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[Seite der Druckausg.: 30(Fortsetzung)]



5. Soziale Aspekte




5.1 Beschäftigung

Wirtschaftliche Veränderungen, technische Neuerungen und organisatorische Umstellungen in einer Betriebsabteilung, einem Betrieb, Unternehmen oder einer Branche sind wohl niemals wirklich beschäftigungsneutral. Und das gilt

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selbstverständlich auch für Modifikationen beliebiger Telekommunikationssysteme, sei es in der Bundesrepublik allgemein, sei es speziell in den beigetretenen Landesteilen im Osten des vereinigten Deutschland. Erinnert man sich der vom Management informationstechnischer Produktionsbetriebe in der Ex-DDR in jüngster Zeit allenorts, auch auf der Tagung, über die hier zu berichten ist, verkündeten Absicht, bereits jetzt Beschäftigungsreduktionen und erst recht nach Auslaufen der Übergangsregelungen Ende Juni 1991 nicht näher bezeichneten, jedoch vermutlich erheblichen Ausmaßes vorzunehmen, dann sind Befürchtungen, die Deutsche Bundespost könnte einem gewissen Teil der 130.000 Bediensteten der Deutschen Post der früheren DDR die Übernahme in ein Dienstverhältnis unter dem bald gemeinsamen Dach verweigern, durchaus verständlich. Verantwortliche aus beiden Postministerien stellen diesen Befürchtungen übereinstimmend die in den laufenden Verhandlungen bereits erzielten personalrelevanten Ergebnisse entgegen: An der Übernahme besteht kein Zweifel, obwohl über die Verwendung des Personals in einigen wenigen kleinen Funktionsbereichen noch keine endgültige Klarheit besteht.

Weniger optimistisch, was den Stand der Verhandlungen zwischen den beiden Post- und Telekommunikationsinstitutionen aus Ost und West angeht, gibt sich die Gewerkschaftsseite der neuen Bundesländern. Unmut erregt etwa die von der Deutschen Bundespost Telekom verfolgte Strategie, in Anwendung der einschlägigen Klauseln im Einigungsvertrag die ehemalige Deutsche Post und die bei ihr Beschäftigten nicht en bloc in den öffentlichen Dienst zu übernehmen, sondern bestimmte Funktionsbereiche abzusplittern und sie bis auf weiteres als nicht-staatliche Einrichtungen zu führen. Einzelne Fachkräftekategorien laufen dadurch Gefahr, nach Inkrafttreten der Postunion in Einkommensgruppen für geringer qualifizierte Tätigkeiten abgeschoben zu werden. Schon jetzt zeichnet sich ab, daß nicht alle Diplom-Ingenieure der Deutschen Post bei der Deutschen Bundespost im höheren Dienst Verwendung finden werden. Unverständnis darüber herrscht unter anderem deshalb, weil – auch im Führungsstab der Deutschen Bundespost Telekom – der dringende Bedarf der neuen Länder gerade an Ingenieuren und Nachrichtentechnikern unbestritten ist; um sie wird mittlerweile mit Auftragsproduktionen im Werbefunk der Fernsehanstalten geworben. Die Zusicherung der Deutschen Bundespost Telekom, die vor der Postunion "herausfallenden" Fachkräfte später bevorzugt in den öffentlichen Dienst zu übernehmen, wertet die Gewerkschaft als vorläufige Absichtserklärung ohne Sicherheiten.

Einigermaßen empört bringt die Leitung der Postgewerkschaft der früheren DDR Überlegungen auf westdeutscher Seite zur Sprache, Beschäftigte im Postbank-Bereich der Deutschen Post zu "feuern" und zur selben Zeit 290 Kräfte in

