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1. Der Arbeitsmarkt In den fünf neuen Bundesländern: Auf dem Weg in die Massenarbeitslosigkeit?

Bereits vor dem Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion zum 1. Juli 1990 prognostizierten Arbeitsmarktforscher und Sozialexperten für das Gebiet der ehemaligen DDR erhebliche Beschäftigungseinbrüche. Warnende Stimmen, die auf drohende Massenarbeitslosigkeit und deren soziale Folgeprobleme verwiesen, wurden verharmlost oder als apokalyptische Szenarien diffamiert. Euphorie über die bevorstehende Einigung bestimmte seinerzeit weitgehend das politische Tagesgeschäft.

Spätestens seit dem letzten Quartal 1990 reißen die Schreckensbotschaften in der Presse über den Niedergang der Wirtschaft in den neuen Bundesländern nicht ab. Ernüchterung ist auch durch die monatlich veröffentlichten amtlichen Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit über die Entwicklung des Arbeitsmarktes in den fünf neuen Bundesländern eingetreten. Der Niedergang ganzer Wirtschaftszweige, sprunghaft wachsende Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch oder die Teilliquidierung vieler Betriebe in Verbindung mit der Ankündigung von Massenentlassungen, die katastrophale Finanznot der Länder und Gemeinden sind u.a. Ausdruck der Anpassung an die Bedingungen der Marktwirtschaft. Vor dem Hintergrund massiv steigender Beschäftigungsprobleme wird deutlich, daß ein erheblicher Handlungsbedarf in der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik besteht. Angesichts der allgemeinen Arbeitsmarktperspektiven muß die Leistungserwartung an die Arbeitsverwaltung an dem gemessen werden, was in ihren Möglichkeiten liegt. Niemand kann von ihr erwarten, so ein ehemaliger Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, daß sie originär Arbeit schafft. Das ist primär eine Aufgabe der Wirtschaft und der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Zweifellos richten sich viele Hoffnungen auf die aktive Arbeitsmarktpolitik, insbesondere die flankierenden Qualifizierungsanstrengungen zum notwendigen industriellen Modernisierungsprozeß. Solange aber u.a. aus den alten Bundesländern in das Beitrittsgebiet mehr geliefert als investiert wird, die Gefahr der Abwanderung von Fachkräften besteht und das Lohn- und Sozialgefälle weiter andauert, kann von der Arbeitsmarktpolitik nicht verlangt werden, die Folgewirkungen der erwähnten Problemkomplexe im Alleingang zum Positiven zu wenden.

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1.1 Beschäftigungsentwicklung und Arbeitsmarkt

Mit der Einführung der DM im Rahmen der Währungsunion am 1.7.1990 erlebte die DDR einen fast 3OOprozentigen Aufwertungsschub mit der Folge, daß westdeutsche Waren den DDR-Markt überschwemmten, während DDR-Produkte im Ausland nicht mehr zu verkaufen waren. Im Jahresvergleich zwischen 1989 und 1990 ist die Industrieproduktion in der ehemaligen DDR um fast die Hälfte gesunken. Das Bruttosozialprodukt verzeichnete einen realen Rückgang um 20 Prozent. Für das Jahr 1991 wird der Rückgang der Industrieproduktion um weitere 10 Prozent prognostiziert. Diese dramatischen Einbrüche haben bzw. werden deutliche Spuren am Arbeitsmarkt hinterlassen. Der wirtschaftliche Strukturwandel in den fünf neuen Bundesländern vollzieht sich gegenwärtig auf drei Ebenen:

  • in den Wandlungsprozessen von der zentralistischen Planwirtschaft zur sozialen Marktwirtschaft;

  • im sektoralen, regionalen und branchenspezifischen Strukturwandel und auf

  • betrieblicher Ebene als Prozeß der Konversion und Modernisierung.

Der Vergleich der Beschäftigtenstruktur auf Basis des Jahres 1987 zeigt, daß die Verteilung der Beschäftigten in der ehemaligen DDR, differenziert nach den Wirtschaftsbereichen Land- und Forstwirtschaft, Produzierendes Gewerbe, Handel und Verkehr und Dienstleistungen (einschließlich des Öffentlichen Dienstes), dem Niveau der BRD im Jahre 1967 entspricht. Mit diesem Vergleich ist angezeigt, daß in den nächsten Jahren ein enormer Strukturwandel in der ehemaligen DDR stattfinden wird, wenngleich damit nicht verbunden werden kann, daß sich der Strukturwandel gleichförmig wie in der BRD vollziehen wird. Eckpunkte und Koordinaten des Strukturwandels sind jedoch deutlich erkennbar. Das Ifo-Institut hat im Rahmen einer Strukturanalyse ermittelt, daß die zukunftsträchtigen Branchen generell im Dienstleistungsbereich und in Teilen im warenproduzierenden Gewerbe liegen werden. Zu den Branchen, die sich im deutlichen Abwärtstrend bewegen, zählen die Bereiche Textil- und Bekleidungsindustrie, Bergbau, Energie, Teile der Chemie, die Landwirtschaft und der Schiffsbau. Die Überlebenschancen einzelner Industriezweige werden u.a. durch die Faktoren "Wettbewerbsfähigkeit", "Technologieausstattungsniveau", "Marktperspektive" und "Umweltverträglichkeit" mitbestimmt sein. Bereits im März 1990 hatte das

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Wirtschaftskomitee der ehemaligen DDR in einer Arbeitskräftebilanz die Arbeitsplatzverluste infolge des Strukturwandels in Höhe von 1,1 bis 1,3 Mio. errechnet.

