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6. Die Qualität

Die meisten Überlegungen und Vorschläge zur Erfüllung des festgestellten Bedarfs sind zu eng bzw. einseitig auf Quantität und Finanzierung konzipiert, die Bau- und Wohnkultur bleibt außer acht. Viel zu selten und in viel zu geringer Konsequenz wird die - auch neu zu gestaltende - Qualität der Wohnungsversorgung einbezogen:

  • die zwingend notwendigen ökologischen Anforderungen an den Wohnungsbau;

  • die bedürfnisgerechte bzw. historisch adäquate Grundrißqualität mit einer Fassadengestaltung, die die Einheit von Inhalt und Form widerspiegelt;

  • die vielfältigen neuen Wohnformen infolge anderer Lebens- und Wohnbedürfnisse;

  • die Nutzungsmischung von Wohnungen durch Alte und Junge, Nichtbehinderte und Behinderte als quasi Wahlfamilie infolge der - seit Jahren stattfindenden - Auflösung der traditionellen Familienform;

  • die sinnvolle Mitbestimmung und Mitgestaltung der Wohnung durch die NutzerInnen

und vieles andere mehr.

Erfahrungen hierzu gibt es seit langem, neue Wohnformen werden bereits gelebt. Es gibt aber für sie (noch) keinen wohnpolitischen Raum, und die gebauten Wohnungen sind nach wie vor meistens die den geänderten Anforderungen nicht genügenden uniformen 2- oder 3-Zimmer-Wohnungen. Die seit Jahren praktizierten neuen Wohnformen werden in Architektur, Wohnungsbau und -politik bisher - von theoretischen Überlegungen und einigen beispielgebenden Projekten abgesehen - kaum berücksichtigt.

Angesichts des immensen Wohnungsbedarfs und der sich zeigenden historischen Zäsur in der Wohnkultur bietet sich heute aber die Chance, mit der Realisierung der Quantität zugleich den qualitativen Notstand zu beheben und die Geschichte der Wohnungsbaukultur positiv mitzugestalten. Dazu sind alle - die öffentlich Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen, die Wohnungsbauinstitutionen, Architektinnen und NutzerInnen - in ihrer jeweiligen Kompetenz mitverantwortlich gefordert.

Einige dieser qualitativen Aspekte werden im folgenden genauer erörtert:

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6.1 Ökologische Anforderungen

Es gibt nicht nur zu wenige Wohnungen, es gibt auch zu viele falsche Wohnungen. Die qualitative Wohnungsnot, die in der Struktur der heutigen Wohnungsversorgung liegt, zeigt sich z. B. im Massenexodus der Bewohnerinnen aus ihren Quartieren an Wochenenden und in den Ferien auf der Suche nach Lebensqualitäten, die dann im Verkehrsstau und in überfüllten Erholungsgebieten doch nicht gefunden werden. Dabei kommt es durch die harten Formen der Freizeitgestaltung zunehmend zur Vernichtung von Erholungsqualitäten.

Ein mögliches Gegenbild dazu liefert das ökologische Bauen: gartenbezogen, im Grünen, mit hohem Erholungswert - es ist Wohnen wie in den Ferien, eine sanfte Freizeitgestaltung ohne hohe Umweltbelastung, und es gibt unter ökologischen Rahmenbedingungen das gute Gefühl, mit Holzfassade, Naturfarben und Grasdach etwas für die Umwelt getan zu haben. Doch auch dieses Bild ist zu oberflächlich, trügerisch oder gar romantisch verklärt, denn auch ökologisches Bauen greift in die Natur bzw. Umwelt mit zum Teil einschneidenden, wenn auch nicht so offensichtlichen Veränderungen ein. Das ökologische Bauen muß sich deshalb von diesem vereinfachenden Bild lösen und dem komplexen Anspruch gerecht werden, den der Begriff Ökologie impliziert.

Ein Großteil der ökologischen Maßnahmen, derer der Wohnungsbau dringend bedarf, ist kaum sichtbar und vermittelt sich nicht unmittelbar. Deswegen sind die ökologischen Anforderungen schwer zu greifen. Sie sind auch in jedem Einzelfall anders gelagert. Bei ökologischen Maßnahmen ist deshalb die jeweils spezielle Situation zu überprüfen und zu interpretieren.

Im folgenden sollen einige Anforderungen bzw. Notwendigkeiten aufgezeigt werden, die den Wohnungsbau näher an die Ziele eines umwelt- und ressourcenschonenden Wirtschaftens heranführen.

  1. In bezug auf die Standorte

    Unter dem Blickwinkel des umwelt- und ressourcenschonenden Bauens sind im städtischen Bereich zu bevorzugen

    • verkehrsgünstig gelegene Standorte, die vorzugsweise eng mit dem öffentlichen Personennahverkehr verknüpft oder gut und nahe an Zentrums- und Arbeitsplatzfunktionen angebunden sind,

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      wobei möglichst die bereits vorhandene Infrastruktur genutzt wird.
      In Städten gibt es viele solcher Standorte, die nicht voll ausgenutzt sind. Dabei müssen sich die Planungen von dem monozentrischen Stadtmodell lösen, bei dem die städtische Gesellschaft auf nur einen Kern bezogen wird. Vielmehr muß bei den Überlegungen von Städten ausgegangen werden, die viele verschiedene Stadtteile haben, die untereinander über verschiedene Medien und Verkehrsstränge verbunden und in sich relativ gleichwertig geworden sind.

