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3. Spezialfragen und notwendige Ergänzungen der Bahnstrukturreform


Es besteht gegenwärtig noch die Notwendigkeit, zu einigen Spezialfragen im Zusammenhang mit der Bahnstrukturreform wesentliche Inhalte zu klären. Insbesondere innerhalb der Sachkomplexe Fahrweg, Regionalisierung und privatrechtliche Unternehmensform herrscht zwischen Parteien und Verbänden kein Konsens. Hier vertreten auch Bund, Länder und Gemeinden konkurrierende Interessen. Im folgenden werden unterschiedliche Standpunkte der derzeitigen Diskussion zu Einzelfragen mit dem Ziel dargelegt, den Bedarf an notwendigen Ergänzungen zur Bahnstrukturreform aufzuzeigen.

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3.1. Fahrweg

3.1.1. Schienenwegeausbaugesetz

Der Ausbau der schienenseitigen Infrastruktur wird in Zukunft nicht mehr der Deutschen Bundesbahn bzw. der Deutschen Reichsbahn, sondern dem Bund obliegen. Dabei müssen im Zusammenhang mit der künftigen Infrastrukturplanung für Schienenwege auch rechtliche Aspekte geklärt werden.

Für den Aus- und Neubau des Straßennetzes trägt die Öffentliche Hand schon seit jeher die Planungs- und Finanzverantwortung. Während Fernstraßenneubaumaßnahmen vom Parlament im Rahmen des Fernstraßenausbaugesetzes beschlossen werden und damit unter dem Finanzierungsvorbehalt des Finanzministers stehen, wurden bisher geplante Investitionen in die Schieneninfrastruktur dem Parlament lediglich zur Kenntnis gegeben. Ob und inwieweit sie umgesetzt wurden, blieb bislang in erster Linie der Bahn überlassen, die sich dafür auf dem Kapitalmarkt verschulden mußte.

Sowohl die Bundestagsfraktionen von CDU/CSU und FDP als auch die SPD-Bundestagsfraktion haben fast wortgleiche Entwürfe eines Schienenwegeausbaugesetzes Anfang Mai 1992 im Deutschen Bundestag eingebracht. Die Beratung im Plenum des Deutschen Bundestages fand in Erster

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Lesung am 29. Oktober 1992 statt. Die Entwürfe wurden den Ausschüssen gleichzeitig mit dem Bundesverkehrswegeplan überwiesen.

Der Entwurf des Schienenwegeausbaugesetzes definiert in §1 Abs. 1, daß

    die Förderung von Investitionen (Bau, Ausbau und Ersatzinvestitionen) in die Schienenwege bundeseigener Eisenbahnen nach Maßgabe dieses Gesetzes Aufgabe des Bundes ist. Dies geschieht durch Finanzierung der Investitionen im Rahmen der zur Verfügung stehenden Haushaltsmittel.

Nach den Entwürfen wird der Ausbau der Schiene – ebenso wie bei der Straße – Gegenstand eines Gesetzesbeschlusses des Parlaments bei der Verabschiedung des Bundesverkehrswegeplans werden. Damit wird zugleich die Finanzverantwortung des Bundes für Infrastrukturinvestitionen im Bereich der Schiene nachdrücklich unterstrichen.

Des weiteren knüpft die SPD-Bundestagsfraktion an eine Zustimmung zur Grundgesetzänderung die Bedingung, daß – unabhängig von einer Organisationsprivatisierung der Bahn – im Grundgesetz die Verantwortung des Staates für das Vorhalten einer leistungsfähigen Schieneninfrastruktur als klassische Aufgabe staatlicher Daseinsvorsorge festgeschrieben wird. Dies würde dann der grundgesetzlichen Regelung für das Straßen- und Binnenwasserstraßennetz entsprechen. Es wäre allerdings auch eine Lösung denkbar, bei welcher der Bund – ähnlich wie z. B. bei der Auftragsverwaltung für die Bundesfernstraßen durch die Länder – die Bahn mit der Verwaltung der Schienenwege beauftragt.

Für notwendig gehalten werden Infrastrukturmaßnahmen des Bundes für die Bahn, die zu Chancengleichheit auf den Verkehrsmärkten führen. Dabei wird eine grundsätzliche Änderung der Transportqualität langfristig nur erreichbar sein, wenn es zu einer Trennung zwischen langsam- und schnelllaufenden Verkehren kommt. Bahn sanieren bedeutet dementsprechend für die SPD Schienen bauen.

Den am 17. Februar 1993 vom Kabinett verabschiedeten Gesetzentwürfen fehlt eine grundgesetzliche Sicherung des staatlichen Infrastrukturauftrags. Das Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes sieht lediglich vor, daß ein Artikel 87e mit folgendem Wortlaut eingefügt wird:

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  1. Die Eisenbahnverkehrsverwaltung wird in bundeseigener Verwaltung geführt, soweit es sich um bundeseigene Eisenbahnen handelt.

  2. Bundeseigene Eisenbahnen werden als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form geführt.

  3. Der Bund fördert Investitionen in die Schienenwege bundeseigener Eisenbahnen, soweit ein Interesse des Bundes besteht.

  4. Das Nähere regeln Bundesgesetze.

Darüber hinaus fehlt auch eine Sicherung gegen einen Verkauf der Mehrheitsanteile des Bundes an der DBAG, so daß – zumindest rechtlich – nach wie vor eine Ausstiegsmöglichkeit des Bundes aus seiner Verantwortung für die Bahn insgesamt besteht.

