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[Seite der Druckausgabe: 14 / Fortsetzung]

3. Arbeitslosigkeit aus der Sicht der Betroffenen

Die Lebenssituation Arbeitslosigkeit aus der Sicht der Betroffenen war Gegenstand eines Beitrages des Präsidenten des Arbeitslosen-Verbandes Deutschlands. Ausgangspunkt seiner Überlegungen war ein aktuelles Szenario über die Entwicklung der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern, das von der Beratungsfirma McKinsey erstellt wurde. In diesem vertraulichen Gutachten wird prognostiziert, daß die Zahl der Arbeitslosen im Verlauf des Jahres 1991 auf ein Niveau von über 4 Mio. anwachsen werde.

Angesichts dieser Entwicklungsperspektive ergeben sich für den Verband der Arbeitslosen Deutschlands folgende politische Handlungserfordernisse:

  • Die politischen Entscheidungsträger sollten dazu übergehen, die ökonomische Lage in den neuen Bundesländern in der Öffentlichkeit realistisch einzuschätzen. Das Wecken von falschen Hoffnungen bei den Betroffenen über die Länge der bevorstehenden "Durststrecke"]

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    hat in vielen Fällen zu Verunsicherungen, Frustrationen und letztlich auch Depressionen geführt. Diese verständlichen Stimmungslagen wirken insofern kontraproduktiv, als es jetzt vorrangig darum gehen müßte, bei den Betroffenen Optimismus im Zusammenhang mit dem Wiederaufbau zu fördern. Individueller Optimismus kann jedoch nur nachhaltig stabilisiert werden, wenn er an konkrete Arbeits- und Lebensperspektiven gekoppelt ist.

  • Konkrete Arbeits- und Lebensperspektiven eröffnen heißt aber auch, daß sich die politischen Entscheidungsträger feinfühlig mit den psychischen und sozialen Befindlichkeiten der Arbeitslosen in den neuen Bundesländern auseinandersetzen müssen. Dies ist dringend geboten, da zum Teil sozialisationsbedingt andere Wertvorstellungen bei den Menschen im östlichen Teil Deutschlands vorherrschen. Zwar liegen aus den alten Bundesländern vielfältige Erfahrungen über die langjährig praktizierte psycho-soziale Betreuung mit Arbeitslosen vor, ob aber angesichts unterschiedlicher Wertesysteme und der daraus folgenden individuellen Verarbeitungsmuster die angebotenen institutionalisierten Bewältigungsstrategien und -hilfen ebenso erfolgreich greifen wie in den alten Bundesländern, bleibt gegenwärtig mehr als offen. In diesem Zusammenhang bleibt auch unverständlich, daß in der Öffentlichkeit immer wieder kolportiert wird, daß es lediglich kurzfristiger "kognitiver" und "mentaler" Umorientierung bei den Arbeitslosen bedarf, um die individuell notwendigen Anpassungsleistungen an neue gesellschaftliche Bedingungen und Regulationsmuster zu erbringen. Jeder, der sich mit den vielfältigen Problemlagen von Arbeitslosen auseinandergesetzt hat, muß dies als zynisch empfinden, zumal für die ostdeutschen Arbeitslosen die Situation dadurch gekennzeichnet ist, daß der massiv erfahrene lebensbiographische Bruch zugleich mit dem Zusammenbruch des gesellschaftlichen Modells "DDR" einschließlich seines Werte- und Normensystems einhergeht. Diese doppelte Betroffenheit wirkt für den Einzelnen sehr belastend. Deshalb ist es erforderlich, mit viel Verständnis diese Situation aufzuarbeiten und gemeinsam mit den Betroffenen nach neuen Orientierungen zu suchen.

