlich, aber doch vor allem ein Frauenproblem sei. Dies geht aus den Daten zu Umfang und Struktur geringfügiger Beschäftigung eindeutig hervor (s.u.).

Aus sozialpolitischer Sicht trage die Ausweitung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse zu einer Aushebelung der sozialen Sicherungssysteme bei. Keine Diskussion über Reformen in der Kranken- und Rentenversicherung könne sich der Diskussion um die Abschaffung der Geringfügigkeitsgrenze verschließen. Die Befreiung der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungspflicht wird als verteilungspolitisch ungerecht empfunden, weil sie von den Beitragszahlern und den Steuerzahlern (durch Zahlen von Sozialhilfe) oder von den betreffenden Familien (Unterhaltspflicht gegenüber den Familienangehörigen) zu finanzieren ist.

Aus arbeitsmarktpolitischer Perspektive wird vor allem die Aufsplitterung von regulären Arbeitsplätzen in geringfügige Beschäftigungsverhältnisse für bedenklich gehalten. Sie hat in einigen Sektoren, zum Beispiel im Einzelhandel, gewaltige Ausmaße erreicht. Es liegt nahe, hier nicht allein objektive ökonomische Zwänge zu betrieblicher Flexibilität zu vermuten. Auch das systematische Ausnutzen des gesetzlichen Gestaltungsspielraums, um durch Umwandlung von Vollzeit- und Teilzeitarbeitsplätze in mehrere geringfügig entlohnte Arbeitsplätze das Betriebsergebnis zu verbessern, ist ein Motiv. Diese Strategie übt einen Druck auf das allgemeine Lohnnivau aus, führt zu einer Verschlechterung von Arbeitsbe-

[Seite der Druckausg.: 8 ]

dingungen und Sicherheitsniveaus und macht es möglich, die Position der Unternehmer gegenüber den Arbeitnehmern generell zu stärken.

Aus wettbewerblicher Sicht wird die Sozialversicherungsfreiheit geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse als ein Verstoß gegen den Grundsatz der Wettbewerbsneutralität auf dem Arbeitsmarkt angesehen, bei dem sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmerinnen beim Wettbewerb um Arbeitsplätze benachteiligt würden. Kleine und mittlere Unternehmen seien einem brancheninternen Sozialdumping ausgesetzt. Auch für die Konkurrenzfähigkeit des Standorts Deutschland sei die Entwicklung von Nachteil: "Mit massenhaft verbreiteten "bad-jobs" ist kein nachhaltiger Strukturwandel zu bewältigen" betonte die Vertreterin der Gewerkschaften.

Die geltenden Regelungen für geringfügig Beschäftigte fordern nicht nur zum Mißbrauch heraus, Normalarbeitsverhältnisse - legal - in geringfügige Beschäftigungen zu zerlegen. Auch regelrechter Betrug wird dadurch erleichtert: Arbeitnehmer verteilen ihre Arbeitskraft auf mehrere Betriebe und verschweigen - gesetzeswidrig - gegenüber den Arbeitgebern ihre anderen Jobs. Arbeitgeber zerlegen - auf dem Papier - die Tätigkeit eines Arbeitnehmers in mehrere geringfügige Jobs. Die Arbeitsverträge werden auf Verwandte oder Bekannte des Arbeitnehmers oder Arbeitgebers ausgestellt, die in Wirklichkeit keiner Beschäftigung in der Firma nachgehen. So berichtete der Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger e.V., daß es in der Meldedatei zahlreiche Personen über 100 Jahren und älter und viele Kinder gebe, die angeblich einer geringfügigen Beschäftigung nachgingen.

Page Top

2.4 Umfang geringfügiger Beschäftigung und statistische Erhebungsprobleme

Es ist nicht einfach, quantitative Aussagen über die Verbreitung geringfügiger Beschäftigung zu machen. Je nachdem, welche statistische Erhebung zugrundegelegt wird, ergeben sich ganz unterschiedliche Zahlen. Zwar haben Arbeitgeber seit 1990 jede geringfügige Beschäftigung zu melden. Eine entsprechende Datei wird beim Verband Deutscher Rentenversicherungsträger geführt. Jedoch ist die aufwendige Datei wenig aussagekräftig, weil die geringfügigen Beschäftigungen zwar über-

[Seite der Druckausg.: 9 ]

wiegend angemeldet, aber nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses nur in seltenen Fällen abgemeldet werden. Nach Aussagen des Direktors des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger besteht der begründete Verdacht, daß gelegentlich auch Mißbrauch bei den Meldungen getrieben wird, um die Zusammenrechnung mehrerer geringfügiger Beschäftigungen und die sich daraus ergebende Versicherungspflicht zu verhindern. Aus dieser Datei lassen sich also keine verläßlichen Aussagen treffen. Für die Bundesrepublik Deutschland stehen folgende weitere Datenquellen zur Verfügung:

  • Sozioökonomisches Panel (SOEP),

  • Mikrozensus des Statistischen Bundesamtes,

  • ISG-Erhebung (Institut für Sozialforschung und Gesellschaftspolitik),

  • lAB-Betriebspanel.

