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TEILDOKUMENT:


[Seite der Druckausg.: 21 (Fortsetzung)]



4. Wirtschaftliche Aspekte


Vor einiger Zeit setzte in den östlichen Staaten bei der Beurteilung der sozioökonomischen Bedeutung der Telekommunikation ein spürbarer Wandel ein. Nachdem in den meisten Ländern Osteuropas nach Darlegungen von Kennern der Materie "klassische" Wirtschaftszweige wie Schwerindustrie und Rohstoffindustrie lange, nach Meinung westlicher Manager entschieden zu lange, als Motor der wirtschaftlichen Entwicklung angesehen wurden, erscheint die Telekommunikation nunmehr auch in ihnen im neuen Licht. Dort wie hier zeigt man sich mehr oder weniger übereinstimmend davon überzeugt, daß die Telekommunikation eine ähnlich stürmische Entwicklung wie die Mikroelektronik in den vergangenen 15 Jahren nehmen wird. Welche Entwicklungstrends zeichnen sich für die wirtschaftliche Anwendung der neuen Informationssysteme ab?

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4.1 Erweiterung, Integration, flexible Spezialisierung

Man muß kein Prophet sein, um voraussagen zu können, daß die unterschiedlichsten Funktionen in und zwischen den Wirtschaftseinheiten Schritt für Schritt, aber durchaus in eine Richtung, von der Informatisierung erfaßt werden. Die informationstechnische Industrie rechnet beispielsweise damit, daß auf breiter Basis in der Büro- und Verwaltungsarbeit das Papier verdrängt und der Kommunikationsprozeß auf Terminals verlagert wird. Voraussetzung dafür ist freilich eine wesentliche Erhöhung der Reaktionsgeschwindigkeiten des einzelnen Terminals, das mit den einzelnen Telekommunikationsnetzen verbunden ist.

Aus der Sicht der Hersteller von Informations- und Kommunikationstechnik erhöht die durch größere Bandbreite (Breitbandkabel-Netz) verbesserte Präsentation der Informationen die Akzeptanz von luK-Systemen sowohl am Arbeitsplatz als auch beim Kunden.

Mit der starken Erweiterung der sog. Netzintelligenz als zweiter bestimmender Entwicklungstendenz betreibt die Industrie die Verschmelzung von Datenverarbeitung und Telekommunikation, u.a. mit dem Ziel, neue Dienste zu kreieren. Die Netzintelligenz unterstützt bzw. ermöglicht dabei eine Vielfalt von Mehrwertdiensten mit Orientierung auf spezifische Bedürfnisse von Branchen- oder Kundengruppen bzw. spezielle Wünsche von Einzelkunden. Bereiche wie die Logistik oder auch Aktions- und Reaktionszeiten am Markt erfahren dadurch eine drastische Effizienzsteigerung.

Als dritte wesentliche Entwicklungslinie im Anwendungsbereich nennt die luK-Branche eine erhebliche Verbesserung der Erreichbarkeit von

  • Personen, die ihrer Natur gemäß stets mobil und deshalb kaum zu erreichen sind,

  • Informationen, die ihrer Natur nach im Verborgenen liegen und deshalb kaum aufzufinden sind.

Hinter dem recht schlicht klingenden Ausdruck "Erweiterung" in bezug auf die kommunikationstechnische Verarbeitungs- und Übertragungskapazität verstecken sich starke Einflüsse auf die Wirtschaftsabläufe in und zwischen den Branchen. Die Erweiterung modelliert demzufolge breite volkswirtschaftliche Aggregate und die Volkswirtschaft überhaupt. Neue Formen des Vertriebs, der Werbung und des Verkaufens, bei denen umfassendere und aktuellere Informationen vonnöten sind (z.B. Börsennachrichten), greifen mehr und mehr um sich.

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Die Zukunft der Präsentation von Produkten und Dienstleistungen liegt u.a. bei Bewegtbild-Großdarstellungen, die gezielt auf einzelne Personen oder Personengruppen zugeschnitten sind, kündigen Experten aus einschlägigen Unternehmen an. Erhebliche Zeitersparnisse stehen bei der Verteilung von Waren, beim Transport, in der Lagerhaltung und im Ablauf sowie bei der Optimierung von Lagerbeständen an.