  • Aktive Arbeitsmarktpolitik zu betreiben ist sicherlich eine sinnvolle und auch unumgängliche Strategie, um den drohenden Kollaps am Arbeitsmarkt sozialverträglich abzufedern. Aktive Arbeitsmarktpolitik

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    mit ihren Instrumenten kann aber nur temporär eine beschäftigungspolitisch wirksame Entlastung bringen, sie ist kein Ersatz für eine langfristige Beschäftigungspolitik, zumal ihr über kurz oder lang, so steht zu befürchten, finanzpolitische Grenzen im Rahmen der angespannten Haushaltslage gesetzt werden müssen.

  • Im Zusammenhang mit dem Instrument der Qualifizierung ist immer wieder zu hören, daß die Qualifizierungsbereitschaft ostdeutscher Erwerbsloser gering ausgeprägt ist. Neben einkommensbezogenen Motivationsbarrieren wirken aber noch andere Aspekte auf die Qualifizierungsbereitschaft. Als Ergebnis von Tausenden von Beratungsgesprächen, die der Arbeitslosenverband monatlich mit Arbeitslosen führt, kann festgestellt werden, daß ein Interesse für Weiterbildung von mindestens 80 Prozent der Arbeitslosen bekundet wird. Es ist den Arbeitslosen aber nicht zu verdenken, daß sie ihr Interesse an erkennbare individuelle Perspektiven angeknüpft haben wollen, und wenn diese Perspektiven nicht vorhanden sind, liegt es in der Logik des rationalen Denkens des ehemaligen DDR-Bürgers, daß seine Qualifikationsbereitschaft absinkt, so der Vertreter des Arbeitslosenverbandes. Makabere Züge nimmt es für ihn an, wenn hochqualifizierten Akademikern (z.B. Ärzten) und Wissenschaftlern angeboten wird, die Zeit innerhalb der Warteschleife im Öffentlichen Dienst für eine berufliche Umschulung zu nutzen.

  • Das Versprechen freiheitlicher, demokratischer Ordnung nach den Prinzipien sozialer Marktwirtschaft bedeutet für die Arbeitslosen in Ostdeutschland aus der Sicht des Arbeitslosenverbandes mehr Wohlfahrtsstaatlichkeit zu realisieren. Dies heißt konkret die Entwicklung von angepassten Systemen der Dynamisierung der finanziellen Unterstützungsleistungen für Arbeitslose, in deren Konsequenz es zu vermehrten finanziellen Transferleistungen von West nach Ost kommen muß. Es entspricht dabei nicht nur dem Prinzip der Gerechtigkeit, daß Steuermehreinnahmen, die durch den Absatz von Waren aus den alten Bundesländern in der ehemaligen DDR entstehen, nicht in die alten Bundesländern zurückfließen dürfen, sondern in den neuen Bundesländern investiert werden müssen, zumal das gegenwärtige Investitionsvolumen der Privatwirtschaft nicht ausreicht, den Niedergang am Arbeitsmarkt aufzuhalten.

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  • Aus der Sicht der Arbeitslosen ist zu fordern, daß sich alle gesellschaftlich relevanten Gruppen, der Bund, die Länder und die Gemeinden, die Privatwirtschaft und die Treuhand zusammensetzen und ein tragfähiges Konzept (wie z.B. durch die Landesregierung Brandenburg realisiert) zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und seiner tiefgreifenden sozialen und ökonomischen Folgen verabschieden. Eingebunden werden müßte ein derartiges Konzept in eine langfristige Strategie der ökonomischen, ökologischen und sozialen Erneuerung, in der traditionelle Instrumente der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik, der Regional- und Strukturpolitik mit unkonventionellen sozialpolitischen Maßnahmen zusammenwirken können. Nur so ließe sich der bereits in Konturen erkennbare Weg einer Verarmung ganzer Regionen in den neuen Bundesländer aufhalten. Besonderes Augenmerk wäre bei allen Aktivitäten auf diejenigen unter den Arbeitslosen zu richten, die die höchsten Risikobelastungen am Arbeitsmarkt tragen.

© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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