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Nürnberg, von wo aus der Postbankverkehr der südlichen Hälfte der vormaligen DDR abgewickelt werden soll, einzustellen. Auf klare Ablehnung bei der gewerkschaftlichen Arbeitnehmervertretung stoßen ähnlich gelagerte Vorstellungen der staatlichen Telekommunikations-Planer, die auf den Abbau des gesamten Bereichs der Studiotechnik zielen. Es sind nicht nur, aber doch auch und gerade die hier nur beispielhaft genannten, von Arbeitsplatzunsicherheit in besonderem Maße betroffenen Techniker und Ingenieure, die nach gewerkschaftlicher Einschätzung für die Modernisierung des Informationssystems in der alten DDR gebraucht werden. Sie wie alle anderen Beschäftigten der Deutschen Post wissen von den Erfordernissen zur Mobilität, Fort- und Weiterbildung, und sie sind bereit, diesen Anforderungen auf der Grundlage von Vereinbarungen zwischen öffentlichem Arbeitgeber und Gewerkschaften zu entsprechen. Offen ist zudem der unbedingt einer klaren Neuregelung bedürftige Komplex des Kündigungs- und Rationalisierungsschutzes. Wenn der Einigungsvertrag ausdrücklich vorsieht, daß ordentliche Kündigungen von Arbeitsverhältnissen bei Bedarfsmangel zulässig sind, muß das Fehlen verbindlicher Regelungen so kurz vor dem 3. Oktober 1990 Gewerkschafter alarmieren.

Zusammengefaßt ist die sicherlich nicht einmal vollständige Auflistung tatsächlicher oder auch nur befürchteter Auswirkungen der neuen Wirtschaftsordnung und der Postunion auf die Beschäftigten durch leitende Gewerkschaftsfunktionäre aus den östlichen Bundesländern eine an die Adresse der Verantwortlichen in Regierung und Verwaltung gerichtete Anmahnung, bei der gebotenen Anpassung sich als öffentlicher Arbeitgeber stärker von seiner Pflicht zur sozialen Fürsorge leiten zu lassen. Das bedeutet kein Ausspielen des Sozialen gegen das Ökonomische. Auch die Gewerkschaften sehen die Notwendigkeit von Rationalisierungen, sichern sie doch nicht nur die Existenz des Unternehmens, sondern auch Arbeitsplätze in ihrem Organisationsbereich. Mit dem durch "Telekom 2000" induzierten Wachstum der Nachfrage nach Telekommunikationsdiensten als finanzwirtschaftliche Basis ist die längst fällige Verkürzung der tariflichen Arbeitszeit auch im Post- und Fernmeldewesen eines der Instrumente, die nach gewerkschaftlicher Auffassung in den neuen Bundesländern eine sozial verträgliche Personalpolitik der Deutschen Bundespost erleichtern helfen.

Im selben Zusammenhang kommt aus der Zentrale der Postgewerkschaft der Altländer der nachdrückliche Hinweis, daß eine Realisierung des Projekts "Telekom 2000" nicht nur die Garantie der Einnahmeschutzrechte der Deutschen Bundespost zur unabdingbaren Voraussetzung hat. Vielmehr muß sie auch gestützt sein durch eine entsprechende Beschäftigungspolitik der Deutschen Bundespost. Ohne ausreichendes, gut qualifiziertes und – nicht zuletzt durch

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konkurrenzfähige Einkommen – motiviertes Personal läßt sich ein solches "Crash"-Programm nicht in die Tat umsetzen. Man hat in Frankfurt Zweifel, ob dieser Zusammenhang von den Verantwortlichen in den Ministerien und Generaldirektionen mit hinreichender Klarheit erkannt wird.

Eine vernünftige Beschäftigungspolitik setzt voraus, gibt die Gewerkschaft zu bedenken, daß bestimmten Anforderungen hinsichtlich der Angebotspolitik der Deutschen Bundespost Genüge getan wird. Zu diesen Anforderungen gehört die schon oben als erstrangig bezeichnete Aufgabe, die Angebotspalette gezielt zu vervollständigen und zu erweitern, entsprechende Chancen konsequent aufzuspüren und die sich darbietenden Chancen offensiv zu nutzen. Nur eine solche Unternehmenspolitik wird unter dem Blickwinkel von Gewerkschaftspositionen dem gesetzlich fixierten öffentlichen Auftrag gerecht, "die Nachfrage von Bürgern, Wirtschaft und Verwaltung nach Leistungen der Post-, Postbank- und Fernmeldedienste zu decken" und "die Dienste unter Berücksichtigung der Markterfordernisse entsprechend der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung zu gestalten" (§ 4 Abs. 1 PostVerfG). Und nur eine solche Unternehmenspolitik bietet dafür Gewähr, daß Arbeitsplätze dauerhaft gesichert und positive Beschäftigungswirkungen erzielt werden. Vor allem dort, wo die Unternehmen der Deutschen Bundespost im Wettbewerb stehen, ist deshalb der Begriff "Post- und Fernmeldewesen" im Zuge der Verschränkung von Informatik und Kommunikationstechnik extensiv zu interpretieren. Kein Geschäftsfeld darf von vornherein aus gewerkschaftlicher Sicht preisgegeben werden oder aus Gründen ordnungspolitischer Rücksichtnahme versperrt bleiben. In diesem Kontext und daran erinnernd, daß das Aufbrechen der Ordnungs- und Organisationsstruktur nach allem, was internationale Erfahrungen lehren, Beschäftigungsrückgänge bewirkt, warnt die deutsche Postgewerkschaft (West) eindringlich vor Versuchen, mit fadenscheinigen Argumenten und auf dem Umweg über die DDR weitere, über den Stand des Poststrukturgesetzes hinausgehende Entstaatlichungsmaßnahmen im bald gesamtdeutschen Fernmeldewesen durchzusetzen.

