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[Seite der Druckausg.: III ]


Zusammenfassung und Schlußfolgerungen

Das klassische Normalarbeitsverhältnis, an dem sich auch unser System der sozialen Sicherung orientiert, wird im Zuge des wirtschaftlichen Strukturwandels von einer breiten Palette unsicherer Beschäftigungsformen überlagert. Drei besonders häufige dieser Formen prekärer Beschäftigung - geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit und Scheinselbständigkeit - waren Gegenstand der Tagung.

Geringfügige Beschäftigung

Ein Arbeitsverhältnis ist geringfügig, wenn die regelmäßige Wochenarbeitszeit unter 15 Stunden und das Arbeitsentgelt monatlich ein Siebtel der Bezugsgröße (Durchschnittsverdienst aller in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherten Arbeitnehmer) nicht übersteigt (1996 = DM 590,- West, DM 500,- Ost), oder wenn der zeitliche Umfang der Beschäftigung innerhalb eines Jahres auf längstens zwei Monate oder 50 Arbeitstage begrenzt ist. Weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer zahlen Beiträge zur Sozialversicherung. Daher ergibt sich für den Beschäftigten auch kein Anspruch gegenüber der Sozialversicherung. Geringfügig Beschäftigte sind zwar arbeitsrechtlich den "normalen" Beschäftigten gleichgestellt, in der Praxis werden ihnen diese Rechte - insbesondere auf Lohnfortzahlung bei Krankheit und im Urlaub - jedoch nicht selten verweigert.

Aus (zumindest kurzfristiger) Sicht ist geringfügige Beschäftigung für beide Seiten attraktiv. Die hauptsächlich auf diese Weise beschäftigten Arbeitnehmer sind häufig bereits auf andere Weise als Familienmitglieder (Schüler, Studenten, Rentner, Ehefrauen) bzw. im Rahmen ihrer Hauptbetätigung (Beamte) versichert. Unternehmen schätzen an der geringfügigen Beschäftigung vor allem die flexible Ersetzbarkeit und die Einsparung von Lohn- und Lohnnebenkosten.

Aus politischer Sicht gibt es jedoch schwerwiegende Einwände: Verteilungspolitische Verzerrungen, da die Sozialversicherungsfreiheit dieser Gruppe von den übrigen Beitrags- und Steuerzahlern finanziert wird. Arbeitsmarktpolitische Fehlentwicklungen, da Unternehmen reguläre Ar-

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beitsplätze in Minijobs aufsplittern, um Lohn- und Lohnnebenkosten einzusparen. Wettbewerbspolitisch ist einzuwenden, daß sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer auf dem Arbeitsmarkt gegenüber geringfügig Beschäftigten ins Hintertreffen geraten.

Über den Umfang der geringfügigen Beschäftigung existieren nur Schätzwerte, die stark streuen: von 1,3 Millionen auf Basis der Mikrozensus-Befragung bis 6,2 Millionen auf der Grundlage des Sozioökonomischen Panels (SOEP), mit in beiden Fällen stark steigender Tendenz. Damit ergibt sich ein dringender Handlungsbedarf, da diese Beschäftigungsform die Finanzgrundlagen des Sozialversicherungssystems untergräbt und zum Mißbrauch durch aufgesplitterte Normalarbeitsplätze führt.

Die Ansichten darüber gehen allerdings weit auseinander. Eine Position (SPD, Gewerkschaften) fordert die völlige Abschaffung der Versicherungsfreiheit geringfügiger Beschäftigung oder zumindest eine drastische Herabsetzung des Grenzbetrags. Dabei soll der finanzielle Wettbewerbsvorteil dieser Beschäftigungsform beseitigt, gleichzeitig aber der Entstehung überproportionaler Vorteile für die dann versicherten Beschäftigten vorgebeugt werden. Die Gegenseite (Bundesregierung, Unternehmerverbände) plädiert für die Beibehaltung des Status-Quo. Mitunter wird sogar gefordert, die Geringfügigkeitsgrenze noch heraufzusetzen. Der Verband Deutscher Rentenversicherungsträger spricht sich für einen Mittelweg - die Einbeziehung von geringfügigen Nebenbeschäftigungen in die Versicherungspflicht - aus.

Eine exakte Bestimmung der finanziellen Auswirkungen einer Einführung der Versicherungspflicht auf die Sozialversicherung ist nicht möglich. Eine neuere Schätzung geht summa summarum bei der Krankenversicherung, der Rentenversicherung und der Arbeitslosenversicherung von einem Einnahmeplus von 8,3 Mrd. DM aus. Offen ist zunächst die Entwicklung auf der Ausgabenseite: Gegner der Versicherungspflicht verweisen auf eine sehr ungünstige Relation von gezahlten Beiträgen und Ansprüchen in der Rentenversicherung, wenn mit Kleinst-Beiträgen z.B. die Voraussetzungen für Rehabilitation oder Berufs- und Erwerbsunfähigkeitsrenten erworben würden. Diese Entwicklung ist jedoch keineswegs zwangsläufig, sondern ließe sich durch entsprechende Regelungen, wie im SPD-Entwurf vorgesehen unterbinden.

