FES | ||
|
|
TEILDOKUMENT:
[Seite der Druckausgabe: 29] 6. Die Qualität Die meisten Überlegungen und Vorschläge zur Erfüllung des festgestellten Bedarfs sind zu eng bzw. einseitig auf Quantität und Finanzierung konzipiert, die Bau- und Wohnkultur bleibt außer acht. Viel zu selten und in viel zu geringer Konsequenz wird die - auch neu zu gestaltende - Qualität der Wohnungsversorgung einbezogen:
und vieles andere mehr. Erfahrungen hierzu gibt es seit langem, neue Wohnformen werden bereits gelebt. Es gibt aber für sie (noch) keinen wohnpolitischen Raum, und die gebauten Wohnungen sind nach wie vor meistens die den geänderten Anforderungen nicht genügenden uniformen 2- oder 3-Zimmer-Wohnungen. Die seit Jahren praktizierten neuen Wohnformen werden in Architektur, Wohnungsbau und -politik bisher - von theoretischen Überlegungen und einigen beispielgebenden Projekten abgesehen - kaum berücksichtigt. Angesichts des immensen Wohnungsbedarfs und der sich zeigenden historischen Zäsur in der Wohnkultur bietet sich heute aber die Chance, mit der Realisierung der Quantität zugleich den qualitativen Notstand zu beheben und die Geschichte der Wohnungsbaukultur positiv mitzugestalten. Dazu sind alle - die öffentlich Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen, die Wohnungsbauinstitutionen, Architektinnen und NutzerInnen - in ihrer jeweiligen Kompetenz mitverantwortlich gefordert. Einige dieser qualitativen Aspekte werden im folgenden genauer erörtert: [Seite der Druckausgabe: 30] 6.1 Ökologische Anforderungen Es gibt nicht nur zu wenige Wohnungen, es gibt auch zu viele falsche Wohnungen. Die qualitative Wohnungsnot, die in der Struktur der heutigen Wohnungsversorgung liegt, zeigt sich z. B. im Massenexodus der Bewohnerinnen aus ihren Quartieren an Wochenenden und in den Ferien auf der Suche nach Lebensqualitäten, die dann im Verkehrsstau und in überfüllten Erholungsgebieten doch nicht gefunden werden. Dabei kommt es durch die harten Formen der Freizeitgestaltung zunehmend zur Vernichtung von Erholungsqualitäten. Ein mögliches Gegenbild dazu liefert das ökologische Bauen: gartenbezogen, im Grünen, mit hohem Erholungswert - es ist Wohnen wie in den Ferien, eine sanfte Freizeitgestaltung ohne hohe Umweltbelastung, und es gibt unter ökologischen Rahmenbedingungen das gute Gefühl, mit Holzfassade, Naturfarben und Grasdach etwas für die Umwelt getan zu haben. Doch auch dieses Bild ist zu oberflächlich, trügerisch oder gar romantisch verklärt, denn auch ökologisches Bauen greift in die Natur bzw. Umwelt mit zum Teil einschneidenden, wenn auch nicht so offensichtlichen Veränderungen ein. Das ökologische Bauen muß sich deshalb von diesem vereinfachenden Bild lösen und dem komplexen Anspruch gerecht werden, den der Begriff Ökologie impliziert. Ein Großteil der ökologischen Maßnahmen, derer der Wohnungsbau dringend bedarf, ist kaum sichtbar und vermittelt sich nicht unmittelbar. Deswegen sind die ökologischen Anforderungen schwer zu greifen. Sie sind auch in jedem Einzelfall anders gelagert. Bei ökologischen Maßnahmen ist deshalb die jeweils spezielle Situation zu überprüfen und zu interpretieren. Im folgenden sollen einige Anforderungen bzw. Notwendigkeiten aufgezeigt werden, die den Wohnungsbau näher an die Ziele eines umwelt- und ressourcenschonenden Wirtschaftens heranführen.