Dieser globale Datenkranz zeigt seine besondere Brisanz auf regionaler Ebene. Ähnlich den Problemlagen des Strukturwandels in den alten Bundesländern in den 80er Jahren, die zur Herausbildung von Problemregionen des Arbeitsmarktes geführt und ein Süd-Nord-Gefälle etabliert haben, wird sich der regionale Strukturwandel in den fünf neuen Bundesländern vollziehen. Infolge regionaler Branchenkonzentrationen wird dies auf die regionalen Arbeitsmärkte mit unterschiedlicher Intensität und Dramatik durchschlagen. So konzentrieren sich z.B. die Beschäftigten in den Problembranchen "Textil- und Bekleidung" zu 70 Prozent auf Sachsen, "Chemie" zu 45 Prozent auf Sachsen-Anhalt und "Energie- und Brennstoff" zu 42 Prozent auf Brandenburg. Für die Richtung und das Tempo des regionalen Strukturwandels sind viele Faktoren entscheidend. Letztlich relevant ist, wie schnell in den belasteten Regionen neue Arbeitsplätze entstehen und wie schnell monostrukturelle Branchenkonzentrationen überwunden werden können.

Der Vizepräsident der Zentralen Arbeitsverwaltung skizzierte die Arbeitsmarktentwicklung in den fünf neuen Bundesländern wie folgt: Im Vergleich zwischen den alten und den neuen Bundesländern ist die Arbeitsmarktentwicklung im zweiten Halbjahr 1990 sehr unterschiedlich verlaufen. Während sich aufgrund konjunktureller Bedingungen der Arbeitsmarkt in den alten Bundesländern positiv entwickelte, wenngleich die Zahl der registrierten Arbeitslosen auf einem hohen Niveau verblieb, haben die starken Strukturanpassungen im Beitrittsgebiet die Beschäftigtenzahlen drastisch sinken lassen. Damit hat sich die Schere in der Entwicklung zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands weiter geöffnet und zu einer Spaltung des Arbeitsmarktes geführt, für die noch kein Ende abzusehen ist. Es bedarf nicht prophetischer Gabe um festzustellen, daß sich unterhalb der generellen arbeitsmarktpolitischen "Spaltungslinie" zwischen West und Ost zunehmend Prozesse etablieren, die zur Strukturalisierung der Arbeitslosigkeit und zur Segmentation des Arbeitsmarktes führen.

Wie aus der Entwicklung des Arbeitsmarktes in den alten Bundesländern bekannt, wird dies für einen Teil der Beschäftigten in der ehemaligen DDR zwangsläufig zu erhöhten Risikobelastungen am Arbeitsmarkt führen. Dauer- bzw. Langfristarbeitslosigkeit und die Herausbildung von "Problemgruppen des Arbeitsmarktes" werden Folgeerscheinungen der

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Arbeitsmarktentwicklung unter den oben genannten Vorzeichen sein. So ist zu konstatieren, daß Betriebe und Kombinate bereits in der ersten Phase des Übergangs die "Chancen" genutzt haben, um Arbeitskräfte zu entlassen, denen sie eine begrenzte Einsatzfähigkeit unterstellten. Dies betrifft insbesondere Frauen, Behinderte, ältere Arbeitnehmer, Jugendliche und Ausländer. Gerade diese Gruppen, so eine Vertreterin der Landesregierung Sachsen, verfügen gegenwärtig über keine Lobby. Damit werden sie zum Spielball einer rigorosen Politik personalpolitischer Selektion, wobei die Betriebe die gegenwärtig vorhandenen rechtsfreien Räume ausnutzen, um insbesondere den Anteil ausländischer Arbeitnehmer mit unfairen Methoden drastisch abzubauen. Als besonders problematisch wurde von ihr auch die Situation der Frauen geschildert. Entsprechend dem in der ehemaligen DDR geltenden Verfassungsgrundsatz, daß Frauen ein Recht auf Erwerbsarbeit haben - was sich auch in der hohen Frauenerwerbsquote niederschlug -, waren die Lebenskonzepte der Frauen weitgehend auch mit der Erwerbsarbeit verkoppelt. Damit konnten die Frauen in der ehemaligen DDR ein gewisses Maß an ökonomischer Unabhängigkeit, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung realisieren, wenngleich dies auch zu erheblichen Problemen in den Familien führte. In Anlehnung an eine neue Untersuchung der TU Magdeburg über die soziale Situation in der Stadt Magdeburg führte sie aus, daß 90 Prozent der befragten Frauen weiterhin arbeiten möchten. Die überproportionale Betroffenheit von Frauen im Zusammenhang mit dem Anstieg der Arbeitslosigkeit macht deutlich, daß Arbeitslosigkeit nicht ohne Auswirkungen auf die tradierten Lebenskonzepte von Frauen bleiben wird. Der Verlust von ökonomischer Autonomie und von Chancen zur Selbstverwirklichung wird sich insbesondere für die Frauen nachteilig auswirken, die außerhalb von städtischen Ballungsgebieten leben und im landwirtschaftlichen Sektor tätig sind (waren). Für diesen Personenkreis sind besondere sozialpolitische und qualifikatorische Maßnahmen zu konzipieren, die die besonderen Problemlagen der betroffenen Frauen berücksichtigen, so das Resümee der Vertreterin der Landesregierung.

Die offiziellen Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit für den Monat Dezember beziffern die Zahl der Arbeitslosen auf ca. 643 Tsd.; Tendenz steigend. Dies entspricht einer Arbeitslosenquote von 7,3 Prozent. Die Arbeitslosenquote bei den Frauen belief sich auf 8,2 Prozent; bei den Männern hingegen nur auf 6,4 Prozent. Die Gesamtzahl der Kurzarbeiter betrug 1,7 Mio. Bezogen auf die vormals 9 Mio. Arbeitsplätze in der ehe-

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maligen DDR bedeutet dies, daß fast jeder dritte Arbeitnehmer arbeitslos ist oder sich in Kurzarbeit befindet.

Modellrechnungen über die Arbeitsmarktentwicklung in den fünf neuen Bundesländern gehen mittlerweile einhellig von einer stark steigenden Arbeitslosigkeit im nächsten und im darauf folgenden Jahr aus. Das Institut der deutschen Wirtschaft rechnet in den Jahren 1991 und 1992 mit einer Arbeitslosenzahl von 1,5 bzw. 1,75 Mio. registrierter Arbeitsloser. Der Präsident der Arbeitgebervereinigung Gesamtmetall hingegen beziffert seine Prognose für 1991 auf 3 Mio. und reiht sich damit in die Prognose des Sachverständigenrates ein.