Auch im Bank-, Kredit- und Versicherungswesen kommt es zu einschneidenden Veränderungen. Die Informationen über und die Abwicklung von Geldanlagemöglichkeiten bzw. Krediten sind sofort verfügbar, viele der bisher üblichen Wege zur Bankfiliale erübrigen sich. Ähnlichen Prozessen der grundlegenden Informatisierung ist der Bereich von Schule, Wissenschaft und Verwaltung unterworfen. Erhöhte Verfügbarkeit von Wissen und jederzeitige Zugriffsmöglichkeiten auf Information, verbunden mit neuen Konfigurationen der "Mensch-Maschine-Kommunikation", führt nach Ansicht der elektrotechnischen Industrie geradezu zwangsläufig zu neuen Formen

  • des Lernens und der Ausbildung,

  • der Unternehmensführung,

  • des Zugriffs auf aktuelle Literatur, Musik, Abhandlungen und Kritiken,

  • des Umgangs mit Graphik, Texten, Bildern,

  • der Arbeitsweise in Verwaltungen und Büros (Stichwort: papierloses Büro).

Alles in allem erwartet man in der informationstechnischen Industrie, daß als wesentliches Resultat der Innovationen der Kommunikationsfluß verfeinert, der Bedarf en detail angepaßt und auf Personen bzw. Anwendungsfälle hin spezialisiert und gleichzeitig flexibilisiert werden wird.

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4.2 Infrastrukturpolitik als "Mittelstandspolitik"

Das ist ziemlich genau das Szenario, das auch die obersten Telekom-Behörden ihren Vorhaben zugrunde legen. Folgerichtig ist "Telekom 2000" doppelgleisig konzipiert, und zwar einmal als Modernisierungsstrategie, zum anderen als Ausbauprojekt bezüglich des Fernmeldenetzes. Mit einer leistungsfähigen Telekommunikationsinfrastruktur wird, so sehen es jedenfalls die mit ihr befaßten staatlichen Instanzen, einer der Grundsteine für die Investitionstätigkeit der privaten Wirtschaft in den neuen Bundesländern geschaffen. Veranschlagt sind,

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wie schon gesagt, bis einschließlich 1997 55 Milliarden DM, die aus Gebühren und Finanzanleihen der öffentlichen Hand bei Privaten zusammenkommen sollen. Rund 35 Milliarden DM des Gesamtvolumens beansprucht nach Aussagen von Managern der Deutschen Bundespost Telekom die Anschaffung von Ausrüstungsgütern für Telekommunikationseinrichtungen, die restlichen 20 Milliarden DM sind für Montagearbeiten und für Hoch- und Tiefbauarbeiten – die neuen Bundesländer benötigen rund 2.000 Gebäude mit der zugehörigen Vermittlungstechnik, für die Verlegung von ca. 16 Mio. Kilometern doppeladriger Ortskabel sind Gräben auszuheben und Kabelkanalrohre zu verlegen – angesetzt.

220 Mio. DM hat die Deutsche Bundespost Telekom in 1990 als Investitionsdarlehen vergeben und weitere 110 Mio. DM für eigene Investitionen vorausgabt. Für 1991 ist die Bereitstellung von nochmals rund 2 Milliarden DM vereinbart. Das Gesamtvolumen der für das Jahr 1991 für Investitionen in die Telekommunikationsinfrastruktur auf dem Gebiet der ehemaligen DDR geplanten öffentlichen Mittel dürfte bei 5,5 Milliarden DM liegen. Mit rund 10 Milliarden DM, die bis zum Jahre 1994 zusammengekommen sein werden, wird sich das Investitionsvolumen nahezu verdoppelt haben. 36 v.H. der aufzubringenden Gesamtsumme für Infrastruktur-Investitionen zugunsten der Telekommunikationstechnik, die besagten 20 Milliarden DM, sind, wie erwähnt, für Montagearbeiten, Bauleistungen und Ausrüstungen reserviert. Verläuft alles plangemäß, was in den Augen der Bundesregierung überhaupt nicht in Frage steht, versprechen sich die politischen Akteure vom Einsatz dieses Anteils wesentliche Impulse auf das Entstehen einer, wie sie es ausdrücken, jungen mittelständischen Wirtschaft in Ostdeutschland. Nach diesem Verständnis ist das finanziell aufwendige Infrastrukturprogramm eine der wesentlichen Voraussetzungen, um das schroffe ökonomische Gefälle von West- nach Ostdeutschland zu beseitigen.

Gewerkschaften, private und öffentliche Wirtschaft und Parteien werten eine leistungsfähige Telekommunikation also alles in allem ähnlich als notwendige Bedingung für ein nennenswertes wirtschaftliches Engagement westlicher Firmen im Beitrittsgebiet und als wichtig für den Aufbau von kleinen und mittelständischen Existenzen.