Bei den unterschiedlichen Datenquellen ist zwischen angebots- und nachfrageorientierten Meßkonzepten zu unterscheiden. Den ersten drei genannten Quellen liegt ein angebotsorientiertes Meßkonzept zugrunde, d.h. Arbeitnehmer werden befragt, ob sie erwerbstätig sind und wie ihr Beschäftigungsverhältnis gestaltet ist. Nähert man sich von der Nachfrageseite an, werden Betriebe und private Haushalte befragt, die Personen beschäftigen. Dabei ist zu beachten, daß die Befragung aus Sicht der Arbeitgeber zu Doppelzählungen führen kann, da es den Arbeitnehmern möglich ist, sowohl legal als auch illegal, mehrere Beschäftigungsverhältnisse zu kumulieren.

Das SOEP, dessen Ergebnisse hier im Vordergrund stehen werden, ist ein von Bund und Ländern über die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) finanziertes Projekt der wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Grundlagenforschung. Es wird von einer Projektgruppe im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin durchgeführt, deren Leiter auf der Konferenz referierte.

Das SOEP ist eine repräsentative Wiederholungsbefragung von 15000 Personen ab 16 Jahren, die sowohl für Querschnitts- als auch für Längsschnittanalysen aufbereitet werden kann. Es ist bei der Betrachtung der Ergebnisse zu bedenken, daß sie - wie bei den anderen Datenquellen auch - auf einer Stichprobe beruhen, deren Ergebnisse auf die

[Seite der Druckausg.: 10 ]

Gesamtzahl der Bevölkerung hochgerechnet wird. Die Ergebnisse sind deswegen nicht „punktgenau", da der „Stichprobenfehler" unvermeidlich ist.

Folgende Schätzwerte für Erwerbstätige in einer geringfügigen Beschäftigung ergeben sich aus den unterschiedlichen Verfahren (vgl. Tabelle 1):

Tabelle 1: Schätzwerte für geringfügige Beschäftigung

Befragung der Arbeitnehmer

Beschäftigte

Mikrozensus 1995

1,3 Millionen

ISG1992

4,0 Millionen

SOEP 1994

6,2 Millionen

Befragung der Arbeitgeber

Beschäftigungsverhältnisse

IAB- Betriebspanel 1995

3,4 Millionen

SOEP 1994 (Privathaushalte)

3,9 Millionen

Bei den Befragungen der Arbeitnehmer schwanken die Ergebnisse zwischen 1,3 Millionen beim Mikrozensus und 6,2 Millionen Beschäftigten beim SOEP. Das Ergebnis der ISG-Befragung liegt mit 4,0 Millionen Beschäftigten dazwischen. Bei den Arbeitgeberbefragungen gibt es keine „interne" Kontrollmöglichkeit: Das IAB-Betriebspanel weist 3,4 Millionen Beschäftigungsverhältnisse in Betrieben aus; das SOEP 3,9 Millionen in Privathaushalten. Die Summe ist noch größer als die SOEP-Arbeitnehmerzahl.

Die Unterschiede zwischen den Ergebnissen der ISG-Befragung und der SOEP-Arbeitnehmrzahl ergeben sich zum Teil aus dem zunehmenden Trend geringfügiger Beschäftigung. Jedoch kann eine Zunahme der geringfügigen Beschäftigung um 2 Millionen nicht allein darauf zurückzuführen sein. Erst recht läßt sich die Differenz zwischen der SOEP-Zahl und dem Mikrozensus dadurch nicht erklären. Der Hauptgrund ist in der unterschiedlichen Erhebungsmethodik zu suchen.

[Seite der Druckausg.: 11 ]

Der Mikrozensus bezieht sich in seiner Fragestellung auf einer Haupterwerbstätigkeit in einer Berichtswoche. Die geringfügige Beschäftigung ist bisweilen jedoch sehr unstetig. Sie wird nicht erfaßt, wenn sie nur gelegentlich, aber nicht in der Berichtswoche ausgeübt wird. Daher tendiert der Mikrozensus zu einer Unterschätzung der geringfügigen Beschäftigung. Demgegenüber fragt das SOEP weicher, ob man eine geringfügige Beschäftigung oder eine Nebenerwerbstätigkeit ausübt, jedoch nicht auf einen bestimmten Zeitraum bezogen.

Eine Möglichkeit, die Zahlen von einer anderen Seite zu überprüfen, ist die Befragung der Arbeitgeberseite, wie sie im IAB Betriebspanel und wiederum im SOEP durchgeführt wurde. Mit dem lAB-Betriebpanel kommt man im Jahr 1995 auf eine Zahl von 3,4 Millionen Beschäftigungsverhältnissen. Hier besteht ein deutlicher Widerspruch zu den Ergebnissen des Mikrozensus, der unter anderem mit der Unterschätzung der geringfügigen Beschäftigung im Mikrozensus aufgrund der beschriebenen Erhebungsmethodik zusammenhängt.

Beim lAB-Betriebspanel werden nur Betriebe nach geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen befragt. Häufig treten jedoch auch private Haushalte als Arbeitgeber von Haushaltshilfen auf. Rechnet man die in der SOEP-Befragung ermittelten 3,9 Millionen Beschäftigungsverhältnisse in privaten Haushalten zu denen der lAB-Befragung hinzu, so erhält man einen Schätzwert von weit über 7 Millionen geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen. Daß diese Zahl größer ist als die Zahl der geringfügig beschäftigten Arbeitnehmer, ist plausibel, da ein Arbeitnehmer mehrere Beschäftigungsverhältnisse haben kann. Die Erhebungwerte des Sozioökonomischen Panels sind insgesamt also sinnvoll.

