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6. Zusammenfassung und Ausblick: Drohender Verkehrskollaps in ostdeutschen Städten erfordert zwingend mutige politische Entscheidungen und rasches, wirkungsvolles Handeln

Bei freier Entfaltung der Motorisierung und Übernahme der verkehrspolitischen Rahmenbedingungen der alten Bundesländer ist damit zu rechnen, daß im Ostteil Deutschlands in kurzer Zeit westdeutsche Verkehrsverhältnisse bestehen. Die negativen Konsequenzen einer solchen Entwicklung für Umwelt, Sicherheit, Städtebau und Urbanität müssen durch verkehrsplanerische und verkehrspolitische Aktivitäten verhindert werden.

Derzeit befindet sich das ostdeutsche Stadtverkehrssystem in qualitativer, überwiegend aber auch in quantitativer Hinsicht in einem schlechten Zustand: Auf der einen Seite ist der Bedienungsstandard des ÖPNV völlig unzureichend - auf der anderen Seite sind der Ausbau und die Instandhaltung des Straßennetzes jahrzehntelang vernachlässigt worden.

Notwendig ist eine umfassende Sanierung der gesamten Verkehrsinfrastruktur, die Milliardenbeträge erfordern wird. Ziel muß es dabei sein, die günstige Ausgangslage ostdeutscher Städte mit ihren relativ niedrigen Autoverkehrsanteilen zu stabilisieren und den Stadtverkehr als Instrument zur Erhaltung von Innenstadtstrukturen einzusetzen. Das bedeutet einmal eine konsequente Eindämmung des Pkw-Verkehrs auf das für die Stadt notwendige und unverzichtbare Ausmaß. Zum anderen muß der ÖPNV im Hinblick auf Verkehrswege und -anlagen, Fahrzeuge und Verkehrsleittechnik modernisiert werden. Ergänzend sind Fußgänger und Radfahrer als umweltfreundliche Verkehrsteilnehmer, die einen erheblichen Teil des unerwünschten Autoverkehrs substituieren können, verstärkt zu fördern.

Diese Zielsetzung hat Konsequenzen für den Straßenbau in den ostdeutschen Städten. Hierbei kann die in den alten

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Bundesländern propagierte Devise "keine Erweiterung des Straßennetzes" nicht übernommen werden. In den Beitrittsländern bleiben wegen der erheblichen Rückstände der Infrastruktur Netzergänzungen neben den unverzichtbaren Instandsetzungsmaßnahmen erforderlich. Die entsprechenden Investitionen sind aber weniger unter verkehrstechnischen als unter städtebaulichen Aspekten durchzuführen; sie sollten in erster Linie einer umwelt- und stadtverträglichen Verkehrsverteilung und nicht der Kapazitätserweiterung dienen.

In diesem Zusammenhang ist auf den Zeitfaktor hinzuweisen:

Erfahrungsgemäß haben Straßenbauprojekte Planungs- und Umsetzungszeiträume von mehr als 10 Jahren. Sie stellen keine rasche Linderung der Verkehrsnot der ostdeutschen Gemeinden in Aussicht, sondern sind erst dann abgeschlossen, wenn es im Grunde bereits zu spät ist. Aus dieser Situation darf aber nicht die Forderung nach einem völligen Verzicht auf Straßenneubau abgeleitet werden; vielmehr verdeutlicht sie eindringlich den Bedarf an rasch wirksamen Maßnahmen.

Das sprunghafte Wachstum der Verkehrsnachfrage erfordert auch eine Auseinandersetzung mit den Problemen des ruhenden Verkehrs. Aufgrund der bestehenden Defizite werden in den neuen Bundesländern zweifelsfrei zusätzliche Parkraumkapazitäten benötigt. Hierbei gilt es aber, die in westdeutschen Städten in diesem Bereich gemachten Fehler zu vermeiden; das bedeutet u.a., daß in Innenstädten kein Parkhaus gebaut und das Parken auf Gehwegen verboten werden sollte. Sinnvoll erscheinen flächendeckende Parkraumbewirtschaftungskonzepte, die ein wesentliches Element einer auf Verbesserungen der Lebens- und Umweltqualität ausgerichteten Stadtverkehrsplanung bilden.