[Seite der Druckausgabe: 31]
wobei möglichst die bereits vorhandene Infrastruktur genutzt wird.
Die Standortwahl darf aber nicht nur ausschließlich von der Seite der städtischen oder menschlichen Notwendigkeiten her gesehen werden. Vielmehr sind zwingend auch die Notwendigkeiten zu berücksichtigen, die aus dem Grün, aus der Umgebung heraus an das Bauen gestellt werden. Standorte sollten deshalb nicht liegen [Seite der Druckausgabe: 32]
Die Wohnform wird auch mehr und mehr durch die Aspekte Freizeit und Arbeit bestimmt. Freizeit ist eine wichtige Bestimmungsgröße für das Wohnen. Benötigt werden Diese Ziele, durch die eine stärkere Integration der Freizeit in das Wohnen erreicht werden soll, könnten einmal durch die Aufwertung der Küche zu einem Allraum mit angelagerten Nebenfunktionen, zum anderen durch eine Gleichräumigkeit möglichst vieler kleiner Räume (auch unter Einschluß von überzähligen Räumen) erreicht werden. Das sollte zu Lasten der klassischen Funktionen des Wohnens gehen. (Der sogenannte Wohnraum von 30 qm z. B. ist heute in der Regel sicher nicht der Raum, der zum Wohnen gebraucht wird, sondern eher zum Fernsehen und Repräsentieren.) Es geht auch zunehmend darum, die bisher außerhäusliche Arbeit in das Wohnleben zu integrieren. Dies gilt vor allem für Alleinerziehende, die darauf angewiesen sind, viele Funktionen zu Hause zu erledigen, die aber auch die Möglichkeit haben müssen, zu arbeiten. Aber auch Elternpaare sollten diese Möglichkeit, zunehmend zu Hause zu arbeiten, haben, um den Komplex Erziehung und Arbeit besser zusammenbringen und auch ihren Kindern die Möglichkeit bieten zu können. Arbeitszusammenhänge von vorneherein erleben zu können und nicht entfremdet von diesen Alltagszusammenhängen aufwachsen zu müssen. Das heißt: Neue Formen des Wohnens müssen dringend bei der Grundriß- und Häusergestaltung berücksichtigt werden. Dafür gibt es in anderen Ländern Beispiele - wie die sogenannten Electronic Cottages in den USA, wo Menschen zu Hause am Computer arbeiten und ihre Wohnung wenig verlassen -, mit denen eine kritische Auseinandersetzung notwendig erscheint. (Während bestimmter Lebensphasen können solche Formen des Wohnens und Arbeitens durchaus sinnvoll sein.) [Seite der Druckausgabe: 33]
Funktionen des Hauses herstellen und aufrechterhalten zu können. Die technischen Funktionen sollten also nicht weiter schamvoll versteckt und vor allem nicht in dem heutigen Ausmaß externalisiert sein. Die notwendige intensivere Einbeziehung der NutzerInnen in technische Aspekte des Wohnens kann mit verschiedenen Ansätzen erreicht werden: Wenn Technik, die bisher externalisiert, d. h. den NutzerInnen unzugänglich, fremd und demzufolge auch relativ egal war, durch solche Maßnahmen sozusagen internalisiert wird, wird die Ver- und Entsorgung der Wohnung/des Hauses transparenter. Damit sind höhere Investitionskosten, aber nicht zwangsläufig höhere Gesamtkosten (Investitions-, Betriebs- und Wartungskosten) verbunden. [Seite der Druckausgabe: 34]