Besonderer Stichtag für den Arbeitsmarkt wird der 30.6.1991 sein, da zu diesem Zeitpunkt das Kündigungsschutzabkommen in der Metallindustrie ausläuft und die Beschäftigten im Öffentlichen Dienst ihre vorläufige Warteschleife beenden. So sind nach Aussagen des Bundesministeriums für Arbeit 700 Tsd. Arbeitnehmer im Öffentlichen Dienst, 400 Tsd. in der Landwirtschaft, 1,5 Mio. in der Exportindustrie, 220 Tsd. im Bergbau und 550 Tsd. im Metall- und Elektrobereich von Arbeitslosigkeit akut bedroht.

Ungeachtet des Realitätsgehalts von Prognosen bzw. des aktuell erreichten quantitativen Ausmaßes der Arbeitslosigkeit zeichnet sich bereits jetzt ein Trend ab, der die Entwicklung am Arbeitsmarkt in einer Abwärtsspirale beschreibt, wobei die Talfahrt gerade erst aufgenommen wurde und die Geschwindigkeit mittelfristig noch zunehmen wird, denn die wichtigen Entscheidungen über die Privatisierung, Liquidierung und Sanierung von Betrieben und Kombinaten durch die Treuhandanstalt stehen erst noch an. Um die Arbeitsmarktprozesse einigermaßen sozialverträglich abzufedern, steht die staatliche Beschäftigungs-, und Arbeitsmarktpolitik vor ihrer größten Herausforderung, zumal sich immer mehr zeigt, daß private Initiativen allein nicht mehr ausreichen.

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1.2 Aspekte des Übergangs von der zentralen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft

Staatliche Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik muß sich auf Orientierungspunkte und Koordinaten eines Handlungssystems beziehen können. Diese Orientierungspunkte sind im Fall des Übergangs von einer zentral gelenkten Planwirtschaft zur Marktwirtschaft jedoch nicht ohne weiteres erkennbar. Dies liegt u.a. darin begründet, daß es für den Transformationsprozeß keine historischen Vorbilder gibt. Daher sind

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Prognosen, die diesen Prozeß in seinen Wirkungsbreiten antizipieren wollen, mit einem hohen Grad an Unsicherheiten behaftet, zumal es viele Informationsdefizite über die ehemalige DDR gibt. Politische Entscheidungen, die zudem unter starkem Erfolgsdruck stehen, sind deshalb mit einem hohen Risiko im Sinne von Fehlsteuerung versehen.

Gegenwärtig wird in der politischen Diskussion der Transformationsprozeß weitgehend unter der Prämisse der Einführung marktwirtschaftlicher Regulationsformen mit der Flankierung durch arbeitsmarkt- und sozialpolitische Maßnahmen gesehen. Ob diese Maßnahmen eine analoge Wirkung wie in den alten Bundesländern erzielen, bleibt jedoch aus jetziger Sicht fraglich. So wird beispielsweise bereits die bis ursprünglich Juni 1991 geltende und jetzt bis Ende 1991 verlängerte Kurzarbeiterregelung stark kritisiert, da sie zur künstlichen Konservierung alter Strukturen beiträgt und letztlich den erforderlichen Modernisierungs- und Umstrukturierungsprozeß in der Wirtschaft bremst.

Sicher ist, daß der Übergang von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft und der sich damit vollziehende Strukturwandel Arbeitslosigkeit verursacht, da der Abbau alter Arbeitsplätze nicht zeitgleich mit dem Aufbau neuer Arbeitsplätze abläuft. In der notwendigen Übergangsphase ist daher die Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik aufgerufen, Wege und Möglichkeiten zu beschreiten, diesen Umstrukturierungsprozeß zu begleiten.

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1.3 Aktuelle Problemfelder der Beschäftigungs- und Arbeitsmarktpolitik

Beschäftigungspolitik umfaßt Maßnahmen öffentlicher und privater Institutionen, welche die Beschäftigungssituation beeinflussen und darauf gerichtet sind, die vollwertige und qualifikationsadäquate Beschäftigung für alle Arbeitnehmer zu sichern. Dabei soll das Risiko der Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung minimiert und ein angemessenes Einkommen gesichert werden. Beschäftigungspolitik als Arbeitsstrukturförderung zielt global wie regional auf:

  • den Arbeitsmarkt, um Ungleichgewichte, Disparitäten, Strukturalisierungen und Segmentationen auszugleichen;

  • die Arbeitskräfte, um die Berufs- und Qualifikationsstruktur zu beeinflussen und Flexibilität und Mobilität zu fördern;

  • die Arbeitsplätze, um deren langfristige Überlebensfähigkeit und Qualität sicherzustellen.

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Die strukturpolitische Bedeutung der Qualifizierung und Weiterbildung ergibt sich in ihrer präventiven, flankierenden wie kurativen Funktion als Standortfaktor mit den Verknüpfungen zur regionalen Arbeitsmarkt- und Beschäftigungspolitik. In diesem Kontext bedeutet Beschäftigungspolitik-, Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik (global/regional/lokal) in den neuen Bundesländern, daß Maßnahmen ergriffen werden müssen, im Rahmen des Transformationsprozesses auf die Qualifikationsstruktur einzuwirken. Die Qualifikationsstruktur kann:

  • Innovationen stimulieren und zur Ausprägung eines eigenständigen ökonomischen und sozialen Profils regionaler Identität beitragen: die Qualifikationen der Arbeitskräfte bilden ein Reservoir und Potential, von dem vielfältige Impulse auf die Entwicklungsprozesse in der Region ausgehen können;

  • Reibungsverluste beim Strukturwandel gering halten, Innovationsstaus verhindern und Steuerungsaufgaben im Hinblick auf ein qualitatives Wachstum, eine sozialverträgliche Technikgestaltung und humane Arbeitsplatzorganisation wahrnehmen.