Solange der Bund Mehrheitseigentümer ist, besteht lediglich eine "Förderungsverpflichtung" zum Ausbau der Infrastruktur, wobei diese unter dem Vorbehalt steht, daß ausreichend Haushaltsmittel verfügbar sind. Somit ist nach Auffassung der SPD nicht auszuschließen, daß auch Gebietskörperschaften und Dritte zur Finanzierung herangezogen werden. Vor diesem Hintergrund könnte der Bund unter Hinweis auf fehlende Haushaltsmittel jeweils versuchen, die Länder und Gebietskörperschaften, die von einer Neubaustrecke profitieren würden, mit in die Finanzierungsverantwortung einzubeziehen. Dieser Aspekt wird zur Zeit besonders kontrovers diskutiert. Länder und Gemeinden versuchen derartige Entwicklungen abzublocken.

Der hessische Verkehrsminister fordert ebenfalls, daß der Bund die Gemeinwohlverantwortung für den Schienenverkehr übernimmt, die volle Finanzverantwortung für das Schienennetz trägt sowie für Bau und Unterhaltung nach einer gesamtwirtschaftlichen Bewertung – ähnlich wie bei dem Netz der Bundesfernstraßen oder Bundeswasserstraßen – sorgen muß. Aus Sicht der Länder kommt es keinesfalls in Betracht, daß der Bund den Ausbau seines Schienennetzes lediglich "fördert". Vielmehr sind von ihm alle Kosten des Ausbaus und der Ersatzinvestitionen sowie der Unterhaltung und Instandsetzung in vollem Umfang zu tragen. Die Länder fordern, daß als Anhang an das neue Schienenwegeausbaugesetz ein Schienenwegebedarfsplan aufzustellen ist, der nicht nur eine Kopie des Bundesverkehrswegeplans 1992/Abschnitt Schiene darstellt; vielmehr sollten über die Konzentration auf die Bauvorhaben des schnellen Fern-

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verkehrsnetzes hinaus die Ausbauvorhaben des gesamten Netzes in einen solchen Schienenwegebedarfsplan aufgenommen oder zumindest durch Finanzpauschalen abgesichert sein.

Der Entwurf des Schienenwegeausbaugesetzes regelt den Bedarfsplan in §3:

  1. Das Schienennetz bundeseigener Eisenbahnen wird nach dem Bedarfsplan ausgebaut, der diesem Gesetz als Anlage beigefügt ist. Die Feststellung des Bedarfs im Bedarfsplan ist für die Planfeststellung nach § 6 des Gesetzes über die Eisenbahnverkehrsverwaltung des Bundes verbindlich.

  2. Der Bedarfsplan wird auf der Grundlage der Bundesverkehrswegeplanung vom Bundesminister für Verkehr vorbereitet.

Entsprechend § 4 dieses Entwurfes erfolgt der Bau und Ausbau in zeitlichen Stufen, die im Bedarfsplan vorgesehen sind. Die Finanzierung der in den Bedarfsplan aufgenommenen Baumaßnahmen soll nach Vereinbarung zwischen der bundeseigenen Eisenbahn, deren Schienenweg (aus-)gebaut werden soll, und den Körperschaften, die die Baumaßnahmen ganz oder teilweise finanzieren, geregelt werden. Die Finanzierungsvereinbarungen sind – auf Antrag eines der Beteiligten unter Hinzuziehung eines unabhängigen Wirtschaftsprüfers – mindestens alle fünf Jahre daraufhin zu kontrollieren, ob und in welchem Ausmaß sich das unternehmerische Interesse der bundeseigenen Eisenbahn an der Investition verändert hat. Liegt der Bau oder Ausbau eines Schienenweges, den der Bund in den Bedarfsplan aufgenommen hat, zugleich im unternehmerischen Interesse der bundeseigenen Eisenbahn, so muß diese an den Bund gemäß § 5 Abs. 1 Zahlungen in Höhe der jährlichen Abschreibungen auf den Schienenweg leisten. Liegt diese Baumaßnahme nur zum Teil im unternehmerischen Interesse, kann festgelegt werden, daß sich die Abschreibungen nur auf einen bestimmten Teilbetrag der Investitionssumme beziehen. Ersatzinvestitionen werden nicht in den Bedarfsplan aufgenommen (§ 6 Abs. 1).

Auch der VDV sieht in den bisherigen Gesetzentwürfen zum Schienenwegeausbaugesetz noch einige Unzulänglichkeiten. Nach seiner Meinung wird es bei der Fahrwegfinanzierung für jede Strecke – insbesondere für Strecken außerhalb des Hauptnetzes – und für fast jede

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einzelne Investition oder Desinvestition zu Diskussionen über die Interessenlage zwischen dem Bund und den übrigen Beteiligten kommen. Damit bliebe die unbefriedigende und unklare Situation, die bisher schon zu unnötigen Ausgaben führt, weiterhin erhalten. Aus diesem Grund spricht sich auch der VDV gegen eine teilweise Abwälzung der Finanzverantwortung vom Bund auf die Länder aus.

Entsprechend § 7 des Entwurfs des Schienenwegeausbaugesetzes soll ebenfalls nach Ablauf von jeweils fünf Jahren der Bundesminister für Verkehr prüfen, ob der Bedarfsplan der zwischenzeitlich eingetretenen Wirtschafts- und Verkehrsentwicklung anzupassen ist. Außerdem unterliegt der Bundesminister für Verkehr einer jährlichen Berichtspflicht gegenüber dem Deutschen Bundestag über den Fortgang des Ausbaus des Schienenwegenetzes (§ 8).

Die Diskussion um die Finanzverantwortung beinhaltet auch die Frage, inwieweit es im Falle einer Lastenübertragung auf die Länder zu Streckenstillegungen kommen wird. Um massive Stillegungen im nichtelektrifizierten Netz nicht nur bei der Bundesbahn, sondern in noch stärkerem Maße bei der Deutschen Reichsbahn zu verhindern, fordert auch der Verkehrsclub der Bundesrepublik Deutschland VCD die volle Finanzverantwortung des Bundes für den Bereich Fahrweg. Dabei wäre neben einem Schienenwegeausbaugesetz für die neu- und auszubauenden Schienenstrecken und Bahnhöfe eine Regelung im Haushaltsgesetz zu treffen, welche die für Erhalt und Ausbau der Schieneninfrastruktur aufzuwendenden Mittel festlegt.