    • Wohnstandorte, die einen attraktiven Bezug zu Erholungsräumen, möglichst unter Einbeziehung von Gewässern, haben.

    • Gartennutzung sollte, insbesondere für Familien- und Mehrgenerationenwohnen, möglich sein.

    Die Standortwahl darf aber nicht nur ausschließlich von der Seite der städtischen oder menschlichen Notwendigkeiten her gesehen werden. Vielmehr sind zwingend auch die Notwendigkeiten zu berücksichtigen, die aus dem Grün, aus der Umgebung heraus an das Bauen gestellt werden. Standorte sollten deshalb nicht liegen

    • in Kaltluft- und Frischluftschneisen,

    • auf wertvollen land- und forstwirtschaftlichen Gebieten,

    • in Vernetzungsbereichen zwischen vorhandenen Grünzonen, die durch Bebauung unterbrochen und dadurch Flora und Fauna stark beeinträchtigen würden,

    • in schlecht belüfteten, schlecht besonnten, besonders kalten mikroklimatischen Gebieten,

    • in Gebieten mit übermäßig hohem Erschließungsaufwand und aufwendigen Eingriffen in vorhandene Topographien.

  1. In bezug auf neue Wohnformen

    Ökologisches Bauen bedeutet auch, daß im Ergebnis ein gemischtes soziales Gefüge gefördert und Nachbarschaft als sozialer Zusammenhang durch die Struktur des Bauens erlebbar gemacht werden sollte. Zu ermöglichen ist weiter das Miteinanderwohnen mehrerer Generationen, was hier nicht im Sinne einer sozialromantisch verklärten Form des Großfamilienwohnens, sondern als Chance gemeint ist, durch das Wohnen soziale Kontakte über Kleinfamilienstrukturen hinaus zu knüpfen.

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    Die Wohnform wird auch mehr und mehr durch die Aspekte Freizeit und Arbeit bestimmt. Freizeit ist eine wichtige Bestimmungsgröße für das Wohnen. Benötigt werden

    • direkte Bezüge zum Außenraum - besonders für das Wohnen im Familienbereich

    • besser formulierte Übergangsbereiche zwischen innen und außen, die in den Übergangszeiten und als Schutzräume genutzt werden können sowie

    • Räume für Freizeit innerhalb der Wohnungen.

    Diese Ziele, durch die eine stärkere Integration der Freizeit in das Wohnen erreicht werden soll, könnten einmal durch die Aufwertung der Küche zu einem Allraum mit angelagerten Nebenfunktionen, zum anderen durch eine Gleichräumigkeit möglichst vieler kleiner Räume (auch unter Einschluß von überzähligen Räumen) erreicht werden. Das sollte zu Lasten der klassischen Funktionen des Wohnens gehen. (Der sogenannte Wohnraum von 30 qm z. B. ist heute in der Regel sicher nicht der Raum, der zum Wohnen gebraucht wird, sondern eher zum Fernsehen und Repräsentieren.)

    Es geht auch zunehmend darum, die bisher außerhäusliche Arbeit in das Wohnleben zu integrieren. Dies gilt vor allem für Alleinerziehende, die darauf angewiesen sind, viele Funktionen zu Hause zu erledigen, die aber auch die Möglichkeit haben müssen, zu arbeiten. Aber auch Elternpaare sollten diese Möglichkeit, zunehmend zu Hause zu arbeiten, haben, um den Komplex Erziehung und Arbeit besser zusammenbringen und auch ihren Kindern die Möglichkeit bieten zu können. Arbeitszusammenhänge von vorneherein erleben zu können und nicht entfremdet von diesen Alltagszusammenhängen aufwachsen zu müssen. Das heißt: Neue Formen des Wohnens müssen dringend bei der Grundriß- und Häusergestaltung berücksichtigt werden. Dafür gibt es in anderen Ländern Beispiele - wie die sogenannten Electronic Cottages in den USA, wo Menschen zu Hause am Computer arbeiten und ihre Wohnung wenig verlassen -, mit denen eine kritische Auseinandersetzung notwendig erscheint. (Während bestimmter Lebensphasen können solche Formen des Wohnens und Arbeitens durchaus sinnvoll sein.)

  1. In bezug auf die Technik

    Im Bereich der Technik sollte nicht die romantische Vorstellung, ökologisches Bauen bedeute weniger Technik, weiterverfolgt werden. Benötigt wird mehr Technik im Wohnbereich; diese muß jedoch sichtbarer und handhabbarer werden, um den Bezug der NutzerInnen zu den technischen

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    Funktionen des Hauses herstellen und aufrechterhalten zu können. Die technischen Funktionen sollten also nicht weiter schamvoll versteckt und vor allem nicht in dem heutigen Ausmaß externalisiert sein.

    Die notwendige intensivere Einbeziehung der NutzerInnen in technische Aspekte des Wohnens kann mit verschiedenen Ansätzen erreicht werden:

    • Energieeinsparung - nach wie vor die wichtigste Energiequelle im Wohnungssektor - muß handhabbar und veränderbar bleiben. Das wird sich auf Wohn- und Gebäudeformen auswirken. Sollen sich in Zukunft die CO2-Emissionen im Wohnungsbau verringern, dann muß schon heute daran gedacht werden, daß die Häuser leichte Fassaden bekommen, die mit mehr Wärmedämmung aufgefüllt werden; d. h. es werden keine schweren Außenfassaden gebraucht, die vortäuschen, die Bauten seien von innen bis außen durchgehend massiv. Daneben können Wärmerückgewinnungsmaßnahmen im Haus erfolgen.