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4.3 Angebots- oder Nachfragelücke?

Wahrscheinlich bestimmt die Anwendung neuer Telekommunikationsdienste die strategische Position nahezu aller Geschäfte und damit der Wirtschaft,

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insbesondere im internationalen Bereich, wirklich entscheidend. Doch so weit, wie politische Prosa, der die Telekommunikation schon mal "zur Nabe des sich drehenden Rades der Wirtschaftsentwicklung" gerät, wollen SPD und Gewerkschaften nicht oder zumindest nicht ohne weiteres gehen. Telekommunikations-Experten aus der Bundestagsfraktion der SPD und aus den Gewerkschaften versehen die unbeschwerten Zukunftsvisionen, denen Bundesregierung, die sie tragenden politischen Parteien und Lobbyisten der mit Telekommunikation befaßten Industrie- und Dienstleistungsunternehmen anhängen, mit sehr vielen Fragezeichen. Ihre Befürchtungen richten sich vor allem und in erster Linie auf Unwägbarkeiten der Kosten- und der Arbeitsplatzentwicklung.

Politiker der SPD-Bundestagsfraktion äußern tiefe Zweifel darüber, daß der von Industrie und Bundesregierung offenbar als unabweisbar angesehene Ausbau des ISDN-Netzes im Osten und Westen der Bundesrepublik auf die stillschweigend unterstellte Resonanz in der Bevölkerung stößt. Inwieweit die Infrastruktur-Investitionen für digitalisierte Teilnehmeranschlüsse kaufkräftiger Nachfrage der privaten Haushalte begegnen, ob der Privatmann oder wirtschaftliche Mittelstand sich tatsächlich auf die "schöne neue Telekommunikationswelt" einläßt, ob sich ein flächendeckendes Breitbandnetz letztlich "rechnet", ist vom Standpunkt der Kritiker von "Telekom 2000" mit außerordentlich großen Unsicherheiten behaftet. Sie sehen die große Gefahr, daß es künftig zu gigantischen Fehlinvestitionen kommt und verweisen als Anzeichen dafür auf die jetzt schon bzw. immer noch schlechte Lage der neuen Dienste im alten Bundesgebiet: Bildschirmtext erreicht gerade noch einen Kostendeckungsgrad zwischen 11 und 12 v.H., nicht viel besser stehen Datex-P und Datex-L da, und auch die Breitbandverkabelung war, ist und bleibt künftig höchst defizitär.

Weil der Bundesminister für Post und Telekommunikation nicht genug Geld für den Aufbau der Telekommunikationsinfrastruktur aufbringen kann, richten sich alle Hoffnungen, Erwartungen und Begehrlichkeiten auf die Investitionskraft von DBP Telekom. Zur politischen Redlichkeit würde nach Meinung des Vorsitzenden des Ausschusses des Deutschen Bundestages für Post und Telekommunikation deshalb gehören, die Fiktion vom angeblich nach Art des Managements privatwirtschaftlicher Unternehmen weitgehend autonom entscheidenden Telekom-Vorstand aufzugeben. Ohnehin gehören Grundsatzentscheidungen in bezug auf Ziele, Tempo, Reihenfolge, Zwischen- bzw. Übergangslösungen in den Bundestag, ins Kabinett und – wegen der unverzichtbaren Beteiligung der Bundesländer – in den Infrastrukturrat. Als übergreifendes Ziel definiert die SPD, im Beitrittsgebiet von Anfang an die am weitesten fortgeschrittenen bewährten Komponenten und Systeme zu etablieren, statt nach den Vorgaben von "Telekom 2000" sozusagen im Zeitraffertempo die einzelnen technischen/technologischen

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Entwicklungsetappen in den alten Bundesländern nachholen zu wollen und dabei die umfangreiche Installation schon jetzt obsoleter technischer Linien in Kauf zu nehmen.

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4.4 Produktion und Produktivität

Einer erhöhten Versorgungsdichte mit Telefonanschlüssen und der Bereitstellung neuer Dienste reden nicht zuletzt Vertreter aus den Gewerkschaften das Wort, wobei die Anforderungen der Wirtschaft, Existenzgründer, kleinen Betriebe aus Handwerk und Gewerbe sowie freien Berufe ausdrücklich Anerkennung finden. Der Deutschen Postgewerkschaft kann es jedoch, wie einer ihrer Sprecher darlegt, nicht nur, ja nicht einmal hauptsächlich um Kennziffern zu Stand und Entwicklung der Ausstattung mit kommunikationstechnischen Netzen und Geräten gehen, sondern darum vor allem darum, wie sich der Mensch, vor allem die lohnabhängige Arbeitskraft, als Hauptakteur in diesem Prozeß – etwa in der Frage der Beschäftigungssicherheit – wiederfindet.