Was die Beschäftigungswirkungen angeht, die bei den ostdeutschen Herstellern von telekommunikationstechnischen Gütern anstehen, sind die Aussichten deprimierend. Ungeschminkt stellt sich nach Ansicht von Experten aus der privaten Wirtschaft die Beschäftigungsperspektive ungefähr so dar: Bedingt durch die bisherige planwirtschaftliche Organisation, durch volkswirtschaftliche Disproportionen und unzureichende, nicht bilanzierende Kooperationsbeziehungen ist in den informationstechnischen Betrieben der Ex-DDR ein völlig überhöhtes Potential an Verwaltungs- und Dienstleistungskräften vorhanden. Das derzeitige Verhältnis von Arbeitern zu Angestellten in Ostdeutschland beträgt

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40 zu 100 – eine Relation, die selbst bei äußerster Anstrengung der Arbeitskräfte keinen Ertrag abwerfen kann. Unter marktwirtschaftlichen Vorzeichen sind Verhältnisse dieser Art untragbar, sie belasten nicht etwa bloß, wird aus unternehmerischen Kreisen vorgetragen, sondern verhindern geradezu den Unternehmenserfolg und bedürfen von daher einer konsequenten Überführung zu rationalen personalwirtschaftlichen Kombinationen.

Sozusagen als Gegenentwurf kommt aus der Deutschen Bundespost Telekom ein Bild, das die positiven Beschäftigungseffekte der Milliardeninvestitionen in den neuen Bundesländern hervorhebt. Von den mehr als 6 Milliarden DM an Investitionsmitteln der Deutschen Bundespost Telekom im Jahre 1991 werden etwa 2 Milliarden DM für Bau- und Montageleistungen, also für handwerkspezifische Tätigkeiten, eingesetzt. Aus Erfahrungswerten, die beim Aufbau westlicher Netze gewonnen wurden, geht nach Aussage leitenden Personals der Deutschen Bundespost Telekom hervor, daß pro Milliarde Investitionsvolumen 20.000 bis 25.000 Arbeitsplätze in der privaten mittelständischen Wirtschaft geschaffen werden.

Da die jährlichen Investitionen mittelfristig noch eine erhebliche Ausweitung erfahren werden, steigt nach Angaben aus dem Bundesministerium für Post und Telekommunikation die Zahl der neu geschaffenen Arbeitsplätze in Handwerk und Mittelstand bis 1993/1994 auf voraussichtlich etwa 80.000. Dazu kommen weitere Arbeitsplätze in der Fernmeldeindustrie, die zunehmend mit Partnerfirmen im Beitrittsgebiet fernmeldetechnisches Gerät produziert. Auch bei der Deutschen Bundespost Telekom, die derzeit etwa 43.000 Kräften in den fünf neuen Bundesländern einen sicheren Arbeitsplatz bietet, geht der Trend angesichts der bevorstehenden Herkulesaufgaben eher zu einem Mehr an Arbeitsplätzen, betont ein leitender Beschäftigter des Bundesministeriums für Post und Telekommunikation. Nach herrschender Meinung im Ministerium beschleunigt die von interessierter Seite geforderte Aufhebung des Netzmonopols die Telekommunikationsversorgung in den fünf neuen Bundesländern nicht, denn die zu lösenden Probleme stellen sich vor allem in den nächsten Monaten. In so kurzer Zeit kann ein anderer Anbieter selbst beim besten Willen keine entsprechende Organisation vor Ort aufbauen, um die Lösung der anstehenden Aufgaben zu übernehmen.

