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[Seite der Druckausgabe: 3]

l. Von der Mangelwirtschaft zur Wegwerfgesellschaft ? Das Abfallaufkommen in den neuen Ländern

Die Mangelwirtschaft des realen Sozialismus zwang die Menschen dazu, ihre Gebrauchsgegenstände möglichst lange zu nutzen, sie immer wieder zu reparieren und die weiter verwendbaren Teile ausgedienter Produkte aufzuheben. Aber mit dem. was niemand mehr brauchen konnte und deshalb keiner mehr haben wollte, machte man es sich mitunter einfach. Bis in das Jahr 1990 hinein wurden Abfälle zum Teil auf offenen Flächen verbrannt. Mancher Betrieb sparte Kosten, indem er seinen schadstoffhaltigen Müll unsachgemäß auf dem Betriebsgelände lagerte. Und vielfach wurden Hausmüll, Bauschutt, ja selbst Gewerbeabfälle kurzerhand in die Landschaft gekippt.

Nach bisherigen Schätzungen sollen in der ehemaligen DDR jährlich rund 3,6 Millionen Tonnen fester Siedlungsabfälle angefallen sein, davon 2,9 Millionen Tonnen Hausmüll sowie 0,7 Millionen Tonnen Sperrmüll, Straßenkehricht und ähnliches. Zwar standen für die Lagerung dieses Mülls 120 geordnete Deponien sowie rund 1000 kontrollierte Ablagerungen zur Verfügung, doch allein im Land Brandenburg gab es rund 2000, in der gesamten ehemaligen DDR etwa 10 000 wilde Müllkippen, bei denen einfachste Sicherungsmaßnahmen wie Einzäunungen, Mengenerfassungen und Eingangskontrollen fehlten. Man kann zwar davon ausgehen, daß die meisten dieser Kippen nur Bauschutt oder andere vergleichsweise harmlose Abfälle enthalten, aber um gegenwärtige und zukünftige Gefährdungen durch eingelagerte Umweltgifte auszuschließen, müssen heute alle wilden Ablagerungen erfaßt, untersucht, bewertet und gegebenenfalls rasch saniert werden. Da selbst bei geordneten und kontrollierten Ablagerungen Umweltsicherungen, wie zum Beispiel die Sammlung und Aufbereitung von Sickerwasser, fehlen, geht auch von den offiziell betriebenen Anlagen eine nach dem Stand der modernen Entsorgungstechnik nicht hinzunehmende Umweltgefährdung aus. Das gilt auch für die einzige Anlage für die Hausmüllverbrennung, denn die rund 90 000 Tonnen Abfall pro Jahr verbrennende Anlage in Berlin-Lichtenberg arbeitet ohne Rauchgaswäsche.

Von den rund 90 Millionen Tonnen industrieller Abfälle, die jährlich in der DDR anfielen, wurden rund 40 Prozent als Sekundärrohstoffe wiederverwertet. Der Rest befindet sich im wesentlichen auf Deponien, überwiegend auf

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einer der über 2000 betriebseigenen Anlagen, von denen 600 für schadstoffhaltige Abfälle, 200 für Schadstoffe und 4 für Gifte zugelassen waren. Unter den industriellen Abfällen galten 1,3 Millionen Tonnen als toxischer und schadstoffhaltiger Müll, der in besonderen Anlagen zu entsorgen war. Der größte Teil dieses "Sondermülls" - pro Jahr 1,1 Millionen Tonnen - hatte man deponiert, zumeist in betriebseigenen Einrichtungen. Je 0,1 Millionen Tonnen wurden verbrannt oder in Entgiftungsanlagen behandelt.

Die weltweit sauberste Sondermüllverbrennungsanlage - mit westlichem Know-how und Kapital im brandenburgischen Schöneiche errichtet - entsorgte mit ihrer gesamten Verbrennungskapazität von jährlich 15 000 Tonnen Feststoffen und 5000 Kubikmeter Flüssigkeit West-Berliner Sondermüll.

Weder die meisten anderen Verbrennungsanlagen, noch Deponien für den Industriemüll noch Anlagen zur chemisch-physikalischen Abfallbehandlung entsprechen den heute üblichen technischen Standards. So lagern gefährliche Industrieabfälle wie chlorierte Kohlenwasserstoffe in Restlöchern des Braunkohlentagebaus, zum Beispiel im Raum Bitterfeld/Wolfen, wo in zehn ehemaligen Tagebauen über 380 000 Tonnen Industriemüll pro Jahr abgeladen wurden, darunter mehr als 11 000 Tonnen Gift- und Schadstoffe.

Da die Klassifizierung von "toxischen und schadstoffhaltigen Abprodukten" nicht nach den in der Bundesrepublik geltenden Bestimmungen für Sondermüll erfolgte, ist zu befürchten, daß rund
5 Millionen Tonnen des pro Jahr deponierten Industriemülls Abfall war, der aus heutiger Sicht dem Sondermüll zuzurechnen ist.