Im Gegensatz dazu betonen Vertreter von westdeutschen Unternehmen, die in der Ex-DDR bereits in der einen oder anderen Weise tätig sind, den Stellenwert der Produktivitätsdifferentiale von Ost und West. Während in den alten Bundesländern, wird vorgerechnet, die Elektroindustrie mit einem Arbeitskräfteanteil von 14,9 v.H. der Gesamtbeschäftigten 12,6 v.H. des volkswirtschaftlichen Produktionsergebnisses erstellt, kommen die 13,2 v.H., die die entsprechenden Produktionseinheiten in den neuen Bundesländern von den Gesamtbeschäftigten auf ehemaligem DDR-Territorium an sich binden, auf ein Ergebnis, das lediglich 8,7 v.H. der Gesamtproduktion ausmacht. Da löst der Hinweis von Unternehmensseite, daß ein dem westlichen halbwegs gleiches Produktivitätsniveau zu erreichen gegenwärtig ganz oben auf der Prioritätsskala unternehmerischer Zielsetzungen steht, kaum mehr Erstaunen, dafür aber einige Unruhe sowohl unter Gewerkschaftern als auch unter Führungskräften aus ostdeutschen Wirtschaftseinheiten aus. Mit bemerkenswerter Klarheit bekräftigte der Unternehmensrepräsentant, daß selbst dann, wenn Know-how-Transfer und Investitionen als Instrumente zur Produktivitätssteigerung und Arbeitsplatzsicherung einen sehr hohen Stellenwert in der einzelwirtschaftlichen Strategie haben, eine deutliche Verringerung der Beschäftigtenzahlen unumgänglich ist.

Gewerkschaftsvertreter wenden sich gegen den scheinbar naturgesetzlichen Zusammenhang von Produktivitätsfortschritten und Beschäftigungsabbau und

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insistieren darauf, daß die Relationen keineswegs von solcher Schlichtheit sind. Sie weisen auf vier Einflußfaktoren hin:

  • die Marktnachfrage nach telekommunikationsorientierten Dienstleistungen,

  • das Angebotsverhalten des öffentlichen Unternehmens,

  • der technische Wandel,

  • die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen.

Zur Nachfrage in bezug auf Telekommunikations-Dienstleistungen wird konstatiert, daß sie erhebliche Zuwachsraten verzeichnet, und zwar sowohl im Rückblick als auch in den Prognosen. Die Dienstestatistik der Deutschen Bundespost ist dafür ein eindeutiges Zeugnis. Auf dem Gebiet der Ex-DDR wird der weit überhängende Nachholbedarf von der Nachfrageseite her auf absehbare Zeit keine negativen Beschäftigungseffekte induzieren.

Was das Angebotsverhalten der Deutschen Bundespost Telekom und die damit verknüpften Beschäftigungswirkungen angeht, ist man mit einigen Unsicherheiten konfrontiert. Ohne den neoliberalen Grundannahmen, denen zufolge jedwedes Angebot seine Nachfrage schafft, zuzustimmen, ist zu unterstellen, daß das Angebotsverhalten des öffentlichen Unternehmens ein wichtiger Faktor der Beschäftigungsentwicklung ist. Wenn es so ist, daß die Direktion des Geschäftsbereichs Telekom die konsequente Vervollständigung und Erweiterung seiner Angebotspalette als erstrangige Aufgabe begreift, die Chancen gezielt aufspürt und die sich bietenden Möglichkeiten offensiv nutzt, sehen die Beschäftigungswirkungen mit Sicherheit anders aus als bei Übernahme der Rolle des Lückenbüßers mit weitgehender Marktabstinenz.

Relativ leicht zugänglich ist das Verhältnis zwischen informationstechnischem Wandel und Arbeitskräftebedarf. Telekommunikationstechnische Neuerungen – namentlich die Digitalisierung – führen, für sich genommen, nachweislich zu Beschäftigungsrückgängen. Man ist in der Deutschen Postgewerkschaft überzeugt, daß z.B. die völlige Abkehr von der bisher noch üblichen elektromechanischen Vermittlungstechnik mittelfristig per Saldo rund 7.000 Personalstellen im Dienststellenbereich Fernsprechvermittlung der Deutschen Bundespost Telekom – vorrangig im mittleren technischen Dienst – vernichten wird.