In ihrem regionalen Wirkungsfeld bietet die aktive Qualifizierungspolitik die Chance, die Versorgungsdefizite leichter zu ermitteln und Zielvorgaben in Konzepte von nachvollziehbaren Einzelelementen, praktischen Realisierungsschritten und gezieltem Mitteleinsatz umzusetzen. Ungenutzte Spielräume können entdeckt, notwendige Kooperationen ausgemacht, Sickerverluste bzw. Mitnahmeeffekte abgewendet und problemgerechte Lösungswege erleichtert werden. Im Rahmen dieser qualifikatorischen Koordinaten müssen im Rahmen der Beschäftigungspolitik unterschiedlichste Politikbereiche wie die Wirtschafts-, Finanz-, Arbeitsmarkt-, Rechts-, Struktur-, Regional- und Bildungspolitik zusammenwirken.

Die Sichtweise einer präventiven Beschäftigungspolitik in der Verklammerung mit der Arbeitsmarkt- und Qualifizierungspolitik steht jedoch im Widerspruch zu Positionen, die für den Osten Deutschlands einen Strukturcrash mit harter Landung fordern, um nicht die alten Fehler wie beim Wandel des Ruhrgebiets zu wiederholen. Erst der Crash, so die Protagonisten dieses "Sanierungsmodells" würde die schöpferischen Kräfte und Energien für einen Neuaufbau freisetzen. Als zentrales Argument werden die Hypotheken der Planwirtschaft ins Feld geführt, wobei die jetzt auftretende Arbeitslosigkeit als geplatzte Beschäftigungsillusion der

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"Scheinarbeit" und "Stellenpriviligierung" interpretiert wird. So richtig dieses Argument ist, so fatal erscheint jedoch die vorgeschlagene Genesungskur. Eine Strukturpolitik, die in erster Linie nach der Prämisse einer rigorosen Zerschlagung alter Strukturen handelt und den Neuaufbau dem Kräftespiel des Marktes überläßt, läuft Gefahr die sozialen Folgeprobleme zu potenzieren, zumal Bund, Länder und Gemeinden angesichts der bereits jetzt erreichten desolaten Finanzlage dann kaum noch in der Lage wären, die dann entstehenden Kosten der "sozialpolitischen" Abfederung zu finanzieren. Problematisch erscheint ein strukturpolitischer Crashkurs auch deshalb, da mit dieser Entwicklung zwangsläufig auch Forschungs- und Entwicklungs- wie Qualifizierungskapazitäten hiervon tangiert würden. Letztlich bedeutet dies eine hochgradige Gefährdung der für einen Modernisierungsprozeß notwendigen Innovationspotentiale. Wenn diese Abwärtsspirale nicht gestoppt wird, sind die Innovations- und Modernisierungspotentiale der ostdeutschen Industrie durch radikale Kapazitätsreduktionen, Schließung der betreffenden Abteilungen und Betriebe oder die Abwanderung des qualifizierten Personals ernsthaft bedroht - das Gebiet der ehemaligen DDR droht zur Innovationsbrache zu werden. Dies würde eine Perspektive auf Arbeitslosigkeit, Billiglohngebiet durch Traditionalisierung des Produktionsspektrums, Ausdünnung bzw. Abbau von regional bedeutsamen Entwicklungspotentialen eröffnen. Der Staat ist daher gegenwärtig gefordert, eine Industrie- und Strukturpolitik zu betreiben, die die schlimmsten Krisenfolgen abmildert. Das heißt, daß er dort als Investor notwendigerweise auftreten muß, wo sich private Kapitalgeber nicht finden.

Ein Blick auf aktuelle Entwicklungstendenzen in den fünf neuen Bundesländern
im Hinblick auf den Arbeitsmarkt zeigt u.a., daß:

  • eine beschäftigungspolitische Orientierung, die aktuell ihren Schwerpunkt auf private Investitionen zur Schaffung von neuen Arbeitsplätzen setzt, nicht in der Lage ist, die durch den Strukturwandel drohenden Beschäftigungseinbrüche aufzufangen;

  • ein sich durch private Investitionen (Kapital- und Technologietransfer) selbsttragender Aufschwung mit positiven Beschäftigungseffekten kaum erwartbar ist, da das durch die westdeutschen Betriebe angegebene Investitionsvolumen von ca. 10 Mrd. DM in der ehemaligen DDR nicht mal annähernd ausreichen wird, die Arbeitsplatzverluste durch neue Arbeitsplätze zu kompensieren;

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  • fehlende oder unzureichende Eigentumsregelungen als Blockaden arbeitsplatzschaffender Investitionsvorhaben wirken. So wurden in einer Untersuchung des Ifo-lnstituts zum Investitionsumfeld in der ehemaligen DDR durch westdeutsche Unternehmen rechtliche Schwierigkeiten beim Grundstückserwerb und administrative Verzögerung neben generellen Mängeln der Infrastruktur als zentrale Investitionshemmnisse genannt;

  • das gegenwärtige Klima des Abwartens und der Ungewißheit über die Politik der Treuhandanstalt die Innovationstätigkeit in der Produktion und bei den Produkten weitgehend lahmgelegt hat, so daß der Ertragswert der Unternehmen und die Verkaufsattraktivität der Betriebe für in- und ausländische Investoren beständig gesunken ist;

  • die Treuhandanstalt mit ihrer Politik die beschäftigungspolitische Talfahrt zwar anfänglich gebremst und verzögert hat. Der jetzt anstehende Tempowechsel in der Forcierung der Privatisierung und Liquidierung von Betrieben wird aber nunmehr negativ am Arbeitsmarkt durchschlagen;

  • infolge nicht vorhandener Verwaltungsstrukturen und Kompetenzdefizite in den Ländern und Gemeinden negative beschäftigungs- und arbeitsmarktpolitische Effekte mittels Ergreifung gegensteuernder regionalpolitischer Initiativen und Aktivitäten kaum abgemildert werden können;

  • Finanzmittel zur Umsetzung von beschäftigungs-, -arbeitsmarkt- und qualifizierungspolitischen Maßnahmen auf der Ebene der Länder und Kommunen entweder nur unzureichend zur Verfügung stehen, oder aufgrund administrativer Hemmnisse nicht ausreichend ausgeschöpft werden.