Beim ÖPNV hat die Lösung der mit der Privatisierung der Verkehrsbetriebe zusammenhängenden Probleme, für die bislang keine Lösungen in Aussicht sind, höchste Priorität;

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dabei sind aus den staatlich gelenkten Verkehrskombinaten eigenständige regionale Nahverkehrsgesellschaften mit hoher Leistungsfähigkeit zu bilden. Weiter muß verhindert werden, daß Kunden durch Angebotsverschlechterungen und Fahrpreiserhöhungen verloren gehen. Dringend erforderlich sind Attraktivitätsverbesserungen, die zunächst weniger auf Leistungsausweitungen als auf Qualitätserhöhungen ausgerichtet werden sollten. Die dringend notwendigen Korrekturen der Rahmenbedingungen für den ÖPNV erfordern mutige Entscheidungen der Politiker, durch die den Städten rasch die für den Ausbau des Stadtverkehrs benötigten finanziellen Mittel zur Verfügung gestellt werden, und die u.a. auf eine Anpassung der Investitionspolitik für den motorisierten Individualverkehr (z.B. P + R-Anlagen; keine parallelen oder kontraproduktiven Investitionen) und auf ordnungspolitische Maßnahmen (z.B. Belastung des Individualverkehrs mit den Folgekosten; steuerliche Gleichbehandlung aller Verkehrsteilnehmer mittels Entfernungspauschale) abzielen.

Ein akuter Handlungsbedarf besteht an Soforthilfemaßnahmen zur Sanierung der Verkehrsinfrastruktur. In diesem Zusammenhang kommt dem Abbau der Defizite eine große Bedeutung zu, die in den neuen Bundesländern in bezug auf die Verkehrssteuerung bestehen. Hierdurch kann kurzfristig und mit relativ geringen Kosten eine bessere Bewirtschaftung der knappen Straßenflächen erreicht werden. Wichtig ist dabei, daß den öffentlichen Verkehrsmitteln bei der Nutzung der verkehrslenkenden und
-ordnenden Instrumente eine Priorität eingeräumt wird.

Ein hoher Stellenwert kommt der Vernetzung der verschiedenen Verkehrs Systeme zu, der bislang zu wenig Beachtung geschenkt wurde. Bei der Lösung der Verkehrsprobleme im Ostteil Deutschlands geht es nicht um eine völlig Abkehr vom Auto und nur um die Förderung von Alternativen zum motorisierten Individualverkehr. Vielmehr ist in einem kooperativen Verkehrsmanagement eine Aufgabenteilung zwi-

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schen Pkw-Verkehr und öffentlichem Verkehr anzustreben, bei der die Vorteile beider Verkehrsträger kombiniert werden; hierbei sind primär Verkehrsinformations- und
-leitsysteme in Verbindung mit P + R-Anlagen einzustzen. Bei der Entwicklung entsprechender Verkehrskonzeptionen, bei der die Besonderheiten der jeweiligen Stadt zu beachten sind, sollten alle gesellschaftlichen Gruppen, die in Sachen Verkehr Verantwortung tragen - also Politiker aus Bund, Ländern und Gemeinden, Vertreter der Verkehrsträger und der Automobilclubs, Stadtplaner und Gewerkschaften -, mitwirken.

Insgesamt kann festgestellt werden, daß die Verkehrsverhältnisse in den ostdeutschen Städten durch einen hohen und weiter wachsenden Problemdruck gekennzeichnet sind. Notwendig erscheinen mutige politische Entscheidungen und deren rasche, wirkungsvolle Umsetzung. Hierdurch kann der drohende Verkehrsinfarkt vermieden und das Abwandern zum Individualverkehr abgebremst werden. Eine Schlüsselrolle kommt der Priorisierung des ÖPNV innerhalb integrierter Verkehrssysteme zu. Handlungskonzepte für die Lösung der Verkehrsprobleme im Ostteil Deutschlands, die auch die Belange der Bürger und des Umweltschutzes berücksichtigen, gibt es zu genüge - erforderlich bleibt ihre konsequente Verwirklichung ohne lange Verzögerungen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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