Alle Quellen - und dies ist ein besonders wichtiges Ergebnis - weisen jeweils auf eine deutlich steigende Tendenz bei der geringfügigen Beschäftigung hin - mit Ausnahme des Mikrozensus.

Page Top

2.5 Struktur geringfügiger Beschäftigung

Den folgenden Aussagen über die Struktur der geringfügigen Beschäftigung liegen die Arbeitnehmer-Zahlen des SOEP als zentrale Datenbasis

zugrunde:

[Seite der Druckausg.: 12 ]

Die erste wichtige Strukturinformation ist die, daß von den 6,2 Millionen geringfügig Beschäftigten etwa 60% nur geringfügig beschäftigt sind. Es sind also Personen, die daneben kein zusätzliches reguläres Arbeitsverhältnis haben. Immerhin 40% der geringfügig Beschäftigten üben diese Tätigkeit neben ihrem Haupterwerb als Arbeiter, Angestellter, Beamter oder Selbständiger aus. Besonders häufig findet man die Ausübung von geringfügigen Nebenerwerbstätigkeiten bei Beamten.

Der Anteil der Frauen an den in der Haupttätigkeit geringfügig Beschäftigten liegt in Westdeutschland bei etwa 65%, in den neuen Bundesländern bei etwa 56%. Der Frauenanteil in Ostdeutschland scheint sich jedoch dem westdeutschen Niveau anzunähern. Bei den Erwerbstätigen mit geringfügiger Nebenerwerbstätigkeit ist der Frauenanteil mit 41 % im Westen und 43 % im Osten deutlich geringer.

Gerade wenn man eine sozialpolitische Bewertung der geringfügigen Beschäftigung vornehmen möchte, ist die Information über die Aufteilung der geringfügigen Beschäftigung auf Haupt- und Nebenerwerbstätigkeiten bedeutsam, ergeben sich doch aus der geringfügigen Beschäftigung in der Nebenerwerbstätigkeit andere sozialpolitische Probleme als aus einer hauptberuflichen geringfügigen Tätigkeit. Im Nebenerwerb geringfügig Beschäftigte haben kein grundsätzliches Absicherungsproblem.

Tabelle 2: Struktur der in der Haupttätigkeit geringfügig Beschäftigten


in Mio.

in %

Alleinstehende

0,6

17

Ehefrauen

1,8

48

Alleinerziehende

0,2

6

Schüler und Studenten

0,9

25

Rentner

0,7

19

Arbeitslose

0,4

10

Quelle: SOEP 1994






Die Summe ist größer als die Gesamtzahl, da die Kategorien sich teilweise überlappen.

Auch diejenigen, die in ihrer Haupttätigkeit geringfügig beschäftigt sind, sind nicht zwangsläufig sozial ungesichert. Wie Tabelle 2 verdeutlicht, sind fast die Hälfte Ehefrauen, 25 Prozent sind Schüler und Studenten, knapp 10 Prozent sind arbeitslos. Sie sind entweder über die Familie oder durch die Bundesanstalt für Arbeit abgesichert; freilich reicht diese Sicherung nicht immer aus. Völlig anders stellt sich die Situation für Al-

[Seite der Druckausg.: 13 ]

leinstehende und Alleinerziehende dar. Für viele Mütter besteht ein großes Hindernis für die Annahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit im mangelnden Angebot an Kinderbetreuungseinrichtungen. Aus den Daten geht allerdings auch hervor, daß innerhalb von fünf Jahren ein Drittel aller geringfügig Beschäftigten in ein reguläres Arbeitsverhältnis wechselt.

Page Top

2.6 Exkurs: Entwicklung der geringfügigen Beschäftigung widerlegt Dienstleistunglücke in Deutschland

Betrachtet man die Sektoren, in denen die geringfügige Beschäftigung ausgeübt wird, stellt man fest, daß in Westdeutschland 85% der geringfügigen Beschäftigung Dienstleistungstätigkeiten sind, in Ostdeutschland sind es sogar über 90%. Den größten Teil der geringfügig erbrachten Dienste findet man in den konsumbezogenen Diensten, beispielsweise in der Gastronomie. Der Anteil beläuft sich im Osten wie im Westen auf 40%.

Ein interessantes Ergebnis, das sich aus der Betrachtung der Entwicklung von geringfügiger Beschäftigung ergibt, ist die Erkenntnis, daß die allgemein beklagte Dienstleistungslücke in Deutschland nicht besteht. Mit der Dienstleistungslücke ist eine im internationalen Vergleich recht langsame Entwicklung des Dienstleistungssektors im Vergleich zu anderen Sektoren gemeint, mit der auch ein Großteil des bestehenden Beschäftigungsproblems erklärt wird.