Die staatliche Arbeitsmarktpolitik nach dem Arbeitsförderungsgesetz (AFG) versteht sich als Teil der Beschäftigungspolitik. Der Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums in den fünf neuen Bundesländern hat die vordringliche Aufgabe, den Umstrukturierungsprozeß der Wirtschaft zu begleiten und zu fördern. Dies vollzieht sich im wesentlichen über Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung, der Arbeitsvermittlung, finanzieller Hilfen zur Förderung der Arbeitsaufnahme, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Kurzarbeiterregelungen und die Gewährung von Arbeitslosengeld.

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Mit Hilfe einer "Qualifizierungsoffensive" in den fünf neuen Bundesländern, instrumentiert durch das Arbeitsförderungsgesetzes (AFG), sollte nach Inkrafttreten der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion die Arbeitslosigkeit gezielt bekämpft, der wirtschaftliche Strukturwandel flankiert und der technologische Modernisierungsprozeß begleitet werden.

Ein arbeitsmarktpolitischer Schwerpunkt im AFG-Maßnahmespektrum wurde durch eine erweiterte Kurzarbeiter-Regelung für den Geltungsbereich der ehemaligen DDR gesetzt. Mit dieser Regelung ist es grundsätzlich möglich, eine Verbindung von Kurzarbeit und beruflicher Qualifizierung herzustellen. Überlegung bei der Verbindung von Kurzarbeit und Qualifizierung war, bei Aufrechterhaltung der Betriebsbindung des Arbeitnehmers den Arbeitsausfall durch Weiterbildung und Qualifizierung zu kompensieren.

Spätestens ab dem Spätsommer 1990 ist die Kurzarbeit in der DDR sprunghaft angestiegen. Im Dezember 1990 erreichte sie ein Niveau von 1,75 Mio. Personen. Nach Branchen differenziert entfielen die meisten Kurzarbeiter auf die Elektroindustrie (168 Tsd.), den Maschinenbau (167 Tsd.), die Chemie- und Kunststoffindustrie (136 Tsd.) und die Textil- und Bekleidungsindustrie (92 Tsd.). Die Analyse der Kurzarbeit zeigt mehrere Effekte. Hinter der Kurzarbeit stehen nicht kurzfristige Nachfrageprobleme, sondern erhebliche Einbrüche im Auftragsvolumen der kurzarbeitenden Betriebe und Unternehmen. Während das Volumen der Kurzarbeit an der gesamten Arbeitszeit noch im September 32 Prozent betrug, stieg dieses Niveau auf 38 Prozent im November und 41 Prozent im Dezember.

Die Kurzarbeiterregelung, die als ein Hoffnungsträger bei der notwendigen Qualifizierung auf betrieblicher Ebene galt, hat die in sie gesetzten Erwartungen bislang nicht erfüllt. So befanden sich beispielsweise von den 363 Tsd. Kurzarbeitern in Brandenburg im Dezember nur 4.700 in Qualifizierungsmaßnahmen.

Neben der potentiellen Nutzung von Kurzarbeit als Möglichkeit einer beruflichen Qualifizierung stehen mit der beruflichen Fortbildung und Umschulung weitere arbeitsmarktpolitische Instrumente zur Qualifizierung zur Verfügung. Die Teilnehmerstatistik der Bundesanstalt für Arbeit weist für das Jahr 1990 ca. 124 Tsd. Personen aus, die in den neuen Bundesländern in eine berufliche Qualifizierungsmaßnahme eingetreten sind. Unter diesen Teilnehmern befanden sich im November nur ca. 34 Tsd. Kurzarbeiter.

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Für den Berichtsmonat November 1990 entfällt der überwiegende Teil der Maßnahmen auf berufliche Fortbildungen, die der Feststellung, Erhaltung, Erweiterung und Anpassung der beruflichen Kenntnisse dienen. Ein weitaus geringerer Teil konzentriert sich auf Maßnahmen der beruflichen Umschulung. Für 1991 ist geplant, ca. 330 Tsd. Personen in Maßnahmen der beruflichen Fortbildung und Umschulung einzubeziehen. Ein weiteres Instrument der aktiven Arbeitsmarktpolitik stellen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dar. Im Dezember 1990 befanden sich ca. 20 Tsd. Personen in derartigen Maßnahmen.

Eine erste Beurteilung dieser globalen arbeitsmarktpolitischen Daten im Hinblick auf deren quantitative Entlastungseffekte muß zu dem Schluß kommen, daß angesichts der starken Zunahme der Arbeitslosigkeit diese Aktivitäten noch unzureichend sind. Besonders kritisch zu beurteilen ist, daß die Kurzarbeiterregelung bislang zu gering für die Qualifizierung und das Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zu wenig für die Schaffung von Arbeitsplätzen genutzt wird. Zur Beurteilung des Wirkungsgrades müssen jedoch folgende Rahmenbedingungen beachtet werden. Erstens setzen Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik eine funktionsfähige Infrastruktur voraus, in der sie ihre Wirkungen entfalten können. Zweitens müssen die Maßnahmen bei allen Beteiligten eine allgemeine Akzeptanz besitzen, so daß sie optimal eingesetzt werden können. Drittens müssen finanzielle Rahmenbedingungen und Anreizsysteme gegeben sein, damit sie zielgerichtet und effektiv wirken.

Aus der Diskussion während der Tagung kristallisierten sich folgende Problemfelder heraus:

  1. Der geringe Grad der Inanspruchnahme von Kurzarbeit in Verbindung mit einer Qualifizierung ist im wesentlichen auf die gewährten finanziellen Unterstützungleistungen zurückzuführen. Während Kurzarbeiter 90 Prozent ihres letzten Gehaltes beziehen, erhalten Teilnehmer an Qualifizierungsmaßnahmen lediglich nur zwischen 72 und 78 Prozent ihres letzten monatlichen Einkommens. Dieser Negativanreiz für die Teilnahme an einer Qualifizierung verhindert nachhaltig einen höheren individuellen Nutzungsgrad. Geplant ist für 1991, diese Ungleichbehandlung abzuschaffen und den Bezug von Kurzarbeitergeld stärker an eine Qualifizierungsteilnahme zu binden.