Dementsprechend schlägt der VCD in Anlehnung an Artikel 89 GG (Bundeswasserstraßen) und Artikel 90 GG (Bundesfernstraßen) folgenden neuen Artikel 87 e GG vor:

  1. Der Bund ist Eigentümer der bisherigen Schienenstrecken der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn. Er kann ein bundeseigenes Unternehmen des privaten Rechts mit Verwaltung und Ausbau des Schienennetzes des Bundes beauftragen.

  2. Der Bund stellt sicher, daß das Schienennetz den allgemeinen Verkehrsbedürfnissen, den Anforderungen der Gleichwertigkeit der Lebensbedingungen und des Umweltschutzes sowie den sonstigen

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    öffentlichen Belangen, die vom Schienenverkehr berührt werden, genügt.

  3. Auf Antrag eines Landes kann der Bund Schienenstrecken des Fernverkehrs, soweit sie im Gebiet dieses Landes liegen, in bundeseigene Verwaltung übernehmen.

  4. Der Bund nimmt die über den Bereich eines Landes hinausgehenden staatlichen Aufgaben des Eisenbahnverkehrs wahr, die ihm durch Gesetz übertragen werden, das der Zustimmung des Bundesrates bedarf.

  5. Eisenbahnen des Bundes werden als Wirtschaftsunternehmen in privatrechtlicher Form geführt.

  6. Das Nähere regeln Bundesgesetze.

Darüber hinaus schließt sich der VCD den Vorschlägen an, analog zum Bundesfernstraßengesetz in einem Bundesschienenwegegesetz die Art der Finanzierung sowie Aufgaben und Pflichten des Bundes bezüglich der Schieneninfrastruktur zu regeln, da der Bund politisch, rechtlich und finanziell für deren Erhalt und Ausbau verantwortlich sei. Entsprechend der bisherigen Vorgehensweise bei den Bundesfernstraßen wären die zu realisierenden Projekte in einem gesonderten Bundesschienenwegeausbaugesetz festzulegen und nach ihrer Dringlichkeit einzustufen.

3.1.2 Entgeltlichkeit und Finanzierung des Fahrwegs

Nach Öffnung des Schienennetzes für dritte Anbieter sowie Trennung von Fahrweg und Betrieb muß ein diskriminierungsfreier Zugang zum Netz gewährleistet sein. Die Eisenbahnunternehmen, die Schienenverkehrsleistungen anbieten wollen, müssen Trassennutzungsrechte erwerben und ein Benutzungsentgelt für den Fahrweg entrichten. Im Mittelpunkt der Diskriminierungsbetrachtung stehen die Fragen nach der Ausgestaltung der Trassenvergabe und nach der Struktur des Benutzungsentgeltsystems. Dabei versteht man unter einer Trasse einen räumlich und zeitlich definierten Streckenabschnitt.

Bisher sind die Grundzüge einer Bemessung der Fahrwegabgabe der Bahnen noch nicht in den Gesetzentwürfen enthalten. Nach Auffassung des

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VDV ist es Aufgabe des Bundes, im Zusammenhang mit einer Festlegung der Wegekosten für alle Verkehrsträger – einvernehmlich mit den Bundesländern – den finanziellen Rahmen zu bestimmen, in dem sich die Abgaben für die Nutzung der Schienenwege bewegen.

Grundsätzlich wird angestrebt, daß die Einnahmen aus den Fahrwegabgaben der Eisenbahnunternehmen die Kosten der Fahrweg-AG decken. Dabei sollen nicht nur die Kosten der Infrastruktur – beispielsweise Kosten für Neu- und Ausbau der Schienenwege –, sondern auch die externen Kosten in die Berechnung mit einfließen. Damit verbunden wird die Forderung, die Wegekostenanlastung der einzelnen Verkehrsträger zu harmonisieren, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden bzw. abzubauen.

Bereits seit Jahren ist die Wahl der Methodik zur Quantifizierung von Wegekosten ein umstrittenes Thema, welches vor dem Hintergrund der Bemessung einer Fahrwegeabgabe erneut kontrovers diskutiert wird. Zur Berechnung der Wegekosten bestehen unterschiedliche methodische Bewertungsansätze, so daß weder für Straße und Wasserstraße noch für die Schiene ein eindeutig exakter Wegekostendeckungsbeitrag festgelegt werden kann. Weiter ist die Frage noch ungeklärt, ob für die Fahrweg-AG auch ein Deckungsbeitrag von weniger als 100% zu akzeptieren ist. In diesem Fall wäre festzulegen, wer die nicht durch Wegeabgaben gedeckten Fahrwegkosten trägt.

Das Benutzungsentgeltsystem muß entsprechend der Richtlinie 91/440/EWG für alle Eisenbahnunternehmen gelten, d.h. für bundes- und nichtbundeseigene Eisenbahnen. Es wäre ein System mit differenzierten Preisen dann denkbar, wenn diese nicht diskriminierend, sondern beispielsweise durch Kostendifferenzen zu rechtfertigen wären. Da es sich bei der Fahrweg-AG um einen monopolistischen Anbieter von Schieneninfrastruktur handelt, erhält die Diskriminierungsproblematik besondere Bedeutung. Allerdings ist es nicht unternehmerisches Ziel der Fahrweg-AG, Gewinne zu erwirtschaften. Die GdED stellt sogar in Zweifel, daß der Ausgleich zwischen Kosten und Fahrwegbenutzungsgebühren gelingen wird. Dementsprechend befürchtet die Gewerkschaft, daß das für den Fahrweg entwickelte Konzept zu einer Schrumpfbahn führen wird, und plädiert deshalb für Nachbesserungen.