Neben den bisher bekannten Müllablagerungen gefährden viele tausend weitere Flächen mit Altlasten Mensch und Umwelt. Ehedem genutzte Kippen und Deponien, stillgelegte und dann nicht fachgerecht beseitigte Betriebe und Industrieanlagen sowie ehemaliges Militärgelände bergen chemische und biologische Zeitbomben. Allein im Land Brandenburg wurden bisher 3500 Flächen mit Altlastenverdacht gezählt, vermutet werden über 5000. Eine vorläufige Bestandsaufnahme für das gesamte Gebiet der neuen Länder ergab nahezu 28 000 Flächen mit Verdacht auf Altlasten, darunter 11 000 Altablagerungen, rund 15 000 Altstandorte, 700 Rüstungsaltlasten und rund l000 großflächige Bodenvergiftungen. Zu befürchten ist. daß damit nur rund 60

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Prozent der Flächen erfaßt sind, die den Boden verseuchen, mit Gasausdünstungen die Luft belasten und mit Sickerwasser das Grundwasser vergiften.

Aber nicht nur der allzu billig "entsorgte" eigene Müll belastet die Umwelt auf dem Gebiet der neuen Bundesländer. Um sich eine verläßliche und berechenbare Devisenquelle zu erwirtschaften, nahm die ehemalige DDR ab, was im Westen nicht mehr untergebracht werden konnte. Allein im Jahre 1988 karrten Fahrzeuge aus der Bundesrepublik rund 2,2 Millionen Tonnen Abfälle über die deutsch-deutsche Grenze, neben Hausmüll und hausmüllähnlichen Gewerbeabfällen auch über
680 000 Tonnen Müll, der aufgrund seiner giftigen Inhaltsstoffe besonders zu überwachen war. Hinzu kamen über 4 Millionen Tonnen Bodenaushub, Bauschutt und Baggergut aus West-Berlin.

Neben den Lasten aus der Vergangenheit müssen die neuen Länder das Anwachsen der Müllflut seit Einführung der Währungsunion verkraften. Das erweiterte Warenangebot, Nachholbedürfnisse beim Konsum von "Westwaren" und die zum Teil aufwendigen Verpackungen von Produkten der Wohlstandsgesellschaft füllen die Mülltonnen der Bürger in den neuen Ländern nunmehr genauso schnell wie anderenorts in der Bundesrepublik. Während vor der demokratischen Revolution im Herbst 1989 das Hausmüllaufkommen in der früheren DDR bei 180 kg pro Kopf und Jahr lag, schnellte es im Laufe des Jahres 1990 annähernd auf das Niveau der alten Bundesländer hoch, das etwa beim Doppelten liegt.

Mit dem gleichzeitigen Zusammenbruch des in der DDR aufgebauten Systems zur Sammlung von Wertstoffen aus dem Haus- und Gewerbemüll verschärfte sich der Müllnotstand. Um knappe Rohstoffe zu schonen und Devisen für den Rohstoffeinkauf zu sparen, wurde in der ehemaligen DDR das Kombinat Sekundärrohstoffe (Sero) gegründet, das über ein Erfassungsnetz von 16 100 Annahmestellen und rund 50 000 aufgestellten Containern Altstoffe möglichst sortenrein sammelte und verwertete. So gab die Bevölkerung der damaligen DDR zum Beispiel 1988 rund 1,9 Millionen Tonnen Schrott, Glas, Textilien, Küchenabfälle, Altöl, Altpapier, Pappen und anderes verwertbares Material an den Sammel- und Annahmestellen von Sero ab.

Da die Altstoffe nur einen Bruchteil der Kosten einbrachten, die Sammlung, Transport und Aufbereitung verursachten, arbeitete Sero nicht wirtschaftlich.

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Alleine im Jahre 1990 mußte das System mit 108 Millionen Mark gestützt werden, darunter mit 40 Millionen DM seit der Währungsunion. Sero kann daher nicht als Modell für eine zukunftsweisende Müllverwertung angesehen werden. Die Aufrechterhaltung dieses Subventionsunternehmens "lohnte" sich nur, weil man in der unter Devisenmangel leidenden DDR eher bereit war, unproduktiv zu arbeiten als knappe Devisen an das Ausland zu zahlen.

Wie sich das weitere Müllaufkommen in den neuen Bundesländern entwickeln wird, ist heute schwer vorherzusehen, insbesonders bei industriellen und gewerblichen Abfällen. Die früher erhobenen Daten sind unvollständig und spiegeln falsche Angaben über das Müllaufkommen und über den Verbleib des Mülls aus Betrieben und Gewerben wider. Zudem erlauben die gewaltigen Umstrukturierungen in der Wirtschaft keine verläßlichen Prognosen über die Entwicklung einzelner Industrie- und Gewerbezweige, und damit auch nicht über das zukünftige Abfallaufkommen.

Es ist jedoch anzunehmen, daß mit der verständlicherweise ersehnten Annäherung an den Lebensstandard der alten Bundesrepublik der Müllberg zunächst wächst. Während man in der Mangelwirtschaft gezwungen war, langlebige Gebrauchsgegenstände zu schonen, zu pflegen und immer wieder zu reparieren, beschleunigen Überflußproduktion, Moden und nicht zuletzt künstliche Alterung den Weg vieler Produkte auf den Müll. Daß dabei der Müllkollaps droht, zeigt sich, wenn man hinter die glitzernde Fassade der alten bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft schaut.

