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1. Weichenstellung für eine zentralisierte Energiewirtschaft – der Stromvertrag


Während sich in der früheren Bundesrepublik bei den leitungsgebundenen Energien ein dreistufiges System zwischen Verbundunternehmen, regionalen Energieversorgern und Stadtwerken entwickeln konnte, lag die Energieversorgung in der DDR weitgehend in der Hand zentralgeleiteter Kombinate. Diese waren für die Braunkohlenförderung, den Bau von Kraftwerksanlagen, die Schaffung und Wartung der Verbundnetze sowie, als Bezirks-Energiekombinat, in den 15 ehemaligen DDR-Bezirken für die Verteilung der Energie zuständig.

Wie andere Wirtschaftsbereiche, so litt auch der Energiesektor in der DDR unter der mangelnden Innovationsfähigkeit der zentralistisch gelenkten Planwirtschaft. Chronisch knappe Devisen zementierten die Rolle der energetisch minderwertigen einheimischen Braunkohle als Hauptenergieträger. Ende der achtziger Jahre deckte Braunkohle rund siebzig Prozent des Primärenergiebedarfs der DDR, rund vier Fünftel der damals erzeugten Elektrizität stammten aus Kraftwerken mit braunkohlenbeheizten Kesseln. Zum Teil veredelt zu Koks und Brikett, stellte Braunkohle zudem den am häufigsten verwendeten Brennstoff für Industrie, Gewerbe, Haushalte und kommunale Einrichtungen dar.

Mit dem Braunkohlenabbau und mit der Verwendung der Braunkohle sind enorme Umweltbelastungen verbunden. Eingriffe in ökologische Systeme und in gewachsene Siedlungsstrukturen durch den Tagebau sowie die Freisetzung gewaltiger Mengen an Schadstoffen wie Schwefeldioxid, Stickoxide, Staub und des Treibhausgases Kohlendioxid bei der Verbrennung von Braunkohle in Kraftwerken, Schwelöfen, Industrieanlagen und privaten Feuerungsstätten machten die rasche Sanierung der Energiewirtschaft in der sich demokratisierenden DDR zu einem dringlichen Anliegen. Veraltete Kraftwerkstechnik, hohe Netzverluste sowie mangelnde Sparanreize und energievergeudende Produktionsanlagen gaben weiteren Anlaß, eine gründliche Erneuerung von Energiebereitstellung und -anwendung einzuleiten. Neben der Frage, wie die Sanierung der Energiewirtschaft zu finanzieren sei, beschäftigte die Verantwortlichen während und nach der demokratischen Wende die Sorge, ob die mittelfristige Deckung des Energiebedarfs zu vertretbaren Preisen und unter umweltpolitisch annehmbaren Bedingungen gelingen würde. Zwar gingen die meisten Prognosen angesichts der zu erwartenden Betriebsstillegungen von einem zunächst fallenden Primärenergieverbrauch in den nächsten Jahren aus. Aber der erhoffte und erwartete Anstieg der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit und die Modernisierung der

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Volkswirtschaft gab zumindest Befürchtungen Nahrung, daß die unzureichende Versorgung mit kostengünstiger Elektroenergie sich zu einem Innovationshemmnis entwickeln könnte. So führt die zur Anhebung der wirtschaftlichen Produktivität erforderliche Automatisierung und Modernisierung von Produktionsabläufen zwar zur Senkung des spezifischen Primärenergiebedarfs, läßt aber die Nachfrage nach Elektrizität steigen. Auch die umwelt- und verkehrspolitisch erwünschte Elektrifizierung des Bahnverkehrs sowie die beabsichtigte Nutzung von Umweltschutztechniken nährte Befürchtungen, die Deckung des Elektrizitätsbedarfs könne in Zukunft gefährdet sein.

Wie spekulativ die Erwartungen über den Elektroenergiebedarf auch sein mochten, als gewiß konnte gelten, daß die Stromnachfrage der Zukunft ohne eine gründliche Sanierung der veralteten Kraftwerke und ohne den Zubau neuer Anlagen nicht zu vertretbaren Preisen und mit umweltpolitisch annehmbaren Folgen zu decken wäre. Die Verbesserung des Wirkungsgrades der Kraftwerke, Nachrüstung von Strommeilern mit Rauchgasentschwefelungsanlagen, Austausch veralteter Dampferzeuger und die Sanierung der Leitungsnetze markieren nur einige der wichtigsten Aufgaben, für deren Bewältigung in der DDR weder genügend Kapital noch ausreichendes kaufmännisches und technisches Know-how zur Verfügung stand. Allein die Sanierung der thüringischen Heizkraftwerke soll mit rund einer Milliarde DM zu Buche schlagen. Schätzungen der Kosten für die Sanierung der Stromwirtschaft gehen davon aus, daß in den nächsten zehn Jahren bis zu 60 Milliarden DM investiert werden müssen.