Als unbedingtes Ziel sollte daher verfolgt werden, daß - unter Berücksichtigung der Kosten der Umweltbelastung und ihrer Beseitigung - eine Degression der Gesamtkosten erreicht wird. Die Baumaterialien sollten so weit wie möglich recycelbar, umweltfreundlich, dauerhaft und insbesondere für die NutzerInnen handhabbar sein. Mit zunehmender Freizeit und steigendem Interesse an der Wohnung wird auch das Bedürfnis der NutzerInnen wachsen, die Wohnung/das Haus zu verändern, anzupassen und laufend umzugestalten. [Seite der Druckausgabe: 35] eine komplexe Architektur, die städtebauliche, gestalterische, nutzerInnen-relevante und ökologische Aspekte berücksichtigt. Die wichtigen ökologischen Maßnahmen beim Hausbau sollten also weitergehend in den Wettstreit um eine baulich gut gestaltete Umwelt einbezogen werden. Ökologisches, d. h. umwelt- und ressourcenschonendes Bauen muß sich zu einer Normalität im Wohnungsbaualltag entwickeln. Im vergangenen Jahrzehnt wurde begonnen, Konzepte für ökologisches Bauen aufzustellen und umzusetzen. Die heutige Situation zeigt aber, daß aufgrund der Nachfrage das ökologische Engagement vom Wohnungsbau weg auf andere Bauvorhaben umgelenkt worden ist: Heutzutage sind im gewerblichen Bereich ökologische Ziele einfacher zu realisieren als im Wohnungsbau (z. B. bei der Regenwassernutzung). Der Wohnungsbau hat also seine Leitfunktion - in bezug auf ökologische, aber auch hinsichtlich sozialer und weiterer Aspekte - verloren. Architektur und Städtebau können sich heute nicht mehr mit den Richtlinien des sozialen Wohnungsbaus aus der Zeit des "Dritten Reichs" zufriedengeben. Sie müssen die Möglichkeit erhalten, diese Richtlinien kreativ zu nutzen und im Sinne eines umwelt- und ressourcenschonenden Bauens zu interpretieren. Dann kann aus dem sozialen ein sozial-ökologischer Wohnungsbau entstehen. Angesichts des großen Baubedarfs könnte der so definierte sozial-ökologische Wohnungsbau wieder eine Leitfunktion übernehmen. Dabei müßte er den komplexen Ansprüchen an Architektur hinsichtlich Inhalt und Form von Gebäuden Rechnung tragen. Um von einzelnen vorbildlichen Pionierleistungen zum Normal- bzw. Regelfall im Wohnungsbau zu gelangen, um das Wissen um ökologische Details und isolierte Aspekte in ihren komplexen Gesamtzusammenhang zu bringen, bedarf es sicher der Koordinierung der separierten Bereiche Grundlagenforschung und Baupraxis: Es bedarf vermehrt des technischen, sozialen und architektonischen Experiments als integrative und praktische Aufgabe. Gefordert wird ein allgemein akzeptierter ökologischer Katalog von heute erkannten Selbstverständlichkeiten, die bislang leider gar nicht selbstverständlich praktisch umgesetzt werden. Dieser kurzfristig zu erarbeitende Katalog muß praktikabel sein und als Zusammenstellung von unabdingbaren Anforderungen der Ökologie verbindlich in den Förderungsrichtlinien der Länder verankert werden. Auf dieser Basis können [Seite der Druckausgabe: 36] die heute üblichen Konflikte zwischen Ökologie auf der einen Seite und Wohnungsbau bzw. sonstigen Zielbereichen auf der anderen Seite entschärft werden. 6.2 Grundriß- und Fassadengestaltung Gleich Wohnbedürfnissen und Wohnformen ist auch die Organisation von Räumen, die Grundrißgestaltung, nie statisch: Wohnen hat Geschichte, Wohnen wird historisch gelebt. In Europa formulierte seit Ende des 18. Jh. das Bürgertum als neue gesellschaftspolitische Macht seinen neuen Wohnbegriff. Neu gesehene und eigeninterpretierte Wohnverhältnisse und Bedürfnisse bedingten eine neue Organisation von Wohn-Raum: Es werden Grundrisse mit Raumspezialisierung für hierarchisierte Wohnvorgänge entwickelt, und die Intimität von Räumen wird zur Forderung. Es entstehen