In den alten Bundesländern fallen jährlich rund 250 Millionen Tonnen zu entsorgender Abfall an, davon etwa 30 Millionen Tonnen Hausmüll und hausmüllähnliche Abfälle wie Marktabfälle, Straßenkehricht, Sperrmüll, Büro- und Kantinenabfälle und andere mit dem Hausmüll vergleichbare Reststoffe aus Gewerbebetrieben. Den größten Anteil am Müllaufkommen haben Produktionsabfälle mit rund 220 Millionen Tonnen, zu rund 50 Prozent Bodenaushub, Bauschutt und Straßenaufbruch und zu rund 31 Prozent Bergematerial aus dem Bergbau. Der Rest besteht aus hausmüllähnlichen Gewerbeabfällen (5 bis 6 Millionen Tonnen) und dem in engerem Sinne produktionsspezifischen Müll (35 Millionen Tonnen), von dem wiederum rund 10 Millionen Tonnen als Sondermüll einzustufen sind. Zu diesen besonders gesundheits-, wasser- oder luftgefährdend, explosiblen oder brennbaren Abfäl-

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len, die nicht über den Hausmüll entsorgt werden dürfen, gehören zum Beispiel schwefel- und ölhaltige Rückstände, Aschen und Schlacken aus der Müllverbrennung, Lack- und Farbabfälle, Filtermassen, organische Lösungsmittel und Galvanikabfälle.

Rund 70 Prozent des jährlich in den alten Bundesländern anfallenden Hausmülls türmt sich auf einer der über 330 Hausmüllanlagen, der Rest wird zum überwiegenden Teil in den 47 Großverbrennungsanlagen verfeuert, etwa 2 Prozent des Hausmülls gehen in die Kompostierung.

Während Großbetriebe mit einem hohen Abfallaufkommen oder mit gleichförmigen Abfallströmen ihre Abfälle häufig in betriebseigenen Anlagen verbrennen, aufbereiten oder deponieren, nutzen kleinere und mittlere Betriebe sowie Großbetriebe mit geringem Abfallaufkommen die Dienstleistungen spezialisierter Unternehmen. Rund zwei Drittel der in der Produktion entstehenden Abfälle werden daher an Dritte zur außerbetrieblichen Entsorgung abgegeben. Der Rest wird entweder in betriebseigenen Anlagen deponiert oder verbrannt, dem Altstoffhandel übergegeben oder der Weiterverarbeitung zugeführt. Auch der in den Betrieben anfallende Sondermüll wird zum Teil vor Ort verbrannt, zum Teil wird dieser Abfall chemisch-physikalisch oder biologisch aufbereitet, in Sondermülldeponien eingelagert oder ins Ausland verfrachtet. Vor allem Belgien, Frankreich und die Niederlande nehmen zur Zeit Sondermüll aus der Bundesrepublik ab, zusammen mehrere hunderttausend Tonnen pro Jahr.

Dieser Müllexport ist ein Vorbote des drohenden Notstands in der Sondermüllbeseitigung. Die gesamte Verbrennungskapazität für Sondermüll beträgt in den alten Ländern rund 750 000 Tonnen jährlich, 40 Prozent davon leisten sechs öffentlich betriebene Anlagen. Gemessen am heutigen Aufkommen fehlen allein in den alten Bundesländern bei der Sondermüllverbrennung bereits Jahreskapazitäten von rund 1,1 bis 1,2 Millionen Tonnen. Und dabei ist mit einem weiteren Anstieg der Mengen an besonders überwachungsbedürftigen Abfällen zu rechnen, denn auch die Luft - und Wasserreinhaltung, die Altlastensanierung und nicht zuletzt die angestrebte Entfrachtung des Hausmülls von Problemstoffen tragen zu einer Ausweitung des Sondermüllaufkommens bei.

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Auch der Hausmüllbeseitigung droht der Infarkt, denn viele Hausmülldeponien stoßen bald an ihre Aufnahmegrenzen. Bei unverändertem Aufkommen an Hausmüll und hausmüllähnlichen Abfällen wird in den nächsten fünf Jahren rund 50 Prozent der Deponiekapazität in den alten Ländern erschöpft sein. Nach heutigem Planungsstand ist kein Ersatz für diese ausfallenden Kapazitäten abzusehen, nicht zuletzt auch deshalb, weil die Bevölkerung sich gegen die Errichtung neuer Deponien wehrt.

Die Abfallwirtschaft der alten Bundesländer stellt daher kein Modell für den Aufbau einer zukunftsweisenden Entsorgung in den neuen Länder dar. Vielmehr gilt überall in der Bundesrepublik, daß sich langfristig überlebensfähige und umweltgerechte Wirtschaftsstandorte nur sichern lassen, wenn die herkömmlichen nachsorgenden Strategien des Müllabfahrens und -beseitigens von vorsorgenden Vermeidungs- und Verwertungsbemühungen zurückgedrängt werden.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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