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3.2 Regionalisierung

3.2.1 Organisation

In der Bundesrepublik soll der ÖPNV im Zuge der Bahnstrukturreform neu organisiert werden. Die Gesetzentwürfe zur Bahnstrukturreform sehen den Übergang der Verantwortung für den SPNV der DB und DR vom Bund auf die Ebene der regionalen Gebietskörperschaften vor. Diese Regionalisierung von Aufgaben und Verantwortung auf die zuständigen Behörden vor Ort, die nach dem Konzept der SPD nur in enger Abstimmung mit den betroffenen Ländern, Kreisen und Kommunen erfolgen darf, ermöglicht eine effizientere Leistungserbringung im ÖPNV. Nach dem Bestellprinzip können die Gebietskörperschaften die Leistungen einkaufen, die sie benötigen. Zur Realisation einer effizienten Bestellpolitik fehlen den Gebietskörperschaften derzeit jedoch noch genaue Informationen über die Kosten-Erlös-Situation aller betroffenen Strecken und Linien. Die Reichweite einer Regionalisierung ist gegenwärtig noch nicht klar abgegrenzt. So wird derzeit debattiert, ob lediglich der SPNV oder aber der gesamte ÖPNV neugestaltet werden soll.

Auch der Verkehrsminister des Landes Hessen fordert, daß sich die Regelungen zur Regionalisierung nicht nur auf den SPNV, sondern auf den gesamten ÖPNV erstrecken, d.h. inclusive Straßenverkehr. Die Stellungnahme des VDV zur Bahnstrukturreform schließt sich dieser Forderung an: Nicht nur die Zuständigkeiten für den SPNV müssen neu geregelt werden. Vielmehr gelte es, den heute noch unsystematischen Zustand des Gesamt-ÖPNV durch eine zwischen Bund und Ländern/Kommunen abgestimmte Neuorganisation zu ersetzen.

Für den VCD sind folgende Aspekte Kernpunkte für ein mit Zustimmung des Bundesrates zu verabschiedendes Gesetz zur Organisation und Finanzierung des ÖPNV:

  • Verankerung eines ÖPNV-Angebotes, das sich an den Mobilitätsbedürfnissen der Bevölkerung und den sozialen, umweltpolitischen sowie landesplanerischen Erfordernissen orientiert, als Pflichtaufgabe der Länder und der von ihnen bestimmten öffentlichen Träger vor Ort (Gemeinden, Kreise, Zweckverbände);

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  • Festlegung von Mindeststandards für die Bedienung von Verdichtungsräumen und der weniger dicht besiedelten Regionen mit ÖPNV;

  • Verpflichtung zur durchgehenden Vernetzung der Verkehrsmittel auf Schiene und Straße (Fern- und Regionalbahn, Straßen-, Stadt-, S- und U-Bahn, Bus) sowie zur Kooperation der Verkehrsunternehmen. Dabei soll den Kunden ein Gesamtsystem von Verkehrsangeboten und Tarifen für Schiene und Straße angeboten werden;

  • klare und bürgernahe Gestaltung der organisatorischen und finanziellen Kompetenzen, d.h. Regionalisierung der Verantwortung;

  • Schaffung gesicherter finanzieller Grundlagen sowohl für die zum Ausbau des ÖPNV notwendigen Investitionen als auch in Bezug auf die für eine ausreichende Bedienung mit ÖPNV erforderlichen Betriebskostenzuschüsse (hierzu ist der ÖPNV in den Katalog der Gemeinschaftsaufgaben von Bund und Ländern gemäß Artikel 104 a GG aufzunehmen und das Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz entsprechend zu ergänzen);

  • Zweckbindung der bisher vom Bund und seinen Sondervermögen Bundesbahn und Reichsbahn für den SPNV aufgewendeten Beträge für einen mindestens 10-jährigen Übergangszeitraum. Es muß gewährleistet sein, daß dieser Betrag künftig in voller Höhe den Gebietskörperschaften für den Einkauf von Nahverkehrsleistungen bei den Eisenbahnverkehrsunternehmen zur Verfügung steht.

Im Rahmen der Regionalisierung soll auch die Frage nach der Privatisierung der Bahn-Busse geklärt werden. Befürworter eines Verbleibs der Busse im Besitz der Bahn – wie die Gewerkschaft der Eisenbahner Deutschlands – argumentieren, daß die Stärken der Bahn im Nahverkehr letztlich auch darin liegen, daß sie den Gebietskörperschaften ein Gesamtkonzept anbieten kann. Der Bus ist heute ein wesentliches Instrument des Nahverkehrs. Der Bereich Nahverkehr von Schiene und Bus könnte von einer zukünftigen DBAG zu einem leistungsfähigen Geschäftsbereich ausgebaut werden. Dies zeigen beispielsweise erfolgreich tätige nichtbundeseigene Bahngesellschaften, die ebenfalls Schiene und Bus in einem Unternehmen zusammenfassen.

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Vertreter von Politik und Verbänden fordern für die zukünftigen Transportsparten DBAG-Personen- und -Güterverkehr eine organisatorische Trennung der Bereiche Nah- und Fernverkehr. Es existieren Vorschläge, eine Nahverkehrs AG unter Einschluß der Bahn-Busdienste einzurichten – als Initiative gegen eine auf Fernstrecken konzentrierte "Schrumpfbahn".

3.2.2 Finanzierung

Das Kernproblem der Regionalisierung liegt in der noch ungeklärten Finanzierungsfrage. Auch nach Vorlage des Föderalen Konsolidierungsprogramms der Bundesregierung sowie der Fraktionen von CDU/CSU und FDP bleibt unklar, ob die Länder die erforderliche Zustimmung zur Bahnstrukturreform erteilen werden. Vorgesehen ist, daß ab dem Jahr 1995 keine Mittel mehr für den ÖPNV bereitgestellt werden. Dies war Bestandteil der Solidarpaktverhandlungen, in denen dann eine Vereinbarung getroffen wurde, die veränderte Zuweisungsschlüssel bei der Umsatzsteuer für die Länder vorsieht.