Angesichts dieser Aufgaben bemühte sich die DDR-Führung um kompetente Energieversorgungsunternehmen aus der Bundesrepublik als Partner für die Sanierung der Energiewirtschaft. Am 22. August 1990 unterzeichneten die DDR, vertreten durch ihren damaligen Minister für Umwelt, Naturschutz, Energie und Reaktorsicherheit, die Treuhandanstalt sowie die drei großen bundesdeutschen Energieversorger Bayernwerk Aktiengesellschaft (BAG), PreussenElektra Aktiengesellschaft und die RWE Energie Aktiengesellschaft (RWE Energie) einen Vertrag zur Restrukturierung und Sanierung der DDR-Stromverbundunternehmen. In diesem "Stromvertrag" sichern die drei großen Energieversorgungsunternehmen die Gewährleistung einer zuverlässigen und preisgünstigen Versorgung mit Elektrizität unter Beachtung ökologischer Anforderungen sowie der herausragenden Rolle der Braunkohlenverstromung in der DDR zu. Darüber hinaus sollen die Unternehmen eine sozialverträgliche Anpassung des Personalbestands an betriebswirtschaftlich tragbare Größenordnungen durchführen, Potentiale für die Kraft-Wärme-Kopplung auf Verbundebene

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erschließen, dezentrale Energieversorgungskonzepte ausbauen und dabei regionale und kommunale Interessen beachten, soweit dies auf Verbundebene energiewirtschaftlich sinnvoll und möglich sei.

Zur Absicherung ihrer unternehmerischen Entscheidungsmöglichkeiten weist der Stromvertrag den drei beteiligten Unternehmen zunächst die Geschäftsbesorgung für die braunkohlenbefeuerten Großkraftwerke, für das Verbundnetz sowie für die inzwischen gegründeten Nachfolgeunternehmen der früheren Bezirks-Energiekombinate auf dem Gebiet der Stromwirtschaft zu. Mit der Übernahme der Geschäftsbesorgung ist der Auftrag verbunden, alle erforderlichen Maßnahmen für die Entwicklung der jeweiligen Unternehmen zu leistungsfähigen Energieversorgern einzuleiten. Im einzelnen werden dabei Zielsetzungen wie Versorgungssicherheit, Umweltentlastung, Anpassung des Absatz- und Beschaffungswesens an marktwirtschaftliche Anforderungen, Investitionsplanung und Durchführung, Aufbau einer effizienten Unternehmensorganisation, Erstellung von Umweltaltlastenkataloge, Ausgliederungen, Organisation der DDR-Unternehmen als Kapitalgesellschaften sowie Personalqualifizierung festgelegt. Im Gegenzug bekommen PreussenElektra, Bayernwerke und RWE zugesichert, daß ab 1. Januar 1991 75 Prozent der Besitzanteile an der zu gründenden gemeinsamen Gesellschaft für die Großkraftwerke und für das überregionale Verbundnetz auf sie übergehen würden. Der Erwerb der restlichen Anteile von 25 Prozent steht anderen interessierten westdeutschen Stromverbundunternehmen offen. Außerdem wird ausländischen Unternehmen eine Beteiligungsmöglichkeit eingeräumt, entweder im Rahmen der 25 Prozent oder, falls diese ausschließlich in deutscher Hand bleiben sollten, von insgesamt 15 Prozent, welche die drei großen Energieversorger aus ihren Anteilen zur Verfügung stellen, sofern ein ausländischer Partner seinerseits gleichwertige Beteiligungen an seinen Unternehmen anbietet.

Auch für die meisten inzwischen in Kapitalgesellschaften umgewandelten regionalen Verbundunternehmen sichert der Stromvertrag den Vertragspartnern der DDR die zukünftige Beteiligungsmehrheit zu. Danach sollen die RWE Mehrheiten an den ehemaligen Bezirks-Energiekombinaten in den Gebieten Chemnitz, Leipzig und Cottbus bekommen, die PreussenElektra in Rostock, Neu-Brandenburg, Magdeburg, Potsdam und Frankfurt (Oder) und die Bayernwerke an den thüringischen Werken Erfurt, Gera/Jena und Suhl/ Meiningen. Die Stromversorgung in Berlin, sowie in den ehemaligen Bezirken Dresden, Halle und Schwerin übernehmen kleinere Versorgungsunternehmen. Damit werden die zukünftigen Beteiligungsverhältnisse an den 15 regionalen Stromversorgungsunternehmen so aufgeteilt, daß in jedem dieser Unternehmen ein bis drei westdeutsche Konzerne die Kapitalmehrheit er-

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halten. Darüber hinaus verpflichtet der Stromvertrag die regionalen Versorgungsunternehmen, 20 Jahre lang 70 Prozent des von ihnen verkauften Stroms von dem überregionalen Verbundunternehmen zu beziehen. Um nicht von unkalkulierbaren Kosten überrascht zu werden, haben sich die westdeutschen Vertragspartner außerdem zusichern lassen, von der Sanierung der Altlasten freigestellt werden zu können.