Nach Erkenntnissen der Gewerkschaft beeinflussen schließlich die ordnungspolitischen Rahmenbedingungen, unter denen die Aktivitäten der Netzbetreiber, Diensteanbieter und Geräteproduzenten stattfinden, die quantitative Beschäf-

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tigung im Telekommunikationssegment. So zeigt der internationale Vergleich, daß die Beschäftigungsbilanz in den Vereinigten Staaten von Amerika, in Japan und Großbritannien von sogenannten Deregulierungsstrategien und von Privatisierungsprozessen eindeutig negativ ausfällt. Es ist – nach Angaben der Gewerkschaft – eine bittere Wahrheit, daß, entgegen den optimistischen Annahmen der Deregulierungs- und Privatisierungsbefürworter, die Beschäftigungsverluste bei AT&T, NTT und British Telecom eben nicht durch Zuwächse bei deren Netz- und Dienstleistungs-Konkurrenten und ebensowenig durch einen ebenfalls in Aussicht gestellten nachhaltigen Konjunkturaufschwung der nationalen Telekommunikationsindustrie kompensiert wurden. Insoweit widerlegen die empirischen Befunde die interessegeleitete Hoffnung, durch das Aufbrechen der Ordnungs- und Organisationsstrukturen ein telekommunikatives "Beschäftigungswunder" herbeiführen zu können.

Dennoch ist unbestritten, daß gut ausgebaute Netze – das ist keineswegs die Meinung der Deutschen Bundespost allein – nicht nur die Voraussetzung zum Betrieb der traditionellen Telekommunikationsdienste, sondern auch die Grundlage für die Entwicklung neuer innovativer Dienste und Nutzungsformen bilden. Wer will, mag in ihnen das Rückgrat einer marktwirtschaftlich organisierten Volkswirtschaft und den Schlüssel für Prosperität sehen. Erfolge auf diesem Gebiet tragen gewiß dazu bei, das wirtschaftliche Gefälle zwischen beiden Teilen Deutschlands abzubauen.

Spielt also nach übereinstimmendem Urteil von Fachleuten die Verfügbarkeit von Telefon- und Datenleitungen in den privatwirtschaftlichen Investitions- und Standortkalkülen eine wie auch immer geartete, in jedem Falle freilich ernstzunehmende und verhaltensprägende Rolle mit womöglich weitreichenden negativen Folgen für die eine oder andere Region im Wettbewerb der Kreise, Städte und Gemeinden um private Investitionen, und bedenkt man, daß Infrastrukturinvestitionen im allgemeinen beträchtliche Ausreifungszeiten beanspruchen, dann können einem Zweifel kommen, ob es überhaupt realistisch ist, kurzfristig wirklich spürbare Verbesserungen der Telekommunikationslandschaft zwischen Ostsee und Erzgebirge, Harz und Oderbruch zu erwarten. Von Zweifeln dieser Art war aus den Reihen der SPD zu hören.

Der Vorsitzende des für Telekommunikation zuständigen Fachausschusses des Deutschen Bundestages, Mitglied der Fraktion der SPD im Deutschen Bundestag, nannte unter anderem die finanzielle Dotierung der ersten Ausbaustufe des digitalen Overlay-Netzes, des Datex-P-Netzes sowie der verschiedenen zentralen Standorte für den Empfang von Sendungen über Satellit schlicht "zu dünn". Wenn der Verband der Postbenutzer, führt er aus, unter der Überschrift

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"Die Wahl des richtigen DDR-Standortes ist auf Jahre existenzwichtig" lediglich Ost-Berlin, Chemnitz, Dresden, Erfurt, Leipzig und Schwerin einigermaßen aussichtsreiche Standortbedingungen bescheinigt, dann ist das für andere wichtige Dienstleistungs- und Produktionsstandorte ganz und gar inakzeptabel.