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  1. Die Weiterbildung und Qualifizierung in der ehemaligen DDR war stark an die Betriebe und Kombinate angegliedert. Sie erfolgte weitgehend im Rahmen der Betriebsakademien und Betriebsberufsschulen. Im Zuge der betrieblichen Umstrukturierungen sind diese Bildungseinrichtungen als kostenverursachende Betriebsteile zum großen Teil dem Rotstift zum Opfer gefallen. Insofern fehlen den Betrieben jetzt die Kapazitäten, um eine expansive Qualifizierungspolitik betreiben zu können. Gleichfalls nimmt der Spielraum der Betriebe für Qualifizierungsmaßnahmen infolge der enger werdenden Finanzdecke ab. Nach einer Erhebung des Instituts der deutschen Wirtschaft können gegenwärtig nur 9 Prozent der Betriebe Finanzmittel für die betriebliche Weiterbildung bereitstellen. In Zahlen ausgedrückt bedeutet dies ein Volumen von DM 276 pro Arbeitnehmer. Im Vergleich hierzu geben westdeutsche Betriebe das Sechsfache dieses Betrages aus.

  2. Mit der Zerschlagung von gewachsenen Strukturen in der beruflichen Weiterbildung der ehemaligen DDR treten verstärkt Probleme im infrastrukturellen Leistungsgefüge der Weiterbildung auf. Der Prozeß von Destruktion alter organisatorischer, finanzieller und curricularer Strukturen und die Reorganisation bzw. der Aufbau der beruflichen Weiterbildung unter marktwirtschaftlichen Bedingungen schafft erhebliche Problemlagen bezüglich der Bereitstellung von Versorgungsleistungen mit Weiterbildung. Einerseits sind die im Aufbau befindlichen Arbeitsämter organisatorisch kaum in der Lage, kurzfristig Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung angesichts der sich rasch wandelnden Weiterbildungslandschaft zu initiieren. Andererseits sind die Mitarbeiter in den Arbeitsämtern mit der Begutachtung und Beurteilung von Bildungsangeboten im Hinblick auf die Kosten und die Qualität der Maßnahmen überfordert.

    Mit welchen praktischen Problemen vor Ort sich die Arbeitsverwaltung auseinandersetzen muß, schilderte ein Vertreter des Arbeitsamtes Magdeburg. Als Flächenarbeitsamt mit einem Hauptamt und acht Nebenstellen ist das Arbeitsamt Magdeburg zuständig für 403 Tsd. Erwerbstätige. Dabei steht die Arbeitsverwaltung selbst in einem Entwicklungs- und Lernprozeß, dessen Anforderungsprofil von den Erwartungen und Ansprüchen des Umfeldes abhängig ist. Die Aufbaudynamik spiegelt sich in den Mitarbeiterzahlen wider; waren es zu Beginn 50, so sind es jetzt 640 Mitarbeiter. Das heißt auch, die organisatorischen und räumlichen Voraussetzungen für die Arbeitsfähigkeit der Verwaltung ständig neu zu überdenken und anzupassen. Als Entscheidungshilfen für den Bereich der

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    aktiven Arbeitsmarktpolitik sind Beiräte eingerichtet wurden, in denen Vertreter der Wirtschaft, der Gewerkschaften und der öffentlichen Hand über Qualifizierungsangebote und den Einsatz von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen mitberaten. Dazu kommen Arbeitskreise, die in den ausgewählten Problemfeldern Entwicklungslinien und Handlungsnotwendigkeiten erörtern. Auf der betrieblichen Ebene sucht die Arbeitsverwaltung den direkten Kontakt, um Qualifikationsdefizite genauer zu benennen und bei den Beschäftigten für Teilnahmen an Lehrgängen zu werben. Es kommt dabei besonders darauf an, gegen Lethargie und Pessimismus bei den Betroffenen anzukämpfen.

    Eine besonders heikle Aufgabe ist es, dem Druck der "Glücksritter aus dem Westen", wie es der Präsident eines Landesarbeitsamtes ausdrückte, zu widerstehen und hier die Spreu vom Weizen zu trennen. Dies gilt insbesondere für Angebote westdeutscher Bildungsträger, die zum Teil mit unseriösen Offerten operieren und mit Angeboten die Arbeitsämter überschwemmen. Nach Aussagen eines Arbeitsamtsdirektors mußten die Mitarbeiter in seiner Dienststelle in kurzer Zeit Angebote von ca. 700 Bildungsträgern prüfen, die sich für ausgeschriebene Maßnahmen des Arbeitsamtes beworben hatten. Ähnliche Erfahrungen wurden auch von dem Vertreter der Betriebsleitung einer Maschinenbaufabrik berichtet, die förmlich von einem Massenandrang von Bildungsträgern mit Weiterbildungs- und Beratungsangeboten überrollt wurde. In Zusammenhang hiermit sprach sich der Präsident eines Landesarbeitsamtes für eine freiwillige Selbstverpflichtungserklärung bezüglich von Qualitätsstandards von Angeboten durch die Bildungsträger aus, um "schwarze Schafe" unter den Bildungsveranstaltern abzublocken. Aus der Diskussion konnte entnommen werden, daß trotz einiger generell formulierter Vorbehalte gegen westdeutsche Bildungsträger die Prioritätensetzung der Betriebe, sofern sie Qualifizierung betreiben wollen, eindeutig in der Kooperation mit westdeutschen Veranstaltern liegt. Dies wird u.a. durch die Ergebnisse einer Untersuchung des Instituts der deutschen Wirtschaft belegt, nach denen mehr als zwei Drittel der Ost-Betriebe mit West-Trägern oder deren Einrichtungen zusammenarbeiten.