Zwar sieht der Stromvertrag auch vor, daß Städte, Gemeinden und Landkreise Beteiligungen bis zu 49 Prozent an den regionalen Stromverbundunternehmen zugesprochen bekommen, doch bei vielen Städten und Gemeinden in den neuen Ländern stoßen die im Stromvertrag festgeschriebenen Beteiligungsverhältnisse auf Widerspruch. Bereits Ende des Jahres 1990 meldeten einige Kommunen weitergehende Ansprüche an die Übertragung des Besitzes von Anlagen und örtlichen Netzen an. Gleichzeitig wurde die Treuhandanstalt aufgefordert, die geplante Übergabe der Aktienmehrheit an die westdeutschen Unternehmen zu unterlassen, um damit nicht die Durchsetzung der kommunalen Ansprüche zu erschweren oder gar zu unterlaufen.

Unter anderen stützen die Städte und Gemeinden ihren Widerstand gegen den Stromvertrag auf § 2 Absatz 2 des Kommunalverfassungsgesetzes der DDR vom 17. Mai 1990, der die Versorgung mit Energie und Gas zu den Selbstverwaltungsaufgaben der Gemeinden erklärt. Das Gesetz räumt den Gemeinden das Recht ein, die zur Durchführung ihrer Aufgaben nötigen Unternehmen zu gründen, zu übernehmen, zu erweitern und zu unterhalten sowie Konzessionsverträge abzuschließen, wenn dadurch die Erfüllung der Gemeindeaufgaben nicht gefährdet ist und die berechtigten wirtschaftlichen Interessen der Gemeinde und ihrer Einwohner gewahrt bleiben. Damit wurde den Gemeinden das prinzipielle Recht zugesprochen, sich zwischen einer Fremd- und einer Eigenversorgung zu entscheiden. Auch das Treuhandgesetz vom 17. Juni 1990 schrieb in § 1 Absatz 1 Satz 3 fest, Gemeinden und Städten sei jenes ehedem volkseigene Vermögen zu übertragen, das zur Sicherung der kommunalen Aufgaben notwendig ist. Schließlich bestimmt das Kommunalvermögensgesetz vom 6. Juli 1990, daß Städte und Gemeinden die "ehemals volkseigenen Anteile" an Betrieben und Einrichtungen zugesprochen bekommen, die nach den Grundsätzen des Kommunalvermögensgesetzes in kommunales Eigentum zu überführen sind. Für Interpretationsspielraum sorgt dabei jedoch die Regelung, übertragen würden "Anteile" an den inzwischen in Kapitalgesellschaften umgewandelten Unternehmen. Umstritten ist, ob Städte und Kommunen damit Ansprüche auf gegenständliche Übereignung örtlicher Versorgungseinrichtungen oder nur auf Übernahme von Gesellschaftsanteilen erhalten haben.

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Der Einigungsvertrag schränkt allerdings die kommunalen Besitzansprüche auf dem Gebiet der Elektrizitätsversorgung ein. Zwar bleibt das Kommunalvermögensgesetz der DDR in Kraft, doch Anlage II Kapital IV Abschnitt III/2 des Einigungsvertrages setzt die Maßgabe, daß Städte, Gemeinden und Landkreise zusammen jeweils nur höchstens 49 Prozent der Kapitalbeteiligungen an den regionalen Versorgungsunternehmen halten dürfen. Damit sucht der Einigungsvertrag die im Stromvertrag festgeschriebene Mehrheit für die westdeutschen Energieversorgungsunternehmen zu gewährleisten.

Die Bundesregierung verteidigt diese Regelung mit dem Argument, die westdeutschen Unternehmen würden die Kosten für die Sanierung der Stromwirtschaft übernehmen und könnten angesichts des hohen Aufwands für die Sanierung der Braunkohlenkraftwerke nur dann einen Strompreis auf dem Niveau der alten Länder halten, wenn sie sämtliche Rationalisierungsmöglichkeiten ausschöpfen würden. Dazu sei die unternehmerische Führung nötig. Außerdem räume der Stromvertrag den großen westdeutschen Energieversorgern ein Rücktrittsrecht ein, falls die Beteiligungsmehrheit nicht zu gewährleisten sei. Ein Rückzug dieser Unternehmen hätte jedoch schwerwiegende Folgen für die zukünftige Energieversorgung in den neuen Ländern. Kritiker des Stromvertrages verweisen dagegen darauf, daß die festgeschriebenen Besitzverhältnisse den Aufbau dezentralisierter leistungsfähiger Versorgungsunternehmen behindern würden und stellen die Vorzüge von Stadtwerken im Rahmen einer energiewirtschaftlichen Arbeitsteilung zwischen überregionalen, regionalen und kommunalen Versorgungsunternehmen heraus.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2002

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