Manch einem der weiteren wesentlichen Wirtschaftsräume droht der mit Blick auf die von "Telekom 2000" bis Ende 1997 angestrebte Vollständigkeit des Angebots an Kommunikationsdiensten zu ambitionierten, mit Blick auf die Dringlichkeit kurzfristig greifender Verbesserungen zu wenig ambitionierten Strategie zum Opfer zu fallen. Schnelligkeit bei der Erweiterung der bestehenden Engpässe, nicht zuletzt durch Zwischenlösungen, hat, so das Plädoyer, in der nächsten Zeit vor Gründlichkeit zu gehen. Denn was hilft den heute vom modernen Informations- und Kommunikationssystem noch kaum erfaßten Gebieten die Aussicht auf das Jahr 2000, in dem den Planungen zufolge auf dem Gebiet der ehemaligen DDR – vielleicht – eines der modernsten Telekommunikationsnetze der Welt in Betrieb genommen sein wird, wenn bis dahin die erste wichtige Phase der großräumlichen Standortverteilung zum Abschluß gekommen und an den besonders stark benachteiligten Gebieten längst vorbeigegangen ist. Fast immer ist es ja so, daß es die ohnehin besser auskommenden Regionen verstehen, weitere wirtschaftliche Aktivitäten aus der näheren Umgebung oder auch aus ganz anderen Landesteilen an sich zu ziehen und den vernachlässigten Regionen lediglich jene Tätigkeitsfelder zu überlassen, die in vielerlei Hinsicht unattraktiv, z.B. konjunkturanfällig, technisch unausgereift, wertschöpfungsarm, gesundheitlich belastend, ökologisch unverträglich o.a., sind. Das objektive Interesse von Problemregionen richtet sich demnach darauf, den Entwicklungsabstand zu besser gestellten Wirtschaftsräumen nicht nur nicht größer werden zu lassen, sondern so gut es eben geht mit Infrastrukturinvestitionen zugunsten des Telekommunikationssystems zu verringern.

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4.5 Marktstruktur und Weltwirtschaft

Erfolge oder Mißerfolge der Modernisierungs- und Ausbaubemühungen im Bezug auf kommunikationstechnische Infrastrukturen haben über den regionalen Maßstab hinaus Einfluß auf die Weltmarktposition der Anbieter. Jedenfalls zählt auf den Führungsetagen der internationalen Telekommunikationsindustrie eine moderne, zukunftsorientierte Infrastruktur zu den entscheidenden Voraussetzungen für eine liberale Wirtschaftspolitik im Welthandel. Eine retardierte Telekom-Entwicklung würde, von den obersten Stockwerken der Hauptverwaltungen industrieller Unternehmen aus besehen, langfristig zu einer lange anhaltenden Wirtschaftsstagnation und gegebenenfalls sogar zu

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protektionistischen Maßnahmen führen. Gerade von international operierenden Konzernen der Informationstechnik werden flexible volkswirtschaftliche Strukturen bevorzugt, in denen erwünschte Impulse auf den bzw. aus dem Telekommunikationssektor verstärkt, unerwünschte Erschütterungen hingegen abgeschwächt werden können.

Offene Standards, offene, nicht-herstellerspezifische Architekturen führen diesen Vorstellungen zufolge zu einem offenen Wettbewerb zwischen den Diensteanbietern. Kleine und mittlere Firmen haben ebenfalls Wettbewerbschancen, sofern sie ihre Diensten in diese offenen Architekturen einbinden.

Herstellerspezifische Standards führen zu einem Cluster der Industriegruppierung um wenige, miteinander konkurrierende Software-Architekturen in der Infrastruktur. Bei solchen herstellerspezifischen Architekturen ist es für den Benutzer nahezu ausgeschlossen, von einem Serviceanbieter zu einem anderen zu wechseln. Kleine und mittlere Firmen vermögen sich den Clusters lediglich ergänzend und nicht konkurrierend anzuschließen.

Aus diesen Zusammenhängen heraus kann durch eine offene Telekommunikationsinfrastruktur die schleichende Konzentration der Wirtschaft gebremst oder gar umgekehrt werden, glaubt die Industrie. Geeignet ist deshalb eine Infrastruktur, die eine ausgebaute, einheitlich orientierte Basis in Hardware und Software mit offenen, standardisierten Schnittstellen hat, die von öffentlichen Betreibern bereitgestellt wird. Auf ihr bauen viele anwendungsnahe, problemlösende Mehrwertdienste auf, die möglichst intensivem Wettbewerb auszusetzen sind.

Nur die "Individualisierung" der Telekommunikationsdienste bringt nach Ansicht von Fachleuten aus der Privatwirtschaft jene Vielfalt von Anwendungen hervor, die zum Gedeihen der Wirtschaft im internationalen Wettbewerb erforderlich ist. Davon profitiert, folgt man der einschlägigen Theorie, nicht nur der Abnehmer und Nutzer von Telekom-Dienstleistungen; auch die starke Position des Mittelstandes und nicht zuletzt die der Großunternehmen bleiben erhalten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001

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