  1. Als besonderes Problem erweist sich, daß die Weiterbildungsbereitschaft der Arbeitnehmer in den fünf neuen Bundesländern scheinbar gegenwärtig noch unzureichend ausgeprägt ist. Mit dem Hinweis auf eine fehlende "geistige Akzeptanz" für die Weiterbildung wird in der Öffentlichkeit darauf verwiesen, daß die in einer zentralen Planwirtschaft inter-

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    nalisierten Sozialisationsprozesse und Handlungsmuster mit dem beruflichen Verhaltensrepertoire, wie es unter Bedingungen einer Marktwirtschaft gefordert wird, kollidieren. Gerade aber der Anpassungsdruck an neue Handlungsmuster im Rahmen des Transformationsprozesses verursacht auch Probleme im Kontext mit der Weiterbildungsbereitschaft. Fehlende Weiterbildungsbereitschaft erklärt sich auf individueller Ebene u.a. aus Ängsten gegenüber den neuen beruflichen Leistungsanforderungen einschließlich der damit verkoppelten Einforderung von aktiven beruflichen Handlungs- und Gestaltungsmustern und den generellen Unsicherheiten über die beruflichen Perspektiven, zumal von keiner Stelle gegenwärtig verbindliche Aussagen über die spätere Verwertbarkeit von erworbenen Qualifikationen gemacht werden können. Selbst die Arbeitsämter wissen zuweilen nicht, welche Bildungsmaßnahmen sie aufgrund welcher Bedarfsartikulationen anbieten sollen, da für sie der Arbeitsmarkt als anonyme Größe erscheint, in dem Bedarfslagen, die mit Weiterbildung und Qualifizierung gegebenenfalls bedient werden könnten, kaum unmittelbar ausgemacht werden können.

  1. Daß das Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen bisher ebenfalls zu wenig gegriffen hat, liegt u.a. daran, daß seitens der potentiellen Träger Informationsdefizite über die Beantragung und Ausgestaltung von Maßnahmen insbesondere auch in der Verkoppelung zu anderen Instrumenten wie z.B. der Qualifizierung bestehen. In der Diskussion wurde darauf verwiesen, daß die finanziellen Rahmenbedingungen nicht ausreichend bekannt bzw. die finanziellen Spielräume der Träger nicht vorhanden sind, um derartige Maßnahmen einzurichten. Der Vizepräsident der Zentralen Arbeitsverwaltung Berlin (Ost) thematisierte die immer wieder vorgetragenen Probleme der Finanzierungsmodalitäten der Sachkostenanteile, die bei den Beantragern von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zum Teil als Engpaßfaktor der Realisierung angesehen werden. Hierzu führte er aus, das die Personalkosten in der Regel zu 100 Prozent finanziert würden. Kosten, die in der Peripherie entstehen, wie z.B. Materialkosten bei Restaurierungsprojekten im Rahmen von Stadtsanierungen, könnten über Darlehen der Bundesanstalt für Arbeit finanziert werden, wobei die Möglichkeit besteht, dieses Darlehen zu einem späteren Zeitpunkt in einen Zuschuß umzuwandeln. Weiterhin verwies er darauf, daß es jetzt an der Zeit sei, auch darüber nachzudenken, mit welchem Qualifizierungsanteil ABM-Stellen in den neuen Bundesländern auszustatten seien. Nach seiner Einschätzung seien 10 Prozent Qualifizierungsanteil, wie es die Praxis in den alten

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    Bundesländern ist, zu wenig. Ferner regte er an, von der Möglichkeit ABM-Stellen zu schaffen, die der Beratung bei der Beantragung von ABM-Projekten dienen, stärker Gebrauch zu machen. Für den gesamten Bereich der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in den fünf neuen Bundesländern gelte jetzt die Devise "nicht kleckern sondern klotzen", da ausreichend finanzielle Mittel zur Verfügung stünden.



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1.4 Zum Stellenwert der Qualifizierungspolitik

Im Rahmen des Modernisierungs- und Umstrukturierungsprozesses in den fünf neuen Bundesländern wird der beruflichen Qualifizierung hohe Priorität beigemessen. Diese Prioritätensetzung folgt der Notwendigkeit und Einsicht, daß Investitionen in das Humankapital als gleichrangiger Faktor neben Sachkapitalinvestitionen rangieren müssen. Damit avanciert die berufliche Qualifikation zunehmend auch zum Standortvorteil.

Die Ergebnisse einer Untersuchung (Infratest, DIW/IAB) über die "Bildungsstruktur und die Qualifikationsverwertung der Erwerbstätigen in der ehemaligen DDR" zeigt, daß das allgemeinbildende Bildungsniveau in der ehemaligen DDR mit dem Bildungsstand in der BRD vergleichbar ist. Deutliche Differenzen kristallisieren sich jedoch bei der beruflichen Ausbildung heraus. Zwar spielt für die BRD wie für die ehemalige DDR die Facharbeiterausbildung die dominante Rolle im beruflichen Ausbildungsspektrum, insgesamt zeigt sich jedoch, daß das formale berufliche Qualifikationsniveau in der ehemaligen DDR höher liegt als in den alten Bundesländern. So besitzen nur 4 Prozent der Erwerbstätigen in den fünf neuen Bundesländern keinen beruflichen Abschluß, während es in den alten Bundesländern dagegen 23 Prozent sind. Ein Vergleich des formalen beruflichen Qualifikationsniveaus ist jedoch nicht ohne weiteres aussagekräftig. Aussagekraft beziehen formale Abschlüsse und Zertifikate erst dann, wenn man die Verwertungsseite dieser Qualifikationen analysiert. Der Facharbeiterabschluß, der einer gesellschaftlich positiven Norm entsprach, war in der ehemaligen DDR vielfach nicht Resultat einer qualifizierten Ausbildung, sondern erfolgte durch Zuerkennung für Angelernte aufgrund langjähriger Betriebszugehörigkeit. Andererseits lagen die Arbeitsanforderungen der Arbeitsplätze zum Teil unterhalb des Niveaus des Ausbildungsstandes. Zurückzuführen ist dies u.a. auf die Strukturen des Arbeitseinsatzes in den Betrieben und Kombinaten der ehemaligen DDR. Gerade aber der unterwertige Einsatz von erworbenen Qualifikationen hat das Qualifizierungsinteresse der Arbeitnehmer nachhaltig negativ beeinflußt.