Es besteht die Gefahr, daß es nicht zu einer Ausweitung des Angebots im SPNV und ÖPNV, sondern im Gegenteil zu einer gravierenden Angebotsausdünnung kommt, wenn keine befriedigende Einigung zwischen Bund und Ländern hinsichtlich der Finanzierungsfrage erzielt werden kann.

Die Bundesregierung sieht vor, daß für eine Übergangszeit die Aufgabenwahrnehmung befristet weiter beim Bund verbleibt und zwar solange, bis die Länder rechtlich und organisatorisch in der Lage sind, den SPNV durchzuführen. Dies käme einer zeitlichen Verschiebung der Regionalisierung gleich. Eine Gesetzesinitiative des Bundes (Art. 143 GG) sieht vor, für diese Übergangszeit – im Gespräch sind drei Jahre – die Ausgleichszahlungen vom Bund an die Bahnen in unveränderter Höhe fortzuführen, wofür die DBAG die Nahverkehrsleistungen in bisherigem Umfang weiterbetreiben soll.

Es bleibt zu hinterfragen, inwieweit solch ein Vorgehen mit der zukünftigen Rechtsform einer Aktiengesellschaft zu vereinbaren ist. Ist eine Bahnreform ohne Regionalisierung überhaupt sinnvoll? Folgt man den Ausführungen der Regierungskommission, so ist eine Bahnstrukturreform nur in

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Verbindung mit einer Regionalisierung erfolgversprechend. Regionalisierung bedeutet ja auch Befreiung der DBAG von den gemeinwirtschaftlichen Aufgaben. Nur so wäre eine wirtschaftliche Unternehmensführung denkbar.

Ob innerhalb einer Übergangszeit, während der die DBAG noch mit diesen Aufgaben belastet bleibt, überhaupt ein unternehmerisch erfolgreicher Start gelingen kann, ist mit vielen Fragezeichen zu versehen. Kosten und Erlöse könnten weiterhin nicht eindeutig zugeordnet werden und die Erbringung gemeinwirtschaftlicher Leistungen zur Rechtfertigung von erwirtschafteten Defiziten herangezogen werden. Dies kann nicht Ziel der Bahnstrukturreform sein.

Die Realisierung der Bahnstrukturreform setzt eine Zweidrittel-Mehrheit im Bundesrat voraus. Der Verkehrsminister des Landes Hessen bekräftigt, daß die Länder der Grundgesetzänderung nur zustimmen werden, wenn sie in die Lage versetzt werden, die für die Länder wichtigste Konsequenz der Reform, nämlich die angestrebte Regionalisierung auch organisatorisch und finanziell tragen zu können. Dieser Standpunkt wird von allen Landesregierungen – unabhängig von Parteizugehörigkeit, von Stadtstaaten und Flächenländern, von alten und neuen Bundesländern – einhellig vertreten.

Aus Ländersicht hätte die im Bundesministerium der Finanzen entwickelte Strategie, die Regionalisierung, d.h. die Aufgabe Nahverkehr auf die Länder zu übertragen und die Zuwendungen gleichzeitig zu streichen (Ausgleich 7,7 Mrd DM und 6,3 Mrd DM aus den Mitteln des Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetzes), um damit den Länderanteil zum "Aufbau Ost" zu erhöhen und im neu zu ordnenden Bund-Länder-Finanzausgleich '95 einzuarbeiten, den Ruin des Nahverkehrs bedeutet. Hierauf reagierte das Land Hessen sofort mit dem Hinweis auf drohende Konsequenzen, wie die Stillegung der S-Bahnbaustellen.

Zwar können die Länder bzw. die Regionen je nach Organisationsstand nach und nach in die Bestellerrolle hineinwachsen. Ohne eine dauerhafte Kosten-Regelung wird die Regionalisierung jedoch nur zu einem kurzlebigen Erfolg: Ohne vorherige Berücksichtigung der Länderinteressen käme es

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zu einer Stillegungswelle, für die dann noch die Länder die Verantwortung übernehmen müßten.

Das Land Hessen hat bei der Bewältigung der Bahnstrukturreform – insbesondere bei der Regionalisierung – zentrale Aufgaben wahrgenommen:

  • Für das Gebiet des Rhein-Main-Verkehrsverbundes (RMV) wird das "Konzept zur Regionalisierung des ÖPNV am Modellfall des RMV" erstellt.

  • Die Konzeption für "Integrale Netze" und eines "Integralen Taktfahrplans" für den SPNV im Verbundgebiet Rhein-Main soll Möglichkeiten für die Modernisierung der Angebotsstruktur des Gesamtverkehrssystems aufzeigen. Durch Verbesserung des umweltfreundlichen Schienenverkehrs soll das Umsteigen von der Straße zur Schiene gefördert und so der Verkehrsinfarkt in den Ballungsräumen verhindert werden.

  • Mit Auftrag der Verkehrsministerkonferenz vom Dezember 1992 untersucht eine Arbeitsgruppe der DB, des Verkehrsministeriums und des RMV die Kosten- und Erlössituation im Nahverkehr, spezifiziert auf die Länder und in Anwendungsfällen für einzelne typische Strecken und Linien. Die Ergebnisse dieser Untersuchung sollen die zentrale Frage beantworten helfen, nämlich was die Bestellung einer Zugleistung im bisherigen und künftigen System kostet. Im April 1993 werden die Ergebnisse der Ermittlungen vorliegen. Dann verfügen die Länder über erste Dispositionswerte für eine realistische Beurteilung der Kosten des SPNV.

Die Länder stellen die zentrale Forderung nach Sicherstellung der Finanzierung der nach EG-Recht erforderlichen kostendeckenden Bezahlung ihrer Nahverkehrsbestellungen – mindestens im bisherigen Umfang. Sie haben dafür einen Betrag von 14 Mrd DM errechnet.