    • Zum Teil kann auch die Energieversorgung im Haus stattfinden. Die einfachste Form ist die passive Solarnutzung. Möglich ist auch eine aktive Solarnutzung; diese wird in der nächsten Zeit - wenn auch in viel zu geringem Umfang - öffentlich mitfinanziert. Es gilt auch, Windenergie zu nutzen. - Dies alles aber nur dort, wo entsprechende Energiemengen auch zu nutzen sind.

    • Zur Wassereinsparung kann Regenwasser durch relativ preiswerte technische Maßnahmen in die Hausversorgung einbezogen werden, z. B. für WC-Spülung, Gartenbewässerung, Waschen. Solche Maßnahmen stoßen erfahrungsgemäß bei den NutzerInnen auf großes Interesse.

    • Bei der Entwässerung ist der Aspekt der Wärmerückgewinnung zu beachten. Schmutzwasser kann in Siedlungszusammenhängen vorgeklärt werden. Auch in diesem Zusammenhang ist die Regenwassernutzung zu beachten.

    • Die Abfallbewirtschaftung kann auf Hausgruppenebene intensiver betrieben werden.

    Wenn Technik, die bisher externalisiert, d. h. den NutzerInnen unzugänglich, fremd und demzufolge auch relativ egal war, durch solche Maßnahmen sozusagen internalisiert wird, wird die Ver- und Entsorgung der Wohnung/des Hauses transparenter.

    Damit sind höhere Investitionskosten, aber nicht zwangsläufig höhere Gesamtkosten (Investitions-, Betriebs- und Wartungskosten) verbunden.

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    Als unbedingtes Ziel sollte daher verfolgt werden, daß - unter Berücksichtigung der Kosten der Umweltbelastung und ihrer Beseitigung - eine Degression der Gesamtkosten erreicht wird.

    Die Baumaterialien sollten so weit wie möglich recycelbar, umweltfreundlich, dauerhaft und insbesondere für die NutzerInnen handhabbar sein. Mit zunehmender Freizeit und steigendem Interesse an der Wohnung wird auch das Bedürfnis der NutzerInnen wachsen, die Wohnung/das Haus zu verändern, anzupassen und laufend umzugestalten.

  1. In bezug auf die Architektur

    Es gibt keine Architektur der Ökologie, es gibt nur gute und schlechte Architektur. Architektur mit ökologischen Zielsetzungen ist bislang häufig zu eindimensional auf die Darstellung weniger Prinzipien des umwelt- und ressourcenschonenden Bauens ausgerichtet worden. Andere Dimensionen der Architektur - z. B. der Städtebau, die Gestaltung und die technische Dauerhaftigkeit - sind dagegen unterrepräsentiert.

    Es muß also zu einem komplexeren Verständnis von Architektur unter Einbezug der angesprochenen Aspekte des umwelt- und ressourcenschonenden Bauens kommen. Dazu gehört insbesondere die stärkere Beachtung der Beziehungen zwischen Gebäuden und unmittelbarer Umgebung: in städtebaulicher und architektonischer Hinsicht sowie unter Berücksichtigung der Vernetzung mit den Freiräumen.

    Architektur muß aber auch die inneren Qualitäten der Häuser stärken und dabei vielfältige Nutzungsmöglichkeiten für die unterschiedlichen Ansprüche der Bewohnerinnen - sowohl hinsichtlich des Lebens- als auch des jahreszeitlichen Zyklus, während dessen an das Haus/die Wohnung ja jeweils andere Anforderungen gestellt werden - anbieten.

    Viele Räume sind wichtiger als große Räume. Die Architektur könnte anknüpfen an die Wohnreform der 20er Jahre. (Hermann Muthesius hat mit seinem englischen Haus sehr genau gezeigt, wie man mit Viel- und Kleinräumlichkeit unterschiedliche Nutzungen befriedigend unterbringen kann.)

    Zusammenfassend wird festgestellt, daß der derzeit enorme Wohnungsbaubedarf eine große Chance zur Verknüpfung ökologischer Zielsetzungen mit dem Wohnungsbau bietet. Dabei kann eine Architektur hoher Qualität entstehen, nicht eine Architektur um ihrer selbst willen, sondern

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    eine komplexe Architektur, die städtebauliche, gestalterische, nutzerInnen-relevante und ökologische Aspekte berücksichtigt. Die wichtigen ökologischen Maßnahmen beim Hausbau sollten also weitergehend in den Wettstreit um eine baulich gut gestaltete Umwelt einbezogen werden. Ökologisches, d. h. umwelt- und ressourcenschonendes Bauen muß sich zu einer Normalität im Wohnungsbaualltag entwickeln.

    Im vergangenen Jahrzehnt wurde begonnen, Konzepte für ökologisches Bauen aufzustellen und umzusetzen. Die heutige Situation zeigt aber, daß aufgrund der Nachfrage das ökologische Engagement vom Wohnungsbau weg auf andere Bauvorhaben umgelenkt worden ist: Heutzutage sind im gewerblichen Bereich ökologische Ziele einfacher zu realisieren als im Wohnungsbau (z. B. bei der Regenwassernutzung). Der Wohnungsbau hat also seine Leitfunktion - in bezug auf ökologische, aber auch hinsichtlich sozialer und weiterer Aspekte - verloren.