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5.2 Qualifikation

Mit der Zusammenlegung der Deutschen Bundespost Telekom und der Deutschen Post zu einem gemeinsamen Unternehmen sind also, zusätzlich zu den

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Problemen der materiellen Infrastruktur, umfangreiche personelle und organisatorische Aufgaben zu lösen. Im Bundesministerium für Post und Telekommunikation ist man sich bewußt, daß die Fusion zweier Großunternehmen mit all den notwendigen Anpassungsprozessen im Bereich Organisation und Personalwesen einige Anstrengungen erfordert, um leistungsmindernde und kostentreibende Anpassungsfriktionen zu begrenzen. Entschieden zu niedrig ist aus der Sicht von Telekommunikations-Fachleuten des öffentlichen Dienstes die Produktivität der ostdeutschen Dienste. Die vorläufige Bilanz des dort vorhandenen "Humankapitals" läßt nach den Worten von Verantwortlichen den Schluß zu, daß die Produktivitätsdefizite zustande kommen durch das Zusammenwirken von veralteter Netzstruktur und gewissen Nachteilen hinsichtlich Niveau und Struktur der Qualifikation der Personalkräfte.

"Telekom 2000" formuliert Modernisierungsziele, deren Rationalität im Vorsitz der Deutschen Postgewerkschaft nicht grundsätzlich bezweifelt wird. Die Kritik der gewerkschaftlichen Vertreter der Arbeitnehmerinteressen im Organisationsbereich Post und Telekommunikation der früheren DDR geht, positiv gewendet, dahin, mit Arbeitsplatzgarantien und Weiterbildungsmaßnahmen, von denen zumindest im Hinblick auf das Post- und Telekommunikationspersonal des einfachen und mittleren öffentlichen Dienstes überhaupt nicht oder nur am Rande die Rede ist, das Hineinwachsen in neue Aufgaben und Strukturen im Interesse von Leistungsnachfragern und Leistungserbringern gleichermaßen zu erleichtern. Rationalisierungsdruck und Deregulierungstendenzen, beides angelegt im Poststrukturgesetz, dessen Anwendung auf das Beitrittsgebiet so gut wie sicher ist, verursachen neben Ängsten vor Entlassungen beim Personal der ehemaligen Deutschen Post, die gar nicht ernst genug genommen werden können, Abwanderungen von Post- und Telekommunikationspersonal aus dem Ostteil in die westlichen Bundesländer. Schon aus Gründen der angestrebten Versorgungsverbesserung bei den privaten Haushalten und marktbezogenen Wirtschaftseinheiten mit Telekommunikationsdiensten, auch wenn man vom grundlegendenden Interesse der Beschäftigten an Arbeitsplatzsicherheit abzusehen können glaubt, sind überzeugende Aktivitäten vonnöten, um den begonnenen "brain drain" leistungsfähiger und leistungsbereiter Mitarbeiter aller Tätigkeitskategorien in den neuen Ländern zu bremsen. Eine klare Struktur der Unternehmen und Führungsfunktionen, die Eröffnung von Entwicklungschancen für die Mitarbeiter durch längerfristige Arbeitsverträge und eine Tarifpolitik mit Spielräumen für Leistungsanreize wären dafür nach gewerkschaftlicher Einschätzung unmißverständliche Signale.

Die angelaufenen, in Wiederholungen für längere Zeit geplanten Seminare für 200 Führungskräfte der Telekom aus der ehemaligen DDR sind erste Ansätze in

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die richtige Richtung. Allerdings geht die inhaltliche und personelle Eingrenzung der Qualifizierungsaktivitäten, die sich anhand der Themenbereiche eindeutig ablesen läßt (Themenschwerpunkte sind Volks- und Betriebswirtschaft, Personalmanagement und Kommunikationstraining), am dringendsten Bedarf vorbei, muß es doch eigentlich von Beginn an darum gehen, die notwendigen Kapazitäten für die Netzplanung zu schaffen und auf der ausführenden Ebene Um- und Nachschulung für Reparatur- und Montagekräfte im Umgang mit westlicher Technologie zu betreiben.