der bürgerliche Salon, die separierten Räume für Essen oder Schlafen. Ein Bad gibt es noch nicht. Die Küche bleibt für vielstufige häusliche Produktion wichtig. Das Raumgefüge der Grundrisse ist außen - in der Art überlieferter Fassadenordnung - nicht ablesbar. Die bürgerliche Vorderhauswohnung des 19. Jh. mit eklektischer Fassade verbirgt eine Grundrißqualität, die wir heute im Zuge der Aufwertung der Innenstädte und ihrer Randgebiete anders beurteilen als Kritiker vor sechzig Jahren. (Das im Laufe des 19. Jh. mit Industrialisierung und Verstädterung entstehende Massenwohnelend in den Hinterhöfen und Slums muß erwähnt werden, hier aber zunächst ausgeklammert bleiben.) Hinter den stereotypen, durch Dekoration diversifizierten Fassaden erstreckte sich in der Regel ein fast nichtssagender, wirtschaftlich durch minimierte Herstellungskosten optimierter Grundrißstandard, bestehend aus etwa gleich großen Wohnräumen. Diese meist spekulativ errichteten Wohnungen entsprachen den unspezialisierten Wohnbedürfnissen. Nachteilig war nicht selten die fehlende Besonnung, schlechte Querbelüftbarkeit und ungünstige Lage der Küchen. Bäder fehlten meist, während WCs weitgehend vorhanden waren. Die unpraktische Organisation der Wohnungen spielte keine Rolle, da bis ins kleinbürgerliche Milieu fast kostenlos arbeitendes Personal reichlich verfügbar war. Inzwischen ist das Interesse an diesen Gründerzeitwohnungen ihrer Flexibilität durch Gleichräumigkeit und relativer Großzügigkeit wegen sehr [Seite der Druckausgabe: 37] groß, selbstverständlich erst nach technisch-sanitärer Hochrüstung und extensiver Belegung, die jeder Person 50 qm zur Verfügung stellt. Beliebt ist auch der etwas hermachende Fassadenprunk. Die sozial-humane Wohnbewegung des frühen 20. Jahrhunderts bis 1930, einhergehend mit breiter gesellschaftlicher Emanzipation, hat den Versuch unternommen, den Freiheitsraum der Massen durch Wohnung zu erweitern, dem Wohnen eine neue Ästhetik durch hohe Bewertung des gesunden Wohnens, des egalitären Wohnens zu vermitteln und dies so zu funktionalisieren, daß bei für jeden tragbaren Kosten Freistellung von überflüssiger Arbeit, persönliche Entfaltung, Individualität und ein fruchtbarer Gegensatz zwischen Gemeinschaftlichkeit und Privatheit mit allen Übergängen ermöglicht werden sollte. Es wurden verbesserte Grundrißdispositionen entwickelt, und die Fassadenkosmetik, welche Ordnungen zeigte, die mit dem Leben hinter den Außenwänden überhaupt nichts mehr zu tun hatten, wurde zunehmend in Frage gestellt. Nach dem Zusammenbruch des alten Europa im Ersten Weltkrieg kam es in Deutschland und den Nachbarländern zur einmaligen gesellschaftspolitischen und baukulturellen Leistung des Neuen Bauens, das vor allem Wohnbauen auf sozialer und humaner Grundlage war und seine neuen Wohnerkenntnisse in der neuen demokratisch-republikanischen Ästhetik nach außen projizierte. Dieses neue Konzept wurde nur von fortschrittlichen Kräften akzeptiert; die breiten Massen konnten von diesem Bauen wegen der allgemeinen Notlage der Länder nicht erreicht werden. Bald gingen die hervorragenden Ansätze unter dem Druck eingreifender Sparmaßnahmen ins allgemeine Minimieren über. Die Minimalgrundrisse der Wohnungen für das Existenzminimum der "Reichsforschungsgesellschaft für Wirtschaftlichkeit im Bau- und Wohnungswesen" 1930 zielten darauf