Strebt man einen derartigen internationalen Vergleich an, so muß man jedoch gewährleisten, daß das statistische Material, auf dem diese Aussage beruht, auch vergleichbar ist. Eine genauere Betrachtung beispielsweise des deutsch-amerikanischen Vergleichs zeigt, daß die Beschäftigten in den zugrundeliegenden Statistiken unterschiedlich erfaßt werden. Während in den USA jede Beschäftigung von der ersten Stunde an als solche erfaßt wird, bezieht die Beschäftigtenstatistik die geringfügig Beschäftigten gar nicht und der Mikrozensus diese nur unvollständig ein Darüber hinaus wird der Vergleich in der Regel aufgrund einer sektoralen Gliederung vorgenommen und nicht anhand der ausgeübten Tätigkeiten. Auch im industriellen Sektor werden jedoch viele Dienstleistung-

[Seite der Druckausg.: 14 ]

[Seite der Druckausg.: 15 ]

stätigkeiten ausgeübt. In deutlich geringerem Maße werden umgekehrt auch industrielle Tätigkeiten im

tertiären Sektor ausgeübt.

Das DIW hat unter Berücksichtigung dieser Tatbestände auf Basis der Erhebungen des sozioökonomischen Panels einen differenzierten Vergleich angestellt, der die These von der deutschen Dienstleistungslücke widerlegt. Das Ergebnis dieses Vergleichs wird in der folgenden Graphik veranschaulicht. Wie ersichtlich liegt der Anteil der Dienstleistungstätigkeiten in Westdeutschland im Jahre 1993 mit 73 vH sogar noch geringfügig über dem entsprechenden Anteil (72 vH) in den USA (statistisch nicht signifikant). Bei sektoraler Betrachtung wird der "Tertiarisierungsgrad" in Westdeutschland hingegen aufgrund der statistischen Verzerrungen sehr viel geringer ausgewiesen, weil der Anteil der Dienstleistungstätigkeiten im industriellen Sektor deutlich höher und umgekehrt der Anteil der industriellen Tätigkeit im tertiären Sektor deutlich niedriger als in den USA ist.

Page Top

2.7 Sozialversicherungspflicht oder Sozialversicherungsfreiheit für geringfügige Beschäftigung?

Bei der Beurteilung der Versicherungsfreiheit der geringfügigen Beschäftigung geht es wie dargestellt nicht nur um die individuelle Prekarität der Beschäftigungsverhältnisse, sondern es stellt sich in erster Linie die Frage nach der verteilungspolitischen Gerechtigkeit dieser Regelung, da sie letztlich auf Kosten der Solidargemeinschaft der Beitrags- und Steuerzahler geht. Neben dieser gesellschaftspolitischen Dimension sind die dargestellten arbeitsmarkt- und die wettbewerbspolitischen Auswirkungen der Sozialversicherungsfreiheit von Belang. Nicht zuletzt ist die frauenpolitische Dimension zu berücksichtigen.

Die Ausnahmeregelungen von der Vesicherungspflicht wurden zu einer Zeit geschaffen, als man davon ausging, daß es sich um zahlenmäßig begrenzte Ausnahmen handeln würde. Die seither eingetretene Entwicklung zeigt dagegen ein völlig anderes Bild und deutet insofern auf einen dringenden Reformbedarf hin.

Die darüber geführte Auseinandersetzung geht von zwei Extrempositionen aus: Eine Position (SPD, Gewerkschaften) fordert die völlige Ab-

[Seite der Druckausg.: 16 ]

schaffung der Versicherungsfreiheit geringfügiger Beschäftigung oder zumindest eine drastische Herabsetzung des Grenzbetrages.

Die Gegenseite (Bundesregierung, Unternehmerverbände) plädiert für die Beibehaltung des Status-Quo. Mitunter wird sogar gefordert, die Geringfügigkeitsgrenze noch heraufzusetzen.

Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger e.V. spricht sich für einen Mittelweg - die Ausdehnung der Versicherungspflicht lediglich auf geringfügige Nebentätigkeiten - aus.

Der ehemalige Bundesarbeitsminister der SPD forderte auf der Konferenz die völlige Abschaffung der Versicherungsfreiheit geringfügiger Beschäftigung, also die volle Versicherungspflicht, oder zumindest eine drastische Herabsetzung des Grenzbetrages. Bereits 1981 hatte er einen entsprechenden Gesetzentwurf vorgelegt, scheiterte aber am damals von CDU/CSU-geführten Bundesländern dominierten Bundesrat.

Volle Versicherungspflicht bedeute zum einen für die regulär Beschäftigten ein Stückchen mehr Beitragsehrlichkeit. Zum anderen würde eine wesentliche Quelle der zunehmenden Altersarmut verstopft und es gäbe Chancen für mehr reguläre Teilzeitarbeitsplätze.

Diese Position wird grundsätzlich vom Deutschen Gewerkschaftsbund und von der SPD vertreten und liegt als Entwurf eines "Gesetzes zur Beseitigung des Mißbrauchs der Geringfügigkeitsgrenze in der Sozialversicherung" vom 16.03.1994, in aktualisierter Fassung vom 11.12.1995 auch in der 13. Wahlperiode dem Deutschen Bundestag vor. Dieser geht davon aus, daß die geringfügige Beschäftigung mißbräuchlich genutzt wird und weit über das Ausmaß hinaus gewachsen sei, das aus betrieblichen Flexibilitätserfordernissen notwendig ist. Die Sozialversicherungsfreiheit wirke demnach wie eine Subvention ungeschützter Arbeitsverhältnisse, die von der Allgemeinheit der beitragszahlenden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sowie der Betriebe finanziert werden muß. Eine solche Entwicklung widerspräche dem Grundsatz der Wettbewerbsneutralität auf dem Arbeitsmarkt und könne so nicht länger hingenommen werden.