Vor diesem Hintergrund fordert die Deutsche Postgewerkschaft konsequenterweise ihre Beteiligung an allen Entscheidungen, die im weitesten Sinne die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitnehmer beeinflussen. Ein Jahrzehnte wirkender, zur Unmündigkeit erziehender Obrigkeitsstaat ist überwunden, und für die Gewerkschaft kommt es nunmehr darauf an, in den Prozeß der Entscheidungsfindung und Zielumsetzung eingebunden zu sein. Über die Gewerkschaften hinweg darf künftig nicht mehr entschieden werden, nicht zuletzt deshalb nicht, weil ein dann eintretender Motivationsverlust die Realisierung des Projekts "Telekom 2000" nachhaltig behindern könnte.

Im Vorstand der Deutschen Bundespost Telekom weiß man, so war von authentischer Seite zu hören, daß Planung und Ausführung im Rahmen der Modernisierung und des Ausbaus der Telekommunikationsinfrastruktur in den neuen Bundesländern der Tatkraft jeder qualifizierten Mitarbeiterin und jedes qualifizierten Mitarbeiters im Gebiet der ehemaligen DDR bedürfen. Bei der Bewältigung der Aufgaben stehen nach Auskunft von leitenden Kräften Know-how-Transfers im Mittelpunkt. In diesem Zusammenhang, aber auch darüber hinaus, ist mittlerweile ein umfangreiches Personalaustausch-Programm von West nach Ost und umgekehrt angelaufen. Von Qualifizierungsprogrammen zugunsten von Arbeitskräften des einfachen und mittleren Dienstes ist indessen, wird von gewerkschaftlicher Seite bemängelt, wenig zu hören.

Anregungen aus dem Institut für Informatik und Rechentechnik der Akademie der Wissenschaften gehen dahin, neben Arbeitskräften mit operativen Funktionen ebenso das wissenschaftliche Personal im Rahmen der Neustrukturierung des Telekommunikationssystems in Theorie und Praxis an die Funktionsweise des technisch weiter fortgeschrittenen Informations- und Kommunikationsnetzes in den alten Bundesländern heranzuführen.

Nach allem gibt der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Post und Telekommunikation zu bedenken, ob es nicht besser wäre, einige tragende Organisationsstrukturen in der ehemaligen DDR in einer Übergangszeit von bestimmter Dauer zu erhalten, um gerade in der ersten und wohl schwierigsten

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Anpassungsphase die ohnehin nicht vollständig zu vermeidenden Reibungsverluste nicht noch zu verstärken.

Die Hoffnung von Führungskräften ostdeutscher Anbieterbetriebe von Komponenten der Telekommunikation, in der Umstrukturierungsphase zur Bestands- und Arbeitsplatzsicherung ehemalige DDR-Firmen bevorzugt mit Aufträgen aus dem 55-Milliarden-DM-Programm "Telekom 2000" zu bedenken, sind, stellen westdeutsche Experten unverblümt klar, wegen der Wettbewerbsregeln der Europäischen Gemeinschaft, die derartige Bevorzugungen verbieten, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Da hilft der ohne Zweifel vorhandene Wille, versichern Kenner der politischen Szene, den östlichen Anbietern eine gewisse Vorzugsstellung bei der Auftragsvergabe durch die öffentlichen Hände einzuräumen, gar nichts. Daß ein solcher Wille auf verantwortlicher politischer Ebene überhaupt vorhanden ist, bestreiten Betroffene aus der ostdeutschen Telekommunikationsbranche. In der bisherigen Vergabepraxis, z.B. bei der Auftragserteilung durch die Deutsche Bundesbahn zur Elektrifizierung von Reichsbahnstrecken, sind einzig und allein Unternehmen mit Sitz in den westlichen Bundesländern zum Zuge gekommen, halten sie dagegen.