ab, für alle Wohnungen zu beschaffen; zugleich begründeten sie aber eine schlimme Tradition. Diese Tradition zieht sich hin durch das "Dritte Reich", das dann als Normengeber für den gesamten Wiederaufbau und sozialen Nachkriegswohnungsbau wirkte. Dabei ist die Grundrißqualität des sozialen Wohnungsbaus traditioneller Art nie so schlecht gewesen wie die zugehörige Fassadengestaltung des rein nach ökonomischen Kriterien durchgeführten Massenwohnungsbaus diverser Riesenmaßnahmeträger in den 60er und Anfang der 70er Jahre. [Seite der Druckausgabe: 38] Das Hauptübel dieser Fehlerfüllung massiver Bedürfnisse war der Verrat an den grundlegenden Ideen des Neuen Bauens. Dieser war so gravierend, daß heute wieder Fragen nach der Vereinbarkeit von Grundrißqualität und Fassadengestaltung gestellt werden müssen. Der neuerdings z. B. bei der IBA Berlin aufgekommene Ansatz, bei dem historische Fassaden vergewaltigten sozialen Wohngrundrissen vorgeblendet werden, ist die falsche Antwort. Er spiegelt allerdings die Reduzierung des sozial-humanen Ansatzes der Wohnbewegung sehr deutlich wider. Grundrißqualität und äußere Erscheinung des Hauses sind nur vereinbar, wenn einige ehrliche Ansätze beachtet werden:
Die Gestaltung solcher neuen Grundrisse würde deutliche Auswirkungen auf die Fassaden haben. Stereotypie läßt sich dabei durch intelligente Variation besser vermeiden als durch aufgeklebte Dekoration. Architekten, die noch immer meinen, jegliches Gebaute zwanghaft auf große, publizierbare Architektur umfrisieren und Menschen in ihre monumentalen Einfälle verfrachten zu müssen, um selbst zu glänzen, sollten sich nicht mit Wohnbau beschäftigen. [Seite der Druckausgabe: 39] Wohnbau kann auch Architektur sein. Es ist aber besser, er gewinnt seinen architektonischen Wert im hervorragenden und menschlichen städtebaulichen Kontext als durch aufgesetzte Eigenheiten, die mit der konkreten Lebenssituation der Bewohner nichts oder nur mittelbar zu tun haben. Gute Ansätze, auch für die Kongruenz von Grundriß- und Fassadenqualität, sind mancherorts sichtbar. Hier sind insbesondere die Kommunen in ihrer Handlungskompetenz und ihrem Mut zum Experiment unter Beteiligung der WohnungsnutzerInnen viel mehr als bisher gefordert! Zu hoffen ist, daß unsere Gesellschaft angesichts neuer Wohnanforderungen aufgrund der Auflösung traditioneller Lebens- und Familienformen und in Behebung des horrenden Wohnungsmangels diesmal die Weiterentwicklungen sozial-humanen Bauens abfragt. 6.3 Neue Lebens- und Wohnformen Wohnungsneubau ist heute nach wie vor weitestgehend traditionell orientiert. Die Wahrnehmung und Akzeptanz neuer Lebens- und Wohnformen ist viel zu gering, ihre Bewertung als minoritär viel zu eng und damit falsch, denn es gibt bei den Wohnungsnachfragern umfassende sowie einschneidende Veränderungen, die aus strukturellen Wandlungen in Familien- und Haushaltsformen resultieren und demzufolge mehr und nachhaltiger wirksam sind als Modeströmungen. Die ungenügende Beachtung dieser demographischen und sozio-kulturellen Veränderungen läuft Gefahr, kostbare Ressourcen am Bedarf vorbei zu vergeuden. Dementsprechend muß Wohnungsbaupolitik heute - erst recht im Hinblick auf den prognostizierten immensen Neubau-Bedarf und den gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch - zugleich qualitative Wohnungsbauförderung sein.