Der VDV kommt zu einem wesentlich höheren Finanzbedarf für den ÖPNV der Zukunft:

  • Im Bundeshaushalt 1992 waren als Ausgleichszahlung für den SPNV der Deutschen Bundesbahn und der Deutschen Reichsbahn 6,4 Mrd DM veranschlagt. Einzubeziehen sind aber auch die Ver-

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    luste von DB und DR im Nahverkehr, die der Bund nicht gezielt ausgleicht, sowie die Erstattungsleistungen für Schwerbehinderten-Freifahrten, die zusammen jährlich zusätzlich rund 2 Mrd DM betragen.

  • Außerdem werden die bereits bisher auf Länder und Kommunen abgewälzten Lasten und unterlassenen notwendigen Investitionen berücksichtigt. Diese Beträge ergeben dynamisiert – bezogen auf die Regionalisierung – kumuliert etwa 3 Mrd DM pro Jahr.

  • Zusätzlich werden die Mittel miteinbezogen, welche die Kommunen für die durchgreifenden Verbesserungen des ÖPNV benötigen, soweit sie den Rahmen des bisherigen Defizitausgleichs von Betriebskosten überschreiten. Dynamisiert beläuft sich diese Position auf ca. 2,5 Mrd DM p.a.

  • Es wird davon ausgegangen, daß die Bundesfinanzhilfen nach dem Gemeindeverkehrsfinanzierungsgesetz für die Investitionskosten auf dem für 1993 vorgesehenen Niveau (6,28 Mrd DM) gesichert bleiben und über das Jahr 1995 hinaus fortgeschrieben werden. Die Dynamisierung erhöht diesen Betrag um etwa 0,4 Mrd DM.

Aus diesen Zahlen ergibt sich ein Gesamtfinanzbedarf von mehr als 20 Mrd DM. Für dieses Finanzvolumen, das für den Status quo von DB und RB gilt, können sich Korrekturen aus der Bahnstrukturreform ergeben.

Das Bundesministerium für Verkehr sieht vor, daß der Bund den Ländern einen zweckgerechten finanziellen Ausgleich in der Höhe leisten wird, in der er selbst finanzielle Leistungen für den SPNV von DB und DR erbringen müßte. Nach Auffassung des Ministeriums sind diese Mittel mehr als ausreichend, um in Zukunft den SPNV mindestens mit dem heutigen Standard fortzuführen. Der notwendige Mitteltransfer soll im Rahmen einer Neuverteilung der Umsatzsteuer erfolgen. Es wird aber auch darauf hingewiesen, daß weitere Finanzierungsquellen nutzbar sind. In diesem Zusammenhang sind die Diskussionen über eine Erhöhung der Mineralölsteuer bzw. die Einführung einer Straßenbenutzungsgebühr noch nicht abgeschlossen.

Ob allerdings ab 1994 für den Finanzbedarf der Bahnreform aus dem Verkehrsbereich zusätzliche Einnahmen zur Verfügung stehen werden, ist

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nach Einschätzung des verkehrspolitischen Sprechers der SPD-Bundestagsfraktion zur Zeit noch völlig offen. Insbesondere wegen der nicht geklärten europäischen Rechts- und Sachlage sei noch nicht abzusehen, in welchem Umfang durch Autobahngebühren und/oder Mineralölsteuer Mehreinnahmen erzielt werden können.

Nach Auffassung der Länder ist der dauerhafte und dynamisierte Finanzausgleich nur durch eine Aufnahme der Mineralölsteuer in den Katalog der Gemeinschaftssteuern unter gleichzeitiger Zweckbindung des Länderanteils

Bild 4:

Finanzströme und Zuständigkeiten der Förderung von Infrastrukturneu- und -ausbauinvestitionen nach dem Entwurf des Schienenwegeausbaugesetzes





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für den ÖPNV möglich. Diese Auffassung befürwortet auch der VDV. Alternativ plädiert dieser Verband für ein Gesamtfinanzierungskonzept für den ÖPNV einschließlich eines Regionalisierungsgesetzes des Bundes, das durch ÖPNV-Gesetze der Länder zu ergänzen ist. Es werden Vorschläge zu Art. 104 a GG mit klaren Abgrenzungen der Zuständigkeiten gemacht, die allerdings vom Bundesverkehrsministerium abgelehnt werden, weil keine neuen Mischfinanzierungen geschaffen werden sollen. In einer Neuverteilung der Umsatzsteuer sieht der VDV dagegen selbst dann keine "ausreichende, dauerhafte, gesetzlich gesicherte" Regelung, wenn sie von einer vertraglich zugesicherten Zweckbindung für den ÖPNV begleitet wird.

Als Hauptproblem erweist sich nicht allein die Höhe der Zuweisungen vom Bund an die Länder, sondern auch die Frage, ob die zugewiesenen Mittel auch tatsächlich und in welcher Höhe in den Gebietskörperschaften ankommen; denn nur wenn dieses gewährleistet ist, kann eine wirklich effiziente Bestellpolitik durchgeführt werden.

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3.3 Privatrechtliche Unternehmensform

Im Rahmen der Diskussionen zur Bahnstrukturreform ist "Privatisierung" ein häufig gebrauchtes Schlagwort. Geht man jedoch begrifflich exakt vor, so kann hier nicht von einer echten Privatisierung gesprochen werden. Es handelt sich erst dann um eine wirkliche Privatisierung, wenn neben einer privatrechtlichen Unternehmensform auch die Finanzierung und sämtliche Unternehmensrisiken auf den privaten Sektor übergehen. Bleiben die Anteile des Unternehmens im Besitz der Öffentlichen Hand, so kann lediglich von der Umwandlung in eine privatrechtliche Organisationsstruktur gesprochen werden.