An der Kritik der in den neuen Bundesländern auch als Diskriminierung ihrer qualifaktorischen Befähigung empfundenen Auftrags- und Beschaffungspolitik zum alleinigen Vorteil westdeutscher Firmen knüpft die Leitung der Generaldirektion Telekom der ehemaligen Deutschen Post an: Die inkriminierte Praxis westlicher öffentlicher Auftraggeber ignoriert bewußt oder unbeabsichtigt, daß die neuen Bundesländer durchaus wettbewerbsfähige, sofort beanspruchbare Qualifikations- und Technikpotentiale, die im internationalen Vergleich teilweise die höchsten Rangplätze besetzen – zum Beispiel in Segmenten der Optoelektronik –, in den Modernisierungs- und Ausbauprozeß der Telekommunikationsstrukturen einzubringen haben. Bisherige Spitzenstellungen auszubauen und diesen Ausbau mit dem Aufholen des Rückstandes auf den anderen Gebieten zu verbinden – das ist der Weg, den man in der Leitung von Telekom-Ost, ginge es ausschließlich nach ihr, verfolgen möchte, um in absehbarer Zeit schließlich mit allem Informationstechniken in die Spitzengruppe der technisch-ökonomischen Leistungsfähigkeit einzurücken.

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5.3 Private Haushalte: Anwenderansprüche

Ohne Zweifel setzt die Erzeugung und Anwendung moderner Informationssysteme eine Dynamik in gang, die – über kurz oder lang – vor

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keinem gesellschaftlichen Bereich haltmacht. Daß technisch Machbares nicht gleichbedeutend mit gesellschaftlich Sinnvollem ist, gehört allmählich – so scheint es zumindest – zu den Binsenweisheiten. Angesichts der in den neuen Bundesländern überschäumenden Nachfrage einerseits und der breiten informationstechnischen Lücke andererseits ist es sicherlich nicht unwichtig zu wissen, wie ein gesellschaftlich sinnvolles bzw. sozial nützliches System auszusehen hat. Am Beispiel des diensteintegrierten digitalen Datennetzes (ISDN) in seiner Bedeutung für den Alltagsgebrauch von Fernsprechnetz und -gerät im privaten Haushalt ist auf der Konferenz von der kommunikationswissenschaftlichen Disziplin demonstriert worden, daß Binsenweisheiten die Praxis offenbar weniger anleiten, als man, ausgestattet mit dem gebotenen Respekt vor abgeklärten Urteilen, allgemein erwartet.

Ausgangspunkt der kurzen Betrachtung ist, wie gesagt, das diensteintegrierte Digitalnetz mit seinen von der Digitalisierung ausgehenden sog. Mehrwertdiensten. Welchen Nutzen stiftet ein ISDN-"Universal"-Anschluß in einem Durchschnittshaushalt? Die Problematik beginnt damit, daß die Unteilbarkeit des entsprechenden ISDN-Angebots Entscheidungen nur in den Extremformen einer "Alles-oder-Nichts"-Wahl für oder gegen das "normale" bzw. "universelle" Dienstepaket zuläßt. Sie setzt sich darin fort, daß die Entscheidung potentieller privater Nutzer für einen Anschluß an das diensteintegrierte digitale Netz den Verzicht der aktiven oder passiven Inanspruchnahme konventioneller Übertragungswege und Endgeräte – etwa des "guten alten Dampftelefons" (so der kommunikationswissenschaftliche Referent) – verlangt. Zugrunde liegt die Annahme, bei der beobachteten fiktiven Grundeinheit handele es sich um einen wie auch immer definierten "Durchschnittshaushalt", was die materielle Fähigkeit und sonstige Bereitschaft, "doppelte" Netzverbindungen beizubehalten oder zusätzlich zu installieren, zumindest gedanklich ausschließt. Der im Gewohnten verharrende ältere Herr, überspitzen Kommunikationswissenschaftler die "Entscheidungsfalle", der sich auf das im Verhältnis zum konventionellen Fernsprechsystem technisch zweifellos fortgeschrittene ISDN-Konzept nicht einlassen will und am "Dampftelefon" festhält, kann zu seiner informationstechnisch besessenen und vielleicht einkommensstärkeren Enkelin, die auf die ISDN-Netzdienste schwört und vom technisch vorgeblich "total" Überholten nichts mehr wissen will, telefonischen Kontakt von seiner privaten Fernsprechstelle aus gar nicht herstellen. Ob infolgedessen die Enkelin ihren Großvater häufiger besucht bzw. umgekehrt der Großvater – angekündigt oder unangemeldet – die verwandtschaftlichen Bande auf direkte Weise am Leben zu erhalten sucht, steht auf einem anderen Blatt.