[Seite der Druckausg.: V ]

Auch die gesetzlichen Krankenkassen sprechen sich gegen die Versicherungspflicht aus. Zum einen wird argumentiert, die meisten sozialversicherungsfrei Beschäftigten seien bereits anderweitig krankenversichert, obwohl sich ja gerade die Kritik darauf richtet, daß diese Beschäftigten auf Kosten der Solidargemeinschaft versichert sind. Zum anderen wird befürchtet, daß sich bisher freiwillig oder privat versicherte Personen durch fingierte Beschäftigungsverhältnisse billig in die gesetzliche Krankenversicherung einkaufen könnten. Auch dieses Argument ist wenig überzeugend, da solche Manipulationsmöglichkeiten durch differenzierte Regelungen (siehe SPD-Entwurf) weitgehend ausgeschlossen werden könnten.

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Leiharbeit

Seit Anfang der 90er Jahre wurden im Schnitt 130 Tsd. Leiharbeitsverhältnisse pro Jahr gezählt. Wegen der Aufhebung des Arbeitsvermittlungsmonopols der Bundesanstalt für Arbeit ist in Zukunft mit einem weiteren Anstieg zu rechnen. Leiharbeit ist eine prekäre Beschäftigungsform, weil sie nicht auf Dauer angelegt sind und das Arbeitsentgelt oft unter dem der Stammarbeitskräfte der jeweiligen Unternehmen liegt, bis zu 40% unter dem Tariflohn. Leiharbeitnehmer sind zumeist nicht gewerkschaftlich organisiert. Die Gewerkschaften lehnen jede Kooperation mit den Entleihfirmen ab. Die Leiharbeitsfirmen betonen dagegen ihre arbeitsmarktpolitische Funktion, durch Zeitarbeit Langzeitarbeitslose und Berufsrückkehrerinnnen wiedereinzugliedern.

Grundsätzlich wird anerkannt, daß die Leiharbeit durch Bündelung vieler kurzfristiger Arbeitseinsätze reguläre Arbeitsplätze schafft. Von Gewerkschaftsseite abgelehnt wird jedoch die kommerzielle Vermittlung. Deshalb arbeitet im START-Modell auch eine gemeinützige Einrichtung mit dieser Beschäftigungsform. Ein weiterer Einwand betrifft die tarifwidrige Bezahlung. Forderungen der Zeitarbeitsfirmen nach innovativen und kooperativen Vorgehensweisen der Gewerkschaften stoßen außerdem an grundsätzliche Grenzen der branchen- und regionenbezogenen Tarifpolitik und der Branchenbezogenheit der Gewerkschaftsorganisationen.

[Seite der Druckausg.: VI ]

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Scheinselbständigkeit

Scheinselbständige sind Personen, die formal als Selbständige engagiert werden, von ihrer materiellen Lage und der Gestaltung ihrer Tätigkeit her jedoch in einem Abhängigkeitsverhältnis zu ihren Auftraggebern stehen. Einerseits sind sie dem für Selbständige typischen Risiko erheblicher Einkommensschwankungen ausgesetzt. Andererseits können sie der Abhängigkeit von einem Arbeitgeber nicht durch eine Risikostreuung entgehen, um sich vor einem Schadensfall zu schützen. Ihre wirtschaftliche Gesamtsituation liegt eher unter dem Niveau eines Arbeitnehmers. Häufig sind Scheinselbständige aufgrund ihrer finanziellen Situation nicht in der Lage, Vorsorge für typische Lebensrisiken zu treffen, so daß sie im Notfall auf die Sozialhilfe verwiesen werden.

Die abhängige Selbständigkeit ist typischerweise bei Außendiensttätigkeiten, aber auch im gewerblichen Güterverkehr, in der Medienindustrie und in der Bauwirtschaft verbreitet. Sie greift jedoch auf immer mehr Tätigkeitsbereiche, auch auf Facharbeitertätigkeiten, über. Die Schätzungen des Umfangs der Scheinselbständigkeit schwanken stark - von 600 000 bis 1,2 Mio.

Aus Sicht der Unternehmen ist die Auslagerung von Tätigkeiten aus dem Betrieb eine attraktive Alternative zur Festeinstellung von Arbeitnehmern. Die "Selbständigen" können entsprechend dem Bedarf flexibel und kostengünstig eingesetzt werden, da sie weder sozialversichert sind noch Anspruch auf Lohnfortzahlungen bei Krankheit und im Urlaub haben. Kritiker werfen ihnen vor, aus der Solidargemeinschaft der Sozialversicherung zu flüchten.

Deshalb wird eine Neudefinition und Ausweitung des Arbeitnehmer-Begriffs vorgeschlagen, die Selbständige in dem Fall einbezieht, in dem ein entsprechendes Abhängigkeitsverhältnis besteht. Gegen diesen Vorschlag wird eingewendet, daß er unpraktikabel sei und das geltende Regelwerk genügend Handlungsspielraum für die Rechtsfortbildung durch die Gerichte biete. Andere Vorschläge gehen dahin, eine Pflichtversicherung für einen bestimmten Kreis von Selbständigen einzuführen, auf die prekäre Merkmale zutreffen. Um auch die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen, könne man sie verpflichten, eine Zwangsabgabe in einen Fonds zu zahlen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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