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Aus einer neueren Untersuchung (SOFI Göttingen) läßt sich entnehmen, daß die Weiterbildung von den Betrieben nicht nur allein zur Verbesserung des Arbeitskräftepotentials, sondern auch als Abstellgleis genutzt wurde, um Arbeitskräfte loszuwerden oder Personal abzubauen. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Erfahrungen mit der Indienstnahme des Instruments Weiterbildung als Mittel personalpolitischer Selektion heute sicherlich auch Auswirkungen auf die Weiterbildungsbereitschaft zeigen. Die vielfach empfundene "Abschiebung" in Kurzarbeit als Vorstufe von Arbeitslosigkeit und die Nichtwahrnehmung von Qualifizierung wären in diesem Kontext auch Ausdruck dieser Erfahrungen.

Zentraler Stellenwert der Diskussion um adäquate Qualifizierungsstrategien in den neuen Bundesländern liegt auf der Frage nach den Zielen der Qualifizierung im Zusammenhang mit den Umgestaltungserfordernissen der Wirtschaft. Da sich die Weiterbildung insgesamt aber den Marktprozessen unterordnet, sind Bedarfsartikulationen und Bedarfslagen ebenfalls marktabhängig und daher nicht ohne weiteres erkenn- oder ableitbar. Die Schwierigkeit bei der Erkennung und Formulierung von Bedarfssituationen und die Umsetzung dieses Bedarfs in entsprechende Angebote wird insbesondere von Mitarbeitern der Arbeitsämter vor Ort stark betont. Selbst wenn Bedarfslagen erkannt sind, können sie zum Teil nicht befriedigend werden, da keine entsprechenden Träger vor Ort sind, die derartige Weiterbildungsangebote durchführen können.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß das bisherige Qualifikationsniveau in der ehemaligen DDR gute Voraussetzungen bietet, einen Beitrag zum erforderlichen Strukturwandel zu leisten. Trotzdem ergibt sich aufgrund der unterschiedlichen Inhalte in den Berufsprofilen zwischen BRD und DDR ein erheblicher Bedarf an beruflicher Umschulung und Fortbildung. Dieser Bedarf wird sich schwerpunktmäßig im Dienstleistungsbereich (Handel, Versicherungen, Kreditwesen, Hotel- und Gaststättengewerbe etc.) und in großen Teilen im warenproduzierenden Bereich entwickeln. Für die Beschäftigten aus den Schrumpfungsbranchen bedeutet dies zum Teil, daß sie sich in andere Berufe umorientieren müssen.

Die Erstellung von Planungsdaten für die inhaltliche Ausgestaltung des enormen Um- und Requalifikationsprozesses in den fünf neuen Bundesländern muß auf die Ergebnisse zurückgreifen, die im Rahmen der Flexibilitätsforschung gewonnen wurden. Diese besagen, daß zwischen Berufen und Qualifikationsprofilen Flexibilitäts- und Mobilitätsbeziehungen

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bestehen. Geht man von den künftigen Veränderungen in der Tätigkeitslandschaft aus, so lassen sich jetzt bereits deutliche Hinweise für eine zukunftsorientierte Weiterbildungs- und Qualifizierungspolitik entnehmen. Die inhaltliche Ausrichtung muß dabei weitgehend an den vorhandenen Kenntnissen und Fertigkeiten ansetzen und sie weiterentwickeln. Berücksichtigt werden muß ferner, daß mit der Qualifizierung möglichst breite Verwertungs- und Anwendungsspielräume der erworbenen Kenntnisse eröffnet werden. Qualifizierung in diesem Sinne heißt aber nicht nur der Erwerb von fachlichen Fähigkeiten und Kenntnissen, sondern auch der Erwerb neuer Einstellungsmuster zur Arbeit. Konkrete Handlungsfelder einer situationsangepaßten Qualifizierungspolitik ergeben sich aus den erkennbaren Defizitbereichen der bestehenden Berufs- und Tätigkeitsprofile und aus den Orientierungen, die aus dem künftigen Wandel der Berufs- und Tätigkeitsfelder gewonnen werden können.

Berufliche Defizite sind aktuell in den Feldern der Theorie (insbesondere Managementwissen und Grundlagen des betriebswirtschaftlichen Denkens und Handelns etc.), des berufspraktischen Handelns (Nutzung moderner Informations- und Kommunikationstechniken, Serviceleistungen etc.) und der Arbeitsvollzüge (Kommunikationsstrukturen, Sozial- und Methodenkompetenz etc.) aufzuarbeiten. Gerade die Neuordnung der beruflichen Ausbildung hat hier neue qualifikatorische Standards formuliert, die jetzt vordringlich über die berufliche Weiterbildung vermittelt werden müssen. Generell für die tätigkeitsorientierten Wachstumsfelder gilt, daß der Bedarf bei den Facharbeiterqualifikationen in produktionsorientierten Tätigkeiten mit den Schwerpunkten Steuerung, Führung, Programmierung, Wartung und Instandhaltung moderner technischer Anlagen liegt. Gleichzeitig eröffnen sich durch Verschiebungen im Berufsspektrum hin zu den sekundären Dienstleistungen vielfältige berufliche Tätigkeitsfelder. Ähnliche Chancen liegen auch im Bereich der selbständigen Tätigkeiten.

Die Oualifizierungspolitik kann zwar den Strukturwandel flankieren, sie kann jedoch nicht Arbeitsplätze schaffen. Für die noch zu erwartenden Arbeitsmarktprobleme in den neuen Bundesländern muß deshalb die Devise lauten, die Zeiten des Umbruchs für die Qualifizierung und Weiterbildung zu nutzen. Ohne eine ausreichende berufliche Aus- und Weiterbildung wächst für den Einzelnen die Gefahr, vom Arbeitsmarktgeschehen abgekoppelt zu werden. In diesem Kontext sind Konzepte entwickelt worden, die unter dem Begriff "Beschäftigungsplan bzw. Beschäftigungsgesellschaft" bereits in den alten Bundesländern zum Teil wirksam geworden sind und das Ziel verfolgen, Arbeitslosigkeit oder drohende

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Entlassung mit Qualifizierungsmaßnahmen zu überbrücken bzw. abzufedern.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Juli 1999

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