[Seite der Druckausgabe: 40]
Bekannt sind in erster Linie die statistischen Veränderungen bei den Haushalten, nämlich der Rückgang der klassischen Kernfamilien- und die Zunahme vor allem der Einpersonenhaushalte: 1987 fast 1/4 in kleinen Gemeinden (unter 5.000 Einwohner) und etwa 45% in Großstädten (über 100.000 Einwohner), und zwar mit steigender Tendenz. Die statistische Größe Einpersonenhaushalt sagt sozio-kulturell wenig aus; dahinter verbergen sich sehr verschiedene Lebens- und Wohnformen: Aber auch bei den Mehrpersonenhaushalten nimmt der Anteil neuer Lebensformen zu: Neu an diesen Haushaltstypen ist nicht allein ihr quantitatives Ausmaß, sondern die Tatsache, daß es sich hier nicht mehr nur um Übergangsformen - vor der Heirat, nach der Scheidung, nach dem Tod des Partners - handelt, sondern vielmehr um eigenständige und dauerhafte Lebensformen. Damit ist die gesellschaftspolitisch-kulturelle Dimension angesprochen: nämlich die Konsequenzen, die gestiegene Einkommen, Zunahme an Freizeit, höheres Bildungs- und Qualifikationsniveau sowie die relativ hohe soziale Absicherung auf den Lebensalltag einer stärker als jemals zuvor an Selbstverwirklichung orientierten Bevölkerung haben. Aufgrund dieser Entwicklungen mußten Wohnbedürfnisse und -qualität an Bedeutung gewinnen. Ihre hochgradig aktuelle Thematisierung weist auch auf jahrelange Versäumnisse hin. Die Bedeutung der Wohnung als Raum, in dem arbeitsfreie Zeit selbstbestimmt verbracht wird, ist - nebst kritischer Tendenzen der Vereinzelung und des passiven Konsums (Fernsehen und Video) - gestiegen. Gestiegen ist aber auch die Bedeutung des Wohnumfeldes, der Bedarf an sozialer und kultureller Infrastruktur (nicht nur in großstädtischen Zentren) sowie das Bedürfnis nach neuen Formen von Nachbarschaft und [Seite der Druckausgabe: 41]
Gemeinschaftlichkeit und die Forderung nach wohngebietsnahen Arbeitsplätzen. Alle diese Bedürfnisse stellen das lange Zeit gültige Leitbild der strikten Funktionstrennung städtischen Lebens (Arbeit/Wohnen/Verkehr/ Freizeit) und die traditionelle Wohnorientierung an den Ansprüchen der Kernfamilie massiv in Frage. Trägerinnen solcher Bedürfnisse sind vor allem Frauen, junge und - in zunehmendem Maße - auch ältere Menschen, am wenigsten die Männer und Familienväter, die jahrzehntelang direkt oder indirekt die "natürlichen" Adressaten der traditionellen, familienorientierten Wohnungspolitik gewesen sind: Diese Entwicklungen lassen sich nicht bloß einseitig unter dem Wohlstandsaspekt erklären. Begünstigt wurden sie in den 60er und 70er Jahren vielmehr auch durch die gesellschaftliche Reformpolitik, die Chancen für die Umsetzung veränderter Lebensentwürfe mit gewachsenen Ansprüchen an Selbstbestimmung und Mitgestaltung - ganz wesentlich auch im Wohnbereich - schuf. In den letzten Jahren stoßen diese Entwicklungen wieder verstärkt auf Grenzen, auf zunehmende Prozesse von Marginalisierung, räumlicher Ausgrenzung und Abdrängen in Wohnungsnot: [Seite der Druckausgabe: 42]