Im folgenden Kapitel sollen die vieldiskutierten AG-Effekte detailliert auf der Basis der Begründung zum Entwurf des Gesetzes zur Neuordnung des Eisenbahnwesens dargestellt werden. Kritische Stellungnahmen hierzu finden dann anschließend in Kapitel 3.3.2 Berücksichtigung.

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3.3.1 AG-Effekte

Eine Neustrukturierung der Deutschen Bahnen wird damit begründet, daß eine alleinige Befreiung der Eisenbahnen von finanziellen und personellen Altlasten – bei unveränderter Struktur als Sondervermögen und Teil der öffentlichen Verwaltung – nicht vertretbar ist. Die Entlastung ist nur dann erfolgversprechend, wenn diese auch zur Bildung eines Unternehmens führt, das im Wettbewerb bestehen kann und in der Lage ist, ein verbessertes Betriebsergebnis zu erzielen, und so zur Entlastung des Bundeshaushaltes beiträgt. Für eine entschuldete Bahn unter Fortführung als Sondervermögen wären jedoch bereits mittelfristig wieder Verluste zu erwarten, die eine erneute Entschuldung erfordern würden.

Die grundlegende Veränderung der Unternehmensstruktur, wie sie der Gesetzentwurf zur Strukturreform vorsieht, ist erforderlich, weil die Deutschen Bahnen nur auf diesem Wege leistungs- und wettbewerbsfähig werden können. Den Bahnen muß unternehmerisches Handeln ermöglicht werden, d.h. sie müssen in die Lage versetzt werden,

  • nachfragegerecht und kundenfreundlich zu agieren,

  • reaktionsschnell und flexibel am Markt zu sein,

  • die Leistungsbereitschaft und Qualifikation der Mitarbeiter zu fördern,

  • über eine angemessene Kapitalausstattung zu verfügen und

  • Ergebnisverantwortung und Einsatz der Produktionsmittel in einer Hand zu halten.

Der Erfolg der Bahnstrukturreform ist im wesentlichen davon abhängig, ob die derzeitige Funktion einer staatliche Aufgaben erfüllenden Behörde gegen ein ausschließlich wirtschaftlich handelndes Unternehmen im Verkehrsmarkt komplett aufgegeben werden kann. Eigenverantwortlichkeit ist hier ein wichtiges Stichwort. Damit ist die Forderung verbunden, daß Kosten- und Erlösstrukturen transparenter werden und die Verantwortung für Betriebsergebnisse übernommen werden muß.

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Die Rechtsform der Aktiengesellschaft wird als die am besten geeignete Organisationsform eingestuft, da die Kontrollmechanismen des Aktienrechts über Verantwortung und Risikoverteilung im Unternehmen selbst wirken. Einerseits führt die Verantwortung des Vorstandes zu hoher Eigeninitiative, andererseits werden unternehmensfremde Einflüsse begrenzt.

Es wird erwartet, daß bei konsequenter unternehmerischer Führung folgende Effekte zu realisieren sind:

  • Nutzung des unternehmerischen Handlungsspielraums durch flexibleres Handeln am Markt,

  • Konzentration auf spezielle Märkte,

  • bessere Nutzung der Ressource Fahrweg,

  • Verbesserung der Produktivität,

  • Erhöhung der Kundenfreundlichkeit,

  • Verringerung der Personalausgaben und Betriebsaufwendungen sowie

  • gezielte und erfolgsorientierte Förderung von Mitarbeitern.

Als Gesamteffekt der Umwandlung zur Aktiengesellschaft und damit der Erschließung unternehmerischen Potentials werden laut Gesetzbegründung für die Jahre 1993-2002 kumuliert über 100 Mrd DM prognostiziert, davon 30 Mrd DM für den Bereich Fahrweg.

3.3.2 Kritische Würdigung

Die Bundesregierung ist der Überzeugung, daß durch Deregulierung und Privatisierung verstärkter Wettbewerb und damit mehr Wirtschaftlichkeit, höhere Kosteneffizienz, höhere Qualität und Leistungsfähigkeit im Bahnsektor erreicht werden können. Die Rechtsform der Aktiengesellschaft und eine Befreiung der Deutschen Bahnen von den Bindungen des öffentlichen Dienst- und Haushaltsrechts soll ein kundenorientiertes Management ermöglichen, welches marktgerecht agiert, bereit ist, Risiken einzugehen, und Gewinne erwirtschaften kann.

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Diese Erwartungen werden von Mitgliedern der Opposition nicht vorbehaltlos geteilt. Der verkehrspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion rechnet damit, daß die behaupteten AG-Effekte erst mit einer längeren zeitlichen Verzögerung einsetzen werden. Die Bahn wird sich aber gerade in der kritischen Anfangsphase der Reform weiterhin dem bisherigen Wettbewerbsdruck des Straßenverkehrs aussetzen müssen. Unklar ist, inwieweit eine "neue Bahn" diese Situation in der Umstrukturierungsphase von einer schwerfälligen Behörde zu einem Wirtschaftsunternehmen finanziell überhaupt überstehen kann.

Für erforderlich hält die SPD deshalb ein tragfähiges Sanierungskonzept, das Bestandteil einer grundlegenden Neuorientierung der deutschen und europäischen Verkehrspolitik sein muß. Wichtige Bedeutung kommt dabei insbesondere dem Einstieg in Konzepte zur Verkehrsvermeidung und zu einer europaweit gerechten Anlastung der Wegekosten und der externen Kosten für alle Verkehrsträger zu. Als unzureichend werden dementsprechend Reformansätze eingestuft, die allein bei der Änderung der Organisationsform ansetzen und die krassen Wettbewerbsbenachteiligungen gegenüber den anderen Verkehrsträgern nicht berücksichtigen. Werden aber auf den Verkehrsmärkten die Wettbewerbsbedingungen, die in der Vergangenheit umwälzende Verschiebungen der Verkehrsmittelwahl bewirkten, nicht neu geordnet, dann gibt es in Zukunft auch für ein privatrechtlich strukturiertes Eisenbahnunternehmen keine Perspektive.