    Architektur und Städtebau können sich heute nicht mehr mit den Richtlinien des sozialen Wohnungsbaus aus der Zeit des "Dritten Reichs" zufriedengeben. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, diese Richtlinien kreativ zu nutzen und im Sinne eines umwelt- und ressourcenschonenden Bauens zu interpretieren. Dann kann aus dem sozialen ein sozial-ökologischer Wohnungsbau entstehen.

    Angesichts des großen Baubedarfs könnte der so definierte sozial-ökologische Wohnungsbau wieder eine Leitfunktion übernehmen. Dabei müßte er den komplexen Ansprüchen an Architektur hinsichtlich Inhalt und Form von Gebäuden Rechnung tragen.

    Um von einzelnen vorbildlichen Pionierleistungen zum Normal- bzw. Regelfall im Wohnungsbau zu gelangen, um das Wissen um ökologische Details und isolierte Aspekte in ihren komplexen Gesamtzusammenhang zu bringen, bedarf es sicher der Koordinierung der separierten Bereiche Grundlagenforschung und Baupraxis: Es bedarf vermehrt des technischen, sozialen und architektonischen Experiments als integrative und praktische Aufgabe.

    Gefordert wird ein allgemein akzeptierter ökologischer Katalog von heute erkannten Selbstverständlichkeiten, die bislang leider gar nicht selbstverständlich praktisch umgesetzt werden. Dieser kurzfristig zu erarbeitende Katalog muß praktikabel sein und als Zusammenstellung von unabdingbaren Anforderungen der Ökologie verbindlich in den Förderungsrichtlinien der Länder verankert werden. Auf dieser Basis können

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    die heute üblichen Konflikte zwischen Ökologie auf der einen Seite und Wohnungsbau bzw. sonstigen Zielbereichen auf der anderen Seite entschärft werden.

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6.2 Grundriß- und Fassadengestaltung

Gleich Wohnbedürfnissen und Wohnformen ist auch die Organisation von Räumen, die Grundrißgestaltung, nie statisch: Wohnen hat Geschichte, Wohnen wird historisch gelebt.

In Europa formulierte seit Ende des 18. Jh. das Bürgertum als neue gesellschaftspolitische Macht seinen neuen Wohnbegriff. Neu gesehene und eigeninterpretierte Wohnverhältnisse und Bedürfnisse bedingten eine neue Organisation von Wohn-Raum: Es werden Grundrisse mit Raumspezialisierung für hierarchisierte Wohnvorgänge entwickelt, und die Intimität von Räumen wird zur Forderung. Es entstehen der bürgerliche Salon, die separierten Räume für Essen oder Schlafen. Ein Bad gibt es noch nicht. Die Küche bleibt für vielstufige häusliche Produktion wichtig. Das Raumgefüge der Grundrisse ist außen - in der Art überlieferter Fassadenordnung - nicht ablesbar.

Die bürgerliche Vorderhauswohnung des 19. Jh. mit eklektischer Fassade verbirgt eine Grundrißqualität, die wir heute im Zuge der Aufwertung der Innenstädte und ihrer Randgebiete anders beurteilen als Kritiker vor sechzig Jahren. (Das im Laufe des 19. Jh. mit Industrialisierung und Verstädterung entstehende Massenwohnelend in den Hinterhöfen und Slums muß erwähnt werden, hier aber zunächst ausgeklammert bleiben.) Hinter den stereotypen, durch Dekoration diversifizierten Fassaden erstreckte sich in der Regel ein fast nichtssagender, wirtschaftlich durch minimierte Herstellungskosten optimierter Grundrißstandard, bestehend aus etwa gleich großen Wohnräumen. Diese meist spekulativ errichteten Wohnungen entsprachen den unspezialisierten Wohnbedürfnissen. Nachteilig war nicht selten die fehlende Besonnung, schlechte Querbelüftbarkeit und ungünstige Lage der Küchen. Bäder fehlten meist, während WCs weitgehend vorhanden waren. Die unpraktische Organisation der Wohnungen spielte keine Rolle, da bis ins kleinbürgerliche Milieu fast kostenlos arbeitendes Personal reichlich verfügbar war.

Inzwischen ist das Interesse an diesen Gründerzeitwohnungen ihrer Flexibilität durch Gleichräumigkeit und relativer Großzügigkeit wegen sehr

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groß, selbstverständlich erst nach technisch-sanitärer Hochrüstung und extensiver Belegung, die jeder Person 50 qm zur Verfügung stellt. Beliebt ist auch der etwas hermachende Fassadenprunk.

Die sozial-humane Wohnbewegung des frühen 20. Jahrhunderts bis 1930, einhergehend mit breiter gesellschaftlicher Emanzipation, hat den Versuch unternommen, den Freiheitsraum der Massen durch Wohnung zu erweitern, dem Wohnen eine neue Ästhetik durch hohe Bewertung des gesunden Wohnens, des egalitären Wohnens zu vermitteln und dies so zu funktionalisieren, daß bei für jeden tragbaren Kosten Freistellung von überflüssiger Arbeit, persönliche Entfaltung, Individualität und ein fruchtbarer Gegensatz zwischen Gemeinschaftlichkeit und Privatheit mit allen Übergängen ermöglicht werden sollte.

Es wurden verbesserte Grundrißdispositionen entwickelt, und die Fassadenkosmetik, welche Ordnungen zeigte, die mit dem Leben hinter den Außenwänden überhaupt nichts mehr zu tun hatten, wurde zunehmend in Frage gestellt. Nach dem Zusammenbruch des alten Europa im Ersten Weltkrieg kam es in Deutschland und den Nachbarländern zur einmaligen gesellschaftspolitischen und baukulturellen Leistung des Neuen Bauens, das vor allem Wohnbauen auf sozialer und humaner Grundlage war und seine neuen Wohnerkenntnisse in der neuen demokratisch-republikanischen Ästhetik nach außen projizierte.