Während bis in die 70er Jahre hinein Wohnungspolitik dazu beigetragen hatte, kompensatorisch zu wirken, soziale Ungleichheit in der Wohnqualität zu mildern, hat die seitdem wieder verstärkt einsetzende Marktorientierung und dementsprechend die politische und finanzielle Schwächung regulativer Elemente erneut und sogar deutlich verstärkt zu einer Verschärfung sozialer Disparitäten auch im Wohnbereich beigetragen. Und je länger eine solche Entwicklung anhält, desto stärker behindern ihre Effekte zukünftig zu gestaltende Maßnahmen. Die kommunale Manövriermasse für sozialpolitische Auffangstrategien verringerte sich drastisch durch das zeitliche Zusammentreffen von Stagnation im sozialen Mietwohnungsneubau, von massivem Bindungsauslauf im bestehenden sozialen Wohnungsbau sowie der Abschaffung der Wohnungsgemeinnützigkeit. Folge waren Ghettobildungen: an den Stadträndern, in Containern, in Hotels und in anderen Notunterkünften. Gegen die Annahme, derartige Abgrenzungen könnten dauerhaft stabil sein, spricht die Erfahrung, daß die negativen sozialen und politischen Folgen der Marginalisierung auf dem Wohnungsmarkt genausowenig wie auf dem Arbeitsmarkt auf die Marginalisierten selbst begrenzt bleiben: So, wie auf dem Arbeitsmarkt die Arbeitseinkommen, -rechte und -bedingungen aller Erwerbspersonen beeinträchtigt werden, so lassen sich analog vergleichbare Prozesse der Aufweichung von Schutzrechten, der Annahme früher inakzeptabler Bedingungen auch auf dem Wohnungsmarkt feststellen. Marginalisierung wird - wie gegenwärtig in der Sozialarbeit deutlich erkennbar - zunehmend teurer, und ihre gesamtgesellschaftlichen Kosten sind nicht allein finanzieller Art. Es entstehen auch soziale, politische und kulturelle "Kosten" durch die Ausgrenzung von breiten Teilen der Bevölkerung aus dem sozialen Leben eines Gemeinwesens: Zunehmende rechtsradikale, ausländerfeindliche und nationalistische Manifestationen, Angst, Aggressionen und Vandalismus im Alltag können die Folgen sein. [Seite der Druckausgabe: 43]
Die angesprochenen Dimensionen von Wohnqualität sind nicht in der Weise wie Wohnflächen oder Mindestausstattung normierbar, weil die neuen Lebens- und Wohnformen äußerst vielfältig sind und demzufolge sehr viel differenziertere und flexiblere Antworten erfordern. Auch die Möglichkeiten der Realisierung von Wohnbedürfnissen sind sehr verschieden. Marktchancen und Zahlungsfähigkeit - wenn auch durch sozialstaatliche Maßnahmen gemildert - bestimmen sowohl die Artikulation als auch Verwirklichung von Wohnbedürfnissen. Hinter vermeintlicher Wohnzufriedenheit verbirgt sich oft auch Resignation mangels Alternativen. Das gilt erst recht in Zeiten von Wohnungsnot. Es bedarf somit veränderter Grundorientierungen, die den jeweiligen Gegebenheiten entsprechend zu konkretisieren sind, und die als Minimalstandards allen Wohnungsbautätigkeiten vorgeschrieben werden müssen. Je mehr qualitative Standards verallgemeinert werden, desto stärker profitieren einkommensschwache und sozial benachteiligte Bevölkerungsgruppen - die ja am wenigsten in der Lage sind, individuell für bessere Qualitäten zu sorgen - davon. Durch die verbindliche Festschreibung qualitativer Standards kann gegen die Scheinalternative - Wohnungsqualität oder Wohnungsversorgung - gerade in Zeiten akuter Wohnungsnot angegangen werden. (Die Strategie der IBA Emscherpark ist hier richtungsweisend, indem sie Mindