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l. Die Problematik prekärer Beschäftigungsverhältnisse

Das klassische Normalarbeitsverhältnis verliert mehr und mehr seine prägende Dominanz auf dem Arbeitsmarkt. Inzwischen ist es sogar schon eine "fossile Erscheinung". So charakterisierte ein Staatssekretär im Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Frauen des Landes Brandenburg den ungebremsten Abbau von regulären Vollzeitarbeitsplätzen und die gleichzeitige Zunahme von prekären oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen. Prognosen gehen davon aus, daß der "Wanderarbeiter" oder "Tagelöhner" in neuem Gewände zurückkehrt, der von verschiedenen Firmen für zeitlich begrenzte Aufgaben angeheuert wird.

Es existiert keine präzise Definition von prekären Beschäftigungsverhältnissen. Ihr wichtigstes Unterscheidungsmerkmal von den klassischen Normalarbeitsplätzen ist die Unsicherheit des Arbeitnehmers gegenüber den klassischen Unternehmerrisiken, wie die schwankende Auslastung des Betriebs und die spontanen Ausschläge der Nachfrage nach den hergestellten Gütern und Dienstleistungen. Bei prekärer Beschäftigung muß also von einer Risikoabwälzung vom Unternehmer auf die Arbeitnehmer gesprochen werden. Insbesondere in zeitlicher Hinsicht sind sie den spontanen Bedarfslagen der Betriebe ausgesetzt. Unabhängig von der rechtlichen Qualität gilt zumeist das Prinzip "Zahlung nur bei Anwesenheit". Auf diese Weise bleiben sie zumeist von den klassischen Arbeitnehmerrechten, insbesondere von den Lohnfortzahlungsansprüchen bei Krankheit und im Urlaub, von den Mitbestimmungsrechten, sowie von den Lohntarifverträgen ausgeschlossen. Daraus ergeben sich wiederum schwerwiegende Lücken im Sozialversicherungsschutz für die betroffenen Beschäftigten.

Das Spektrum ist breit und vielschichtig: Dazu gehören Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Aushilfsbeschäftigung, Saisonarbeit, Zeitarbeit, Leiharbeit, befristete Beschäftigung, freie Mitarbeit, Werkvertragsverhältnisse, Scheinselbständige, also Selbständige die in Wirklichkeit abhängig sind, Job-Sharing und andere Formen der Teilzeitarbeit, Heim- und Telearbeit und Schwarzarbeit bzw. illegale Beschäftigung.

All diese Beschäftigungsformen setzen aber auch ein entsprechendes Angebot an Arbeitskräften voraus. Angesichts der seit Jahrzehnten an-

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haltenden und ungebrochen im Wachstum begriffenen Massenarbeitslosigkeit liegt das Vorhandensein dieses Angebots auf der Hand. Unter den Beschäftigtengruppen finden sich aber nicht nur Arbeitslose und Rentner, die damit ihre zumeist ungenügenden Transfereinkommen aufbessern. Neben Zielgruppen der klassischen Stillen Reserve sind es auch Beschäftigte, die sich auf diese Weise ein zweites Erwerbseinkommen verdienen. Ihre kurzfristige Interessenlage, auf diese Beschäftigungsformen einzugehen, ist davon bestimmt, ein Zweiteinkommen ohne gesetzliche Abzüge zu erhalten. Ihr arbeits- und sozialversicherungsrechtliches Schutzbedürfnis wird bereits durch die Primärbeschäftigung bzw. ihren Status als Transferleistungs-Bezieher abgedeckt. Die beobachtete Wachstumsdynamik der prekären Beschäftigung schadet jedoch ganz entscheidend den langfristigen Interessen der Arbeitnehmer insgesamt, da diese Beschäftigungsformen den Bestand an regulären Vollzeitarbeitsplätzen in Frage stellt.

Die Problematik prekärer Beschäftigung ist also darin zu sehen, daß sie die spontanen Austauschbeziehungen der Gütermärkte auf den Arbeitsmarkt ausdehnt, die durch Triebkräfte sowohl auf der Arbeitgeber- wie der Arbeitnehmerseite bestimmt werden. Dabei dürfte es sich ebenfalls auf beiden Seiten um die Befriedigung kurzfristiger Interessen handeln, die den jeweils langfristigen Interessen zuwiderlaufen. Denn Arbeitslose und Arbeitnehmer dürften an der Vernichtung von Vollzeitarbeitsplätzen, auf die sich ihre Ansprüche und Hoffnungen gründen, ebensowenig Interesse haben, wie die Arbeitgeberseite an der dauerhaften Insuffizienz der Steuer- und Sozialversicherungssysteme interessiert sein dürfte, deren sachgerechtes Funktionieren die Voraussetzung unternehmerischer Erfolge darstellt.

Im Mittelpunkt der Tagung standen vor allem die geringfügige sozialversicherungfreie Beschäftigung, Leiharbeit und Scheinselbständigkeit. Gemeinsames Problem der geringfügigen Beschäftigung und der Scheinselbständigkeit ist, daß sie ein relevantes Beschäftigungsvolumen außerhalb der durch die Beschäftigteneinkommen finanzierten Sozialversicherungssysteme darstellen. Mit der Überwälzung der klassischen Unternehmerrisiken auf die Beschäftigten im Falle der Scheinselbständigkeit werden zugleich die zentralen Abgrenzungsmerkmale zwischen Unternehmern und Arbeitnehmern infrage gestellt. Bei - legaler - Leiharbeit ist durch die Leiharbeitsfirmen zwar die Zahlung der Sozialversicherungsbeiträge vorgesehen. Das Lohnniveau der Leiharbeiter liegt jedoch

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meist deutlich niedriger als der Tariflohn und in Bezug auf viele Arbeitnehmerschutzrechte sind Leiharbeiter in der Praxis schlechter als die Stammbelegschaft abgesichert. Prekär ist vor allem die Kurzfristigkeit der Leiharbeitsverhältnisse, der ständige Wechsel des betrieblichen Arbeitsortes. Das Bild vom „Tagelöhner", vom „Wanderarbeiter" im neuen Gewände nimmt hier besonders deutliche Gestalt an.

Daher stellen sich die folgenden Fragen: Wie kann die soziale Absicherung der Beschäftigten verbessert werden? Wie steht es um die Bilanz für die Sozialversicherung? Lassen sich die Entwicklungen noch mit dem Solidaritätsprinzip der Sozialversicherung vereinbaren? Welche Strategien und gesetzgeberischen Wege gibt es zur Bekämpfung der Mißstände?


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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