Dieses neue Konzept wurde nur von fortschrittlichen Kräften akzeptiert; die breiten Massen konnten von diesem Bauen wegen der allgemeinen Notlage der Länder nicht erreicht werden. Bald gingen die hervorragenden Ansätze unter dem Druck eingreifender Sparmaßnahmen ins allgemeine Minimieren über. Die Minimalgrundrisse der Wohnungen für das Existenzminimum der "Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen" 1930 zielten darauf ab, für alle Wohnungen zu beschaffen; zugleich begründeten sie aber eine schlimme Tradition. Diese Tradition zieht sich hin durch das "Dritte Reich", das dann als Normengeber für den gesamten Wiederaufbau und sozialen Nachkriegswohnungsbau wirkte.

Dabei ist die Grundrißqualität des sozialen Wohnungsbaus traditioneller Art nie so schlecht gewesen wie die zugehörige Fassadengestaltung des rein nach ökonomischen Kriterien durchgeführten Massenwohnungsbaus diverser Riesenmaßnahmeträger in den 60er und Anfang der 70er Jahre.

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Das Hauptübel dieser Fehlerfüllung massiver Bedürfnisse war der Verrat an den grundlegenden Ideen des Neuen Bauens. Dieser war so gravierend, daß heute wieder Fragen nach der Vereinbarkeit von Grundrißqualität und Fassadengestaltung gestellt werden müssen.

Der neuerdings z. B. bei der IBA Berlin aufgekommene Ansatz, bei dem historische Fassaden vergewaltigten sozialen Wohngrundrissen vorgeblendet werden, ist die falsche Antwort. Er spiegelt allerdings die Reduzierung des sozial-humanen Ansatzes der Wohnbewegung sehr deutlich wider.

Grundrißqualität und äußere Erscheinung des Hauses sind nur vereinbar, wenn einige ehrliche Ansätze beachtet werden:

  • Es gibt viele falsche Wohnungen, Fehlbelegungen auch dem Grundriß und der Größe nach. Notwendig ist eine neue Wohnflexibilität. Hierzu eignet sich eine Wohnung mit relativ gleichflächigen Räumen, die in der Größe durch Zuschalten oder Abhängen von Zimmern veränderbar ist und trotzdem voll funktionsfähig bleibt.

  • Um solche Koppelung oder Entkoppelung bewerkstelligen zu können, müssen zwingend alle Festpunkte, Küchen, Sanitäreinrichtungen gerätartig nach modularen Gesichtspunkten flexibel gemacht werden. Finanziell günstig ist eine industrielle Vorfertigung von Wohnungsbaukomponenten.

    Voraussetzung hierfür ist, daß viele Vorschriften aufgegeben werden, die sich von Hitlers Wohnbauerlaß bis ins Heute ziehen und alle obsoleten Techniken der letzten fünfzig Jahre festschreiben.

Die Gestaltung solcher neuen Grundrisse würde deutliche Auswirkungen auf die Fassaden haben. Stereotypie läßt sich dabei durch intelligente Variation besser vermeiden als durch aufgeklebte Dekoration.

Architekten, die noch immer meinen, jegliches Gebaute zwanghaft auf große, publizierbare Architektur umfrisieren und Menschen in ihre monumentalen Einfälle verfrachten zu müssen, um selbst zu glänzen, sollten sich nicht mit Wohnbau beschäftigen.

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Wohnbau kann auch Architektur sein. Es ist aber besser, er gewinnt seinen architektonischen Wert im hervorragenden und menschlichen städtebaulichen Kontext als durch aufgesetzte Eigenheiten, die mit der konkreten Lebenssituation der Bewohner nichts oder nur mittelbar zu tun haben. Gute Ansätze, auch für die Kongruenz von Grundriß- und Fassadenqualität, sind mancherorts sichtbar. Hier sind insbesondere die Kommunen in ihrer Handlungskompetenz und ihrem Mut zum Experiment unter Beteiligung der WohnungsnutzerInnen viel mehr als bisher gefordert!

Zu hoffen ist, daß unsere Gesellschaft angesichts neuer Wohnanforderungen aufgrund der Auflösung traditioneller Lebens- und Familienformen und in Behebung des horrenden Wohnungsmangels diesmal die Weiterentwicklungen sozial-humanen Bauens abfragt.

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6.3 Neue Lebens- und Wohnformen

Wohnungsneubau ist heute nach wie vor weitestgehend traditionell orientiert. Die Wahrnehmung und Akzeptanz neuer Lebens- und Wohnformen ist viel zu gering, ihre Bewertung als minoritär viel zu eng und damit falsch, denn es gibt bei den Wohnungsnachfragern umfassende sowie einschneidende Veränderungen, die aus strukturellen Wandlungen in Familien- und Haushaltsformen resultieren und demzufolge mehr und nachhaltiger wirksam sind als Modeströmungen. Die ungenügende Beachtung dieser demographischen und sozio-kulturellen Veränderungen läuft Gefahr, kostbare Ressourcen am Bedarf vorbei zu vergeuden. Dementsprechend muß Wohnungsbaupolitik heute - erst recht im Hinblick auf den prognostizierten immensen Neubau-Bedarf und den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch - zugleich qualitative Wohnungsbauförderung sein.