Der VCD bezieht in seiner Stellungnahme zur Strukturreform der Deutschen Bahnen ebenfalls eine Position, welche die AG-Effekte in Frage stellt. Eine institutionelle Trennung von Personen- und Güterverkehr wird mit der Begründung abgelehnt, daß durch eine Trennung dieser Sparten Synergieeffekte – beispielsweise durch die gemeinsame Nutzung von Lokomotiven, Werkstätten und Anlagen sowie wechselseitigen Personaleinsatz – verloren gingen. Dies würde letztlich zu Mehrkosten und einer Angebotsverschlechterung führen. Die grundsätzliche Trennung von Fahrweg, für den der Bund die Verantwortung übernehmen muß, und Betrieb – durchgeführt von privatrechtlichen Unternehmen – wird hingegen befürwortet.

Auch die GdED bezweifelt, daß sich die beabsichtigte Strukturregelung mit der Schaffung von drei voneinander unabhängigen Aktiengesellschaften

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Personenverkehr, Güterverkehr und Fahrweg betriebswirtschaftlich positiv auswirken wird. Die Gewerkschaft plädiert für eine Reform, bei der alle Aktivitäten in einem Unternehmen stattfinden. Den EG-Auflagen könnte auch mit einer organisatorischen und rechtlichen Abgrenzung des Fahrweges vom Erbringen der Verkehrsleistungen entsprochen werden. Die Aufsplitterung der Bahn trage dagegen nicht den Verzahnungen der Aufgabenbereiche Rechnung und würde zwangsläufig teurer. So hätte die totale Trennung der Unternehmensbereiche Personalintensivierungen zur Konsequenz, z.B. weil Lokführer im Personenverkehr nicht mehr für das Fahren von Güterzügen eingesetzt werden können. Vor fast unlösbaren Problemen stünden die relativ kleinen Dienststellen, die meist in der Fläche liegen. Die dort eingesetzten Eisenbahner erledigen zur Zeit Aufgaben aller Unternehmenssparten. Wo heute ein Mitarbeiter ausreicht, wären künftig drei Beschäftigte notwendig. Läßt man umgekehrt die Personalausstattung unverändert, dann bliebe als Lösung nur die Schrumpfbahn.

Auch das Bundesministerium der Finanzen dämpft die Hoffnungen auf sog. AG-Effekte. Eine bloße Änderung der Rechtsform garantiere allein noch nicht den Erfolg der Bahnstrukturreform, denn die Rechtsform einer Aktiengesellschaft und unternehmerisches Handeln seien nicht automatisch positiv korreliert. Es bestehen erhebliche Zweifel, ob die genannten Einsparungspotentiale von über 100 Mrd DM ohne preisliche und ordnungspolitische Maßnahmen erreichbar sind. Dementsprechend wird die Auffassung vertreten, daß die Bahnreform sehr wahrscheinlich nur gelingen wird, wenn sie von einer massiven verkehrspolitischen Flankierung begleitet wird. Erforderlich ist eine neue Standortbestimmung für alle Verkehrsträger im gesamten Verkehrssystem. Es sind Rahmenbedingungen zu schaffen, die betriebswirtschaftlich notwendige und volkswirtschaftliche sinnvolle Verkehrsverlagerungen fördern. Es gilt, zwei Hauptforderungen zu erfüllen:

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  • die Harmonisierung der Fiskallasten in Europa und

  • das Hinarbeiten auf einen Modal-Split, der den inneren Stärken jedes Verkehrsträgers entspricht.

Der Vorstand der Deutschen Bahnen erwartet von der Strukturreform eine Neuorientierung der Bahnen zum Markt. Dabei werden eine attraktive, kundennahe Produktpalette und Flexibilität ebenso für erforderlich gehalten wie die Weiterentwicklung des Systems Bahn. Bei den Produkten kommt im Bereich des Personenverkehrs dem IGE, dem InterRegio und neuen Angeboten im Nahverkehr sowie generell dem Einsatz moderner Fahrzeuge große Bedeutung zu. Beim Güterverkehr zielt die Unternehmenspolitik auf die volle Nutzung des produktiven Ganzzugverkehrs und eines in der Produktionsform stark konzentrierten Wagenladungsverkehrs ab. Wie bei den Short-Lines in den USA soll auf den Nebenstrecken ein multifunktionaler engagierter Einsatz des Personals mit geringstem Aufwand und abgegrenzten örtlichen Geschäftsformen erfolgen. Ein hoher Stellenwert wird weiter dem Kombinierten Verkehr zuerkannt; hier sind neue leistungsfähige bzw. einfache Umschlagsysteme und neuartige kleinere Behälter (z.B. die Logistikbox) erforderlich.

Auf dieser Basis rechnet die Bahn damit, längerfristig ein bis zwei Drittel des Marktwachstums abfangen zu können, wobei das effektive Abschneiden von den der Straße eingeräumten Konditionen abhängen wird. Weiter geht der Vorstand der Deutschen Bahnen davon aus, daß die strukturellen und organisatorischen Änderungen folgende AG-Effekte zur Konsequenz haben werden:

  • Erhöhung der Umsätze durch größere Marktnähe und Kundenorientierung,

  • zusätzliche Erträge aus dem Verkauf von Trassen an Dritte und bessere Immobilienverwertung,

  • Einsparung bei den Materialkosten sowie

  • Effizienzsteigerung beim Personal.

Über die Umstrukturierung hin zur Rechtsform der Aktiengesellschaft herrscht weitgehend Konsens. Eine Umwandlung der Sondervermögen in die Rechtsform der AG allein sichert aber noch nicht den Erfolg der Bahn-

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reform. Vielmehr sind umfassende Umstrukturierungen und vor allem eine neue, marktorientierte Denkweise nicht nur im Management, sondern auch beim gesamten Personal notwendig.


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