Dieser Entwurf sieht vor, Arbeitgeber generell - ab einer Bagatellgrenze -auch für "geringfügig Beschäftigte" beitragspflichtig zu machen. Die ge-

[Seite der Druckausg.: 17 ]

ringfügig Beschäftigten selbst sollen nur dann versicherungspflichtig werden, wenn ein Schutzbedürfnis besteht oder wenn die Heranziehung zu Sozialversicherungsbeiträgen unter dem Gesichtspunkt der solidarischen Finanzierung gerechtfertigt ist. Die individuelle Versicherungspflicht der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern einerseits und die Beitragspflicht der Arbeitgeber andererseits sollen also entkoppelt werden.

Der generelle Arbeitgeberbeitrag zur Arbeitslosen-, Kranken-, Renten- und Pflegeversicherung soll verhindern, daß versicherungsfreie Personen gegenüber Versicherungspflichtigen auf dem Arbeitsmarkt Wettbewerbsvorteile haben. Eine persönliche Versicherungspflicht der Beschäftigten, aus der dann individuelle Leistungsansprüche entstehen, soll nur dort eingeführt werden, wo dies sozialpolitisch sinnvoll ist und nicht zu Mitnahmeeffekten führen kann.

Beamtinnen und Beamte, die sich sonst zu einem Minimalbeitrag einen Schutz in der Krankenversicherung und eine Anwartschaft in der gesetzlichen Rentenversicherung erkaufen könnten, sollen generell individuell versicherungsfrei bleiben, ebenso Schülerinnen, Schüler und Studierende.

Versicherungsfrei bleiben sollen auch kurzfristig Beschäftigte (bis zwei Monate oder 50 Arbeitstage).

Dadurch soll vermieden werden, daß geringfügig Beschäftigten zu Lasten der Solidargemeinschaft der Zugang zu einem billigen Versicherungsschutz ermöglicht wird. Daher sollen diejenigen, die bislang dem System der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung nicht angehört haben (z.B. nichterwerbstätige Ehefrauen von Selbständigen) auch dann nicht versicherungspflichtig werden, wenn ihr Arbeitsentgelt oberhalb der Bagatellgrenze und unterhalb 1/7 der monatlichen Bezugsgröße liegt.

In der Rentenversicherung sollen mit den genannten Ausnahmen (Beamte etc.) alle Arbeitsentgelte oberhalb der Bagatellgrenze auch individuell versicherungspflichtig bleiben. Dies wird für sinnvoll erachtet, weil jeder noch so niedrige Rentenversicherungsbeitrag zur Verbesserung der Alterssicherung insbesondere der Frauen führt.

[Seite der Druckausg.: 18 ]

Um überproportionale Rentenvorteile aus geringfügiger Beschäftigung auszuschließen soll jedoch das Leistungsrecht teilweise angepaßt werden. So soll mit Pflichtbeiträgen von weniger als 590,- DM (500,- DM) kein Anspruch auf eine vorzeitige Altersrente für Arbeitslose oder für Frauen erworben werden können. Auch bei der Rente nach Mindesteinkommen und für die Mindestbewertung von Berufsausbildungszeiten sollen diese Versicherungszeiten außer Betracht bleiben.

In der Arbeitslosenversicherung soll es im wesentlichen bei der derzeitigen Versicherungsfreiheit kurzfristig Beschäftigter bleiben, die Grenze soll jedoch von bisher 18 auf 17 Wochenstunden herabgesetzt werden.

Die Gewerkschaften vertreten im Grundsatz die gleiche Position wie die SPD-Bundestagsfraktion und schließen sich der Forderung an, die Geringfügigkeitsgrenze auf eine Bagatellgrenze (1/50 der monatlichen Bezugsgröße, derzeit ca. 83,- DM in den alten und 70,- DM in den neuen Bundesländern) zu senken. Da die geringfügig Beschäftigten in der Regel nicht gewerkschaftlich organisiert sind, befürchten die Gewerkschaften neben den genannten negativen Auswirkungen eine weitere Schwächung ihrer Verhandlungsmacht und eine Aushöhlung der Rolle der betrieblichen Mitbestimmung und der Tarifpartner. Gerade aber die Konfliktlösungs- und Gestaltungsmöglichkeiten des Betriebsverfassungs- und Tarifvertragsgesetzes seien ein positiver Standortfaktor der Bundesrepubik Deutschland, der durch eine Ausweitung der ungeschützten Beschäftigungsverhältnisse abzustürzen drohe.

Aus Sicht der Unternehmen wird häufig eingewendet, daß die Befreiung von der Sozialversicherungspflicht Arbeitsplätze schafft. Für zahlreiche Branchen, namentlich den Dienstleistungsbereich, aber auch für viele Arbeitnehmer stellten sozialversicherungsfreie geringfügige Beschäftigungsverhältnisse eine Beschäftigung dar, die im beiderseitigen Interesse liege: Die Arbeitnehmer können sich eine zusätzliche Erwerbsquelle erschließen; die Unternehmen nutzen diese Beschäftigungsform, um auf saisonale Schwankungen und unterschiedliche Kapazitätsauslastungen zu reagieren. Sie geben an, daß diese Beschäftigungsform unverzichtbar für sie ist.