  1. Die konkreten Veränderungen

    Neue Wohn- und Lebensformen sind nicht nur auf die Mittelschichten - denen eine Umsetzung der veränderten Wohnansprüche auch weitgehend gelingt - beschränkt, sondern finden auch vermehrt in anderen sozialen Schichten statt. (Die Mittelschicht-Überrepräsentanz z. B. bei Gruppenwohnprojekten oder beim ökologischen Bauen drückt eher einen zeitlichen Vorlauf, keineswegs eine dauerhafte Mittelschichtspezifik aus.)

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    Bekannt sind in erster Linie die statistischen Veränderungen bei den Haushalten, nämlich der Rückgang der klassischen Kernfamilien- und die Zunahme vor allem der Einpersonenhaushalte: 1987 fast 1/4 in kleinen Gemeinden (unter 5.000 Einwohner) und etwa 45% in Großstädten (über 100.000 Einwohner), und zwar mit steigender Tendenz. Die statistische Größe Einpersonenhaushalt sagt sozio-kulturell wenig aus; dahinter verbergen sich sehr verschiedene Lebens- und Wohnformen:

    • an erster Stelle alte Menschen (annähernd die Hälfte der in Einpersonenhaushalten Lebenden ist über 65 Jahre alt),

    • zunehmend junge Menschen der sogenannten Postadoleszenzphase (rund 1/4 der Einpersonenhaushalte),

    • zunehmend auch 25- bis 45-jährige (rund 22 %), die sich auf andere als die familialen Lebensweisen orientieren.

    Aber auch bei den Mehrpersonenhaushalten nimmt der Anteil neuer Lebensformen zu:

    • 1,8 Mio. Alleinerziehende stellen bereits 17 % aller Familien dar, überwiegend (zu 86 %) von Frauen getragen. In Großstädten ist ihr Anteil besonders hoch. In Köln z. B. sind 1/4 aller Familien Alleinerziehende, überwiegend Frauen.

    Neu an diesen Haushaltstypen ist nicht allein ihr quantitatives Ausmaß, sondern die Tatsache, daß es sich hier nicht mehr nur um Übergangsformen - vor der Heirat, nach der Scheidung, nach dem Tod des Partners - handelt, sondern vielmehr um eigenständige und dauerhafte Lebensformen.

    Damit ist die gesellschaftspolitisch-kulturelle Dimension angesprochen: nämlich die Konsequenzen, die gestiegene Einkommen, Zunahme an Freizeit, höheres Bildungs- und Qualifikationsniveau sowie die relativ hohe soziale Absicherung auf den Lebensalltag einer stärker als jemals zuvor an Selbstverwirklichung orientierten Bevölkerung haben. Aufgrund dieser Entwicklungen mußten Wohnbedürfnisse und -qualität an Bedeutung gewinnen. Ihre hochgradig aktuelle Thematisierung weist auch auf jahrelange Versäumnisse hin.

    Die Bedeutung der Wohnung als Raum, in dem arbeitsfreie Zeit selbstbestimmt verbracht wird, ist - nebst kritischer Tendenzen der Vereinzelung und des passiven Konsums (Fernsehen und Video) - gestiegen. Gestiegen ist aber auch die Bedeutung des Wohnumfeldes, der Bedarf an sozialer und kultureller Infrastruktur (nicht nur in großstädtischen Zentren) sowie das Bedürfnis nach neuen Formen von Nachbarschaft und

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    Gemeinschaftlichkeit und die Forderung nach wohngebietsnahen Arbeitsplätzen. Alle diese Bedürfnisse stellen das lange Zeit gültige Leitbild der strikten Funktionstrennung städtischen Lebens (Arbeit/Wohnen/Verkehr/ Freizeit) und die traditionelle Wohnorientierung an den Ansprüchen der Kernfamilie massiv in Frage.

    Trägerinnen solcher Bedürfnisse sind vor allem Frauen, junge und - in zunehmendem Maße - auch ältere Menschen, am wenigsten die Männer und Familienväter, die jahrzehntelang direkt oder indirekt die "natürlichen" Adressaten der traditionellen, familienorientierten Wohnungspolitik gewesen sind:

    • Frauen, weil gerade sie mit zunehmender Erwerbstätigkeit und wachsender Beteiligung am sozialen, kulturellen und politischen Leben die Defizite monofunktionaler Siedlungsräume und traditionell organisierter bzw. familienbetonter Grundrißgestaltung höchst nachteilig erfahren,

    • ältere Menschen, nicht allein wegen ihrer zunehmenden Anzahl, sondern auch, weil ihre qualitativen Erwartungen an einen, auch im Alter aktiven Lebensabschnitt ihre Ansprüche an selbständiges, je nach Situation zugleich auch gestütztes bzw. betreutes Wohnen haben steigen lassen,

    • junge Menschen, die heutzutage oft ganz anders als ihre Eltern eine viel längere, lebensgeschichtlich bedeutsame Adoleszenzphase zwischen der Lösung von der Herkunftsfamilie und der Findung eines eigenen Erwachsenendaseins durchleben und wegen ihres noch niedrigen Einkommens auch durch den teuren Wohnungsmarkt behindert werden in ihrem Prozeß, eine autonome Erwachsenenidentität aufzubauen.

    Diese Entwicklungen lassen sich nicht bloß einseitig unter dem Wohlstandsaspekt erklären. Begünstigt wurden sie in den 60er und 70er Jahren vielmehr auch durch die gesellschaftliche Reformpolitik, die Chancen für die Umsetzung veränderter Lebensentwürfe mit gewachsenen Ansprüchen an Selbstbestimmung und Mitgestaltung - ganz wesentlich auch im Wohnbereich - schuf. In den letzten Jahren stoßen diese Entwicklungen wieder verstärkt auf Grenzen, auf zunehmende Prozesse von Marginalisierung, räumlicher Ausgrenzung und Abdrängen in Wohnungsnot:

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    Während bis in die 70er Jahre hinein Wohnungspolitik dazu beigetragen hatte, kompensatorisch zu wirken, soziale Ungleichheit in der Wohnqualität zu mildern, hat die seitdem wieder verstärkt einsetzende Marktorientierung und dementsprechend die politische und finanzielle Schwächung regulativer Elemente erneut und sogar deutlich verstärkt zu einer Verschärfung sozialer Disparitäten auch im Wohnbereich beigetragen. Und je länger eine solche Entwicklung anhält, desto stärker behindern ihre Effekte zukünftig zu gestaltende Maßnahmen.

    Die kommunale Manövriermasse für sozialpolitische Auffangstrategien verringerte sich drastisch durch das zeitliche Zusammentreffen von Stagnation im sozialen Mietwohnungsneubau, von massivem Bindungsauslauf im bestehenden sozialen Wohnungsbau sowie der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Folge waren Ghettobildungen: an den Stadträndern, in Containern, in Hotels und in anderen Notunterkünften. Gegen die Annahme, derartige Abgrenzungen könnten dauerhaft stabil sein, spricht die Erfahrung, daß die negativen sozialen und politischen Folgen der Marginalisierung auf dem Wohnungsmarkt genausowenig wie auf dem Arbeitsmarkt auf die Marginalisierten selbst begrenzt bleiben: So, wie auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitseinkommen, -rechte und -bedingungen aller Erwerbspersonen beeinträchtigt werden, so lassen sich analog vergleichbare Prozesse der Aufweichung von Schutzrechten, der Annahme früher inakzeptabler Bedingungen auch auf dem Wohnungsmarkt feststellen.

    Marginalisierung wird - wie gegenwärtig in der Sozialarbeit deutlich erkennbar - zunehmend teurer, und ihre gesamtgesellschaftlichen Kosten sind nicht allein finanzieller Art. Es entstehen auch soziale, politische und kulturelle "Kosten" durch die Ausgrenzung von breiten Teilen der Bevölkerung aus dem sozialen Leben eines Gemeinwesens: Zunehmende rechtsradikale, ausländerfeindliche und nationalistische Manifestationen, Angst, Aggressionen und Vandalismus im Alltag können die Folgen sein.

  1. Die erforderlichen Konsequenzen

    Die folgenden Anmerkungen betreffen primär den Mietwohnungsbau, weil hier der größere Bedarf und mehr öffentliche Gestaltungsmöglichkeiten bestehen. Im Eigenheimbau ist die Umsetzung individueller Wohnbedürfnisse im allgemeinen zwar einfacher, sie gilt aber nur für einen begrenzten Personenkreis und kann auch für eine verstädterte Gesellschaft wie die BRD keine allgemeine wohnungspolitische Perspektive sein.

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    Die angesprochenen Dimensionen von Wohnqualität sind nicht in der Weise wie Wohnflächen oder Mindestausstattung normierbar, weil die neuen Lebens- und Wohnformen äußerst vielfältig sind und demzufolge sehr viel differenziertere und flexiblere Antworten erfordern.

    Auch die Möglichkeiten der Realisierung von Wohnbedürfnissen sind sehr verschieden. Marktchancen und Zahlungsfähigkeit - wenn auch durch sozialstaatliche Maßnahmen gemildert - bestimmen sowohl die Artikulation als auch Verwirklichung von Wohnbedürfnissen. Hinter vermeintlicher Wohnzufriedenheit verbirgt sich oft auch Resignation mangels Alternativen. Das gilt erst recht in Zeiten von Wohnungsnot.

    Es bedarf somit veränderter Grundorientierungen, die den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend zu konkretisieren sind, und die als Minimalstandards allen Wohnungsbautätigkeiten vorgeschrieben werden müssen. Je mehr qualitative Standards verallgemeinert werden, desto stärker profitieren einkommensschwache und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen - die ja am wenigsten in der Lage sind, individuell für bessere Qualitäten zu sorgen - davon. Durch die verbindliche Festschreibung qualitativer Standards kann gegen die Scheinalternative - Wohnungsqualität oder Wohnungsversorgung - gerade in Zeiten akuter Wohnungsnot angegangen werden. (Die Strategie der IBA Emscherpark ist hier richtungsweisend, indem sie Mindeststandards in zentralen Bereichen - Ökologie- und Umweltverträglichkeit, NutzerInnenbeteiligung und Offenheit für neue Wohnformen, städtebauliche und architektonische Qualitäten - vorgibt.)

    Einige zentrale Aspekte solcher qualitativen Grundorientierungen - zusätzlich oder unterstreichend zu den zuvor erläuterten qualitativen Forderungen - sind:

    • Mischung, Flexibilität, Mindestausstattung

        Wohnungsneubau - und wo möglich auch umfangreichere Bestandsmaßnahmen - sollen

      • Mischungen unterschiedlicher Wohneinheiten aufweisen,
      • in den Grundrissen so weit wie möglich nutzungsneutral sein,
      • durch Zu- oder Wegschalten von Wohnungsteilen flexibel auf Haushaltsvergrößerungen oder -verkleinerungen reagieren können,
      • eine behindertengerechte Mindestausstattung aufweisen.