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Jedenfalls macht, nach Beurteilung kommunikationswissenschaftlicher Spezialisten, der fiktive Fall deutlich, daß gesellschaftlich-soziale Anforderungen dem technisch Machbaren – zumeist in Verbindung mit rein betriebswirtschaftlichen Kalkülen – immer wieder zum Opfer fallen. Belege für die Dominanz der von betriebswirtschaftlichen Kriterien diktierten Geschäftspolitik der am Telekommunikationsgeschäft beteiligten wirtschaftlichen und politischen Akteure gibt es zuhauf. Für selbstverständliche Leistungsmerkmale wie beispielsweise den Einzelgebührennachweis hat der Kunde extra zu bezahlen, Standarddienste wie Anrufweiterschaltung sind im ISDN-"Normalpaket" noch nicht einmal enthalten und lassen sich ohne "Universalanschluß" nicht buchen. Anstatt also die für niemanden direkt in Alltagsanwendungen umsetzbare Universalformel "ISDN" in den Vordergrund der Modernisierung des Telefonnetzes zu rücken, ist die neue Qualität der Kommunikation, sind die von der Digitalisierung ausgehenden Mehrwertdienste vom öffentlichen Anbieter herauszustreichen. Der Pfad zu einem Mehr an Bedarfsorientierung und Bedienungskomfort führt zwangsläufig weg vom unteilbaren "Normal-" oder "Universalpaket" und hin zu einem modularen Aufbau der Mehrwertdienste.

Kommunikationswissenschaftler sehen überdies mit dem ISDN-Netz verbundene Gefahren für die Privatsphäre. So gibt es in ihm keine Möglichkeit, am Endgerät öffentliche Sprechstellen zu filtern. Wer sich vor anonymen Anrufen schützen will, müßte die Möglichkeit haben, Anrufe von öffentlichen Sprechstellen abzulehnen, wenn der Anrufer sich persönlich nicht ausweisen kann oder will. Im aktuellen technischen Entwicklungsstadium läßt sich der Anspruch auf Wahl zwischen Identifikation und Anonymität z.B. durch Einführung von entsprechend ausgelegten Chip-Karten realisieren. Mit ihr kann man jede öffentliche Sprechstelle in eine private und jede private in eine öffentliche Sprechstelle verwandeln. Jeder wäre dann in der Lage, sich auf eine persönlich gewählte Weise zu erkennen zu geben oder identifizieren zu lassen. Wer mit der Identifikation "niederen Grades" nicht zufrieden ist, lehnt den darauf fußenden Anruf einfach ab. Freilich muß die objektive Verifikation des Anrufers mit der Karte in der Hand dieses Anrufers bleiben. Technische Systeme, die das Verifikationsproblem dezentral ohne Preisgabe weiterer Daten lösen, wurden von der Gesellschaft für Mathematik und Datenverarbeitung, einer Großforschungseinrichtung des Bundes, bereits vorgestellt.

Unter dem Gesichtspunkt der gesellschaftlich-sozialen Nützlichkeit muß – nach Meinung von Kommunikationswissenschaftlern – erwartet werden, daß das technische System einen hohen Grad an Wahlmöglichkeiten seiner Nutzung durch private Haushalte sicherstellt. Die frei gewählte Identifikation per Chipkarte würde einen direkten Schluß auf Person oder Aufenthaltsort des Anrufers

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verhindern. In diesem Falle würden die Gebühren abgebucht, ohne daß sich der Anrufer einer Zentrale gegenüber auszuweisen verpflichtet ist. Der Anrufer per Chip-Karte muß sich nicht zu erkennen geben, er kann es aber – und damit sind auf jeder der beiden Seiten des Netzes Persönlichkeitsrechte bzw. Privatsphäre geschützt.

Für die Modernisierung des Fernsprechnetzes im Beitrittsgebiet lautet die Einführungsstrategie in bezug auf die Mehrwertdienste, die Fehler in der alten Bundesrepublik bei der Digitalisierung von vornherein durch modularen Aufbau des Systems auszuschalten.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Oktober 2001

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