Dem hält der ehemalige Bundesarbeitsminister der SPD entgegen:

"Wenn diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht gebraucht würden, fänden sie auch zu geringfügigen Löhnen keine Beschäftigung."

[Seite der Druckausg.: 19 ]

Unbestreitbar setzt das marktwirtschaftliche System auch für die geringste Dimension von Beschäftigung ein wirtschaftlich verwertbares und deshalb notwendiges Arbeitsvolumen voraus. Eine Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht würde jedoch auch die übrigen Konditionen beeinflussen: Es erscheint fraglich, ob die geringfügig Beschäftigten bei der Einführung der Sozialversicherungspflicht die möglichen Lohnabzüge akzeptieren bzw. ob die Arbeitgeber die zusätzlichen Belastungen nicht auf die Arbeitsentgelte überwälzen. Deshalb wären auch Ausweichbewegungen in andere Beschäftigungsformen, wie z.B. Schwarzarbeit oder Scheinselbständigkeit etc., als Reaktion denkbar.

Unabhängig davon gibt es auch Vorschläge, denen zufolge die Kostensitutation der Unternehmen auch bei Einführung der Sozialversicherungspflicht stabil gehalten werden kann. Im derzeit geltenden System führen die Unternehmen für die geringfügig Beschäftigten eine Pauschalsteuer von 20% ab, die als Ersatz für die Lohnsteuer des Arbeitnehmers gedacht ist. Die sozialversicherungpflichtige Beschäftigung unterliegt einem Beitragssatz von 40%, der je zur Hälfte von Arbeitnehmern und -gebern getragen wird. Das Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) macht hier den Vorschlag, die Pauschalsteuer abzuschaffen. Dadurch würde den Unternehmen das Kostenargument genommen. Das verbleibende Kostenargument konzentriert sich dann darauf, daß bei geringfügig Beschäftigten tarifvertraglich gültige Bestimmungen suspendiert sind und die Lohnfortzahlung bei Krankheit und im Urlaub unterbleibt. Diese illegale Vorgehensweise kann jedoch keine Begründung für die Ablehnung der Versicherungspflicht sein.

Page Top

2.8. Finanzielle und sozialversicherungsrechtliche Konsequenzen

Die Sozialversicherungen sind die dominante Versorgungsform der abhängig Beschäftigten bei Eintritt der typischen Lebensrisiken. Ihre rechtliche und finanzielle Konstruktion bezieht sich auf das volkswirtschaftliche Volumen abhängiger Beschäftigung. Ihr liegt die klassische Funktionsaufteilung der marktwirtschaftlichen Erbringung von Gütern und Dienstleistungen in eine persönlich-risikotragende Unternehmerseite und eine kollektiv-abgesicherte Beschäftigtenseite zugrunde. Wird dem Versicherungsvolumen

[Seite der Druckausg.: 20 ]

sicherungsvolumen nun ein substantieller Anteil durch Ausnahmeregelungen entzogen, so gerät unter sonst gleichen Bedingungen die finanzielle und rechtliche Konstruktion insgesamt ins Wanken.

Dadurch wächst die Bedeutung der Sozialhilfe als einzigem Universalsicherungssystem, das ohne persönliche Vorleistungen der ganzen Wohnbevölkerung zugänglich ist. Es ist jedoch im Gesamtrahmen der Sozialen Sicherungssysteme zur Abwendung unmittelbarer Existenznot auf die subsidiäre Mindestsicherung des Existenzminimums bei Versagen aller übrigen Selbst- und Fremdhilfemöglichkeiten ausgelegt. Konstitutive Bedingung dieser Mindestsicherung ist also das regelhafte Funktionieren der originären Sicherungssysteme. Die Ausdehnung der Sozialversicherungspflicht auf die geringfügige Beschäftigung erscheint vor diesem Hintergrund dann als unabweisbar, wenn sie im Beschäftigungssystem keine Ausnahme- oder Randerscheinung mehr darstellt, sondern ein substantielles Beschäftigungsvolumen zu sozialversicherungsrechtlichen Sonderkonditionen. Dadurch wäre den Unternehmen der Anreiz genommen, reguläre Vollzeitarbeitsplätze aufzusplitten. Die Aufrechterhaltung dieser Arbeitsplätze wäre wahrscheinlicher.

Das soziale Motiv für diese Ausdehnung ist also nicht darin zu suchen, individuellen Sozialhilfebedarf im Alter zu vermeiden, sondern seine Größe zu verringern. Auch Einkommen weit oberhalb der Geringfügigkeitsgrenze reichen nicht aus, um eine existenzsichernde Rente zu garantieren. Diese Renten verringern aber die notwendige Ergänzung durch Sozialhilfe, und stellen auf diese Weise wenigstens die grundsätzliche Funktionsaufteilung zwischen Sozialversicherung und Sozialhilfe sicher.

Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger e.V. hält die Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht für problematisch. Gemeinsam mit dem Vertreter der Vereinigung der Unternehmensverbände in Berlin und Brandenburg e.V. nimmt er die Position ein, daß sich negative Auswirkungen auf die Finanzen der Sozialversicherung ergeben würden. Zum einen würden Kleinst-Konten einen beträchtlichen Anteil der Einnahmen verschlingen dadurch, daß sie hohe Verwaltungskosten verursachen. Zum anderen bildeten diese geringen Beitragseinnahmen nur eine schwache Basis für spätere Leistungsansprüche der Versicherten.

[Seite der Druckausg.: 21 ]

Eine exakte Bestimmung der finanziellen Auswirkungen auf die Rentenversicherung läßt sich nur schwer durchführen. In einer demnächst erscheinenden Untersuchung des IWH werden die relevanten Wirkungszusammenhänge genauer analysiert. Die Einführung der Sozialversicherungspflicht für geringfügige Beschäftigungsverhältnisse würde summa summarum bei der Krankenversicherung, der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung ein Plus von 8,3 Mrd. DM erbringen. Diese Einnahmen werden entsprechend den einzelnen Beitragssätzen auf die verschiedenen Versicherungen aufgeteilt. Auf die Rentenversicherung entfiele die Hälfte dieser Einnahmen.

Von Gegnern der Sozialversicherungspflicht wird befürchtet, daß mit Kleinst-Beiträgen die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für Rehabilitation geschaffen werden könnten; es könnten die Wartezeiten für alle Rentenansprüche erfüllt werden und damit Anwartschaften, die in Vollerwerbszeiten erworben worden sind, zahlbar gemacht werden. Es können die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für die vorzeitigen Renten erworben werden. Das gleiche gilt für Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten. Diese Entwicklung ist jedoch keineswegs zwangsläufig, sondern ließe sich durch entsprechende Regelungen, wie im SPD-Entwurf, unterbinden.

Die Krankenversicherung erhielte rund ein Drittel der zusätzlichen Einnahmen. Doch trotz der positiven finanziellen Auswirkungen spricht sich die gesetzliche Krankenversicherung gegen die Versicherungspflicht aus. Zum einen wird argumentiert, die meisten sozialversicherungsfrei Beschäftigten seien bereits krankenversichert, obwohl sich ja gerade die Kritik darauf richtet, daß diese Beschäftigten auf Kosten der Solidargemeinschaft versichert sind. Zum anderen ergäben sich Manipulationsmöglichkeiten für Personen, die bisher freiwillig oder privat krankenversichert sind, indem sie sich durch fingierte Beschäftigungsverhältnisse in die gesetzliche Krankenversicherung einkaufen können. Auch dieses Argument ist wenig überzeugend, da solche Manipulationsmöglichkeiten durch differenzierte Regelungen (siehe SPD-Entwurf) weitgehend ausgeschlossen werden können.

Der Direktor des Verbandes der Rentenversicherungsträger e.V. schlägt zur Vermeidung vermeintlich negativer finanzieller Auswirkungen eine Teillösung vor: Geringfügige Beschäftigungen sollten in den Fällen versicherungspflichtig gemacht werden, in denen sie neben einer versiche-

[Seite der Druckausg.: 22 ]

rungspflichtigen Hauptbeschäftigung ausgeübt werden. Die zusätzlichen Beiträge würden dann zwar auch zu erhöhten Ansprüchen gegenüber den Sozialversicherungsträgern führen, jedoch bestünde nicht die Gefahr, daß für geringfügige Beiträge erheblich höhere Leistungen erbracht werden müßten. Für diesen Vorschlag spricht auch die Tatsache, daß im Falle mehrerer nebeneinander ausgeübter geringfügiger Beschäftigungen jedes dieser Beschäftigungsverhältnisse sozialversicherungspflichtig ist. Das gilt nicht, wenn neben einer hauptberuflichen Tätigkeit eine geringfügige Nebenerwerbstätigkeit ausgeübt wird. Eine Nebenerwerbstätigkeit gilt dann als geringfügig, wenn das Entgelt ein Sechstel des individuellen Einkommens nicht übersteigt. Um einerseits Wettbewerbsvorteile, andererseits eine unangemessene Inanspruchnahme von Leistungen der Krankenversicherung zu vermeiden, wäre für nebenbeschäftigte Beamte nur der Arbeitgeberbeitrag zu leisten.

Bei der Diskussion über die Finanzen der Sozialversicherung und der Relation von Beiträgen und Ansprüchen wurde auch das Problem der versicherungsfremden Leistungen der Sozialversicherung angeschnitten. Unter versicherungsfremden Leistungen sind Umverteilungsaufgaben zu verstehen, die über die der Sozialversicherung immanenten Aufgaben hinausgehen. Dazu gehören die Kriegsfolgelasten in der Rentenversicherung, die Familienmitversicherung in der Krankenversicherung und die vereinigungsbedingten Sonderlasten in der Arbeitslosenversicherung. Bei Auslagerung dieser versicherungsfremden Leistungen, d.h. bei strenger Geltung des Äquivalenzprinzips, könnten die Finanzen der Rentenversicherung sogar entlastet werden.