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        Dadurch können Veränderungen innerhalb von Familien, andere Haushaltsformen als die familiären, Veränderungen von Haushaltsgrößen, Behinderungen im Alter und anderes befriedigender gelebt bzw. gewohnt werden.

        Wohnungsbau mit größerer Variabilität und Flexibilität von Nutzungen muß gar nicht teurer sein, wie viele - vor allem im Ausland - realisierte Beispiele zeigen. Je normaler diese qualitative Grundorientierung wird, desto stärker können durch serielle Produktion Kosten eingespart werden. (Die (Schein-)Argumente höheren Kosten- und Zeitaufwands kaschieren allzu häufig die ablehnende Haltung bzw. Schwerfälligkeit von - auch kommunalen - Wohnungsbaugesellschaften gegenüber veränderten Anforderungen und neuen Konzeptionen.)

    • Quartiersbezogene Infrastruktur
      Über die Bedeutung quartiersbezogener Infrastruktur besteht heute weitestgehende Übereinstimmung. Sie ist besonders wichtig für all diejenigen, die die meiste Zeit in ihrer Wohnumwelt verbringen: Kinder, ältere Menschen, Nichterwerbstätige, aber auch berufstätige Frauen, die gegenwärtig und auf absehbare Zeit darauf angewiesen sind, daß die proklamierte Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch Wohnumweltbedingungen gefördert statt behindert wird. Solche Förderung umfaßt zum einen soziale und kommerzielle Dienstleistungen sowie quartiersnahe Arbeitsplätze, zum anderen eine räumliche und verkehrsmäßige Quartiersgestaltung, die kurze und gefahrlose Wege bietet und Kommunikation zuläßt.

    • Nachbarschaft, Gemeinschaft, gemeinschaftliche Einrichtungen
      Das Verhältnis von öffentlich und privat wird seit einigen Jahren neu bewertet. Nach Jahrzehnten der Verlagerung vieler ehemals gemeinschaftlicher Aktivitäten in die Privatsphäre der Wohnung wächst das Bewußtsein um die negativen Folgen von Vereinzelung und Entleerung öffentlicher, kultureller und sozialer Räume. Die bewußte bauliche Gestaltung von Gemeinschaft ist sicher nicht einfach (das Einküchenhaus der 20er Jahre wurde nicht angenommen) und darf keinesfalls gegen soziale und funktionale Strukturen erzwungen werden.

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      Jedoch lassen die vielfältigen Veränderungen im Lebens- und Wohnalltag - die Berufstätigkeit der Frauen, die weitergehende Abschwächung familiärer Bindungen und Netze sowie wachsendes ökologisches Bewußtsein - die Wiederbelebung von Nachbarschaftsbeziehungen und gemeinschaftlicher Nutzung von Einrichtungen erkennen. Beispiele aus Skandinavien und den Niederlanden zeigen dies deutlich.

      Gemeinschaft kann sich aber nicht in den dafür vorgesehenen Räumen entwickeln, wenn die Wohnumgebung kommunikationshemmend, monofunktional, eintönig oder sogar angstmachend ist, und insoweit besteht ein direkter Zusammenhang zur zuvor genannten qualitativen Grundorientierung der Quartiersbezogenheit. Lebendige Nachbarschaften berühren viele der hier angeschnittenen Themenbereiche: Alten- und behindertengerechtes Bauen oder ökologische Anforderungen an Wohnungs- und Städtebau dürfen nicht nur technisch abgehandelt werden. Wo z. B. Siedlungsformen Vandalismus provozieren, ist an ökologischen Umgang im Alltagsleben kaum zu denken. Dieser bedarf vielmehr einer Vertrautheit, einer Identifikation mit dem Quartier sowie der Möglichkeiten von Mitgestaltung und Selbstverantwortung.

    • Mitsprache, Mitgestaltung, Verfügungsrechte
      Ein wesentliches Merkmal neuer Lebens- und Wohnbedürfnisse besteht darin, über die individuelle Wohnung hinaus die Wohnumwelt mit einzubeziehen, und über die bloße Nutzung hinaus Mitsprache zu praktizieren. Dieses Bedürfnis nach Mitentscheidung und Mitgestaltung ist vielleicht die größte wohnpolitische Herausforderung. Mitwirkung stellt dabei eine Beteiligung von eigenständiger Qualität dar, die zu Veränderungen des Objektes führen kann. Warum sollte der gewachsene Anspruch an Mitsprache und Demokratie ausgerechnet aus dem zentralen Lebensbereich Wohnen ausgegrenzt bleiben?

      Schlecht funktionierende Mieterbeiräte sind kein Gegenargument, sondern spiegeln nur die Begrenztheit von Verfügungsrechten und echter Mitwirkung wider. Auch im Wohnbereich muß Demokratie gelernt und gestützt werden. Die positiven Beispiele zahlreicher Bewohnerinitiativen und Wohngruppenprojekte zei-

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      gen, welche Fähigkeiten, gerade auch für kreative Konfliktlösungen, vorhanden sind und aktiviert werden können.

      So verstanden impliziert Mitsprache und Mitgestaltung immer auch ein gewisses Maß an Verfügungsrechten, insbesondere in bezug auf die Sicherheit und die aktive qualitative Veränderung des Wohnens.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001

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