Zu diesem Thema gibt der ehemalige Bundesarbeitsminister der SPD zu bedenken, welche verteilungspolitischen Folgen sich aus der Steuerfinanzierung der Umverteilungsaufgaben ergäben. Zähle man sämtliche Unternehmens- und Vermögenssteuern zusammen, so hatten sie 1995 einen Anteil am Gesamtsteueraufkommen von 14%. Die Lohnsteuer hatte hingegen einen Anteil am Gesamtsteueraufkommen von 37%. Wer also etwas von der Beitragsfinanzierung zur Steuerfinanzierung umschichte, der mache es um Längen für die Arbeitnehmer ungerechter. Verteilungsgerechtigkeit sei damit also nicht zu erreichen, sondern das Gegenteil.

Diese Argumentation läßt einige wichtige Punkte unberücksichtigt: Während in der Sozialversicherung alle Erwerbseinkommen bis zur Beitrags-

[Seite der Druckausg.: 23 ]

bemessungsgrenze dem gleichen Beitragssatz unterliegen, gilt das für die Einkommenssteuer nicht. Die Einkommenssteuer unterliegt dem Leistungsfähigkeitsprinzip. Mit zunehmendem Einkommen wird die Leistungsfähigkeit progressiv bestimmt. Hohe Einkommen werden tendentiell höher belastet. Außerdem schließt die Gruppe der Steuerzahler auch Beamte und Selbständige ein. Es ist nicht einzusehen, weshalb diese Personengruppen die genannten versicherungsfremden Leistungen nicht mitfinanzieren sollten. Der Direktor des Verbandes Deutscher Rentenversicherungsträger e.V. weist darauf hin, daß es eine Reihe von Untersuchungen gibt, die zeigen, daß wenn man versicherungsfremde Leistungen durch Steuern finanziert, Mittelwege notwendig sind, mit indirekten und direkten Steuern. Es gibt hier nicht einen Königsweg. Sondern man muß beide Wege gehen, um die jeweiligen Nachteile herauszunehmen.

Der Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Soziales, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg, betrachtet die Steuerfinanzierung der Familienversicherung jedoch sehr kritisch: "Die Familienversicherung stand an der Wiege der gesetzlichen Krankenversicherung. Auch wenn der Hinweis richtig ist, daß sie systematisch dort nichts zu suchen hat, so sollte man doch die Versicherung von Familienmitgliedern vor dem Zugriff der Finanzminister retten."

Page Top

2.9 Weitere Vorschläge für eine Verbesserung der Situation

Auffällig an der Struktur der geringfügigen Beschäftigung ist, daß fast die Hälfte in privaten Haushalten abgeleistet wird. Man kann diese Beschäftigungsverhältnisse nicht so regulieren, wie das für Beschäftigungsverhältnisse in Betrieben möglich ist. Hier wären angesichts der enormen Tragweite Dienstleistungsschecks, wie sie bereits in Frankreich eingeführt wurden, eine sinnvolle Regulierungsmaßnahme. Dort erwerben die privaten Arbeitgeber Schecks, die sie als Bezahlung an ihre Hilfskräfte weiterleiten. Diese können die erhaltenen Schecks bei der Bank gegen den Nettobetrag ihres Verdienstes einlösen, während die Sozialbeiträge des Arbeitgebers von einer zentralen Einzugsstelle von dessen Konto abgebucht werden. Am Ende des Jahres kann der Arbeitgeber die Hälfte des Gesamtaufwandes von der Steuer absetzen - und zwar von der Steuerschuld, nicht von der Bemessungsgrundlage. Daher ist der Förde-

[Seite der Druckausg.: 24 ]

rungseffekt auch unabhängig von der Höhe des Einkommens. Die hohe Subventionierung des Modells erklärt seinen Erfolg: Der Arbeitgeber wird trotz eines höheren Bruttoaufwandes netto weniger belastet als wenn er die Hilfskraft schwarz beschäftigt. Ob das französische Modell auf die Bundesrepublik Deutschland unverändert übertragbar ist, erscheint jedoch fraglich, da es in beiden Ländern unterschiedliche Sozialversicherungssysteme gibt. Derzeit befassen sich Bundesregierung und Opposition mit Varianten dieses Modells.

Der Präsident des Landesarbeitsamtes Sachsen verwies auf einen erfolgreichen, von der Bundesanstalt für Arbeit unterstützten Weg, bei dem geringfügig bzw. stundenweise Beschäftigte in Dienstleistungszentren eine feste, sozialversicherungspflichtig abgesicherte Anstellung erhalten. Aus diesem Arbeitskräftepool werden sie sodann stunden-, tageweise oder länger in Dienstleistungstätigkeiten (Haushalt, Reinigung, Pflegerische Dienste usw.) vermittelt.

Es ist vorstellbar, daß die geringfügige Beschäftigung von Alleinerziehenden sich weitgehend beseitigen ließe, wenn Kindererziehungseinrichtungen ihre Öffnungszeiten soweit erweitern würden, daß für die Mütter oder Väter ein reguläres Beschäftigungsverhältnis möglich wird. Ein Kindergarten, der nur vier bis fünf Stunden am Tag geöffnet hat und kein Mittagessen anbietet, hat eben eine entscheidende Stunde zu wenig geöffnet.

Nicht zuletzt wird es nach Meinung eines Wissenschaftlers des DIW Aufgabe der Gewerkschaft sein, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, wie die arbeitsrechtlichen Schutzrechte der geringfügig Beschäftigten verbessert und ihre Erhaltung gewährleistet werden kann.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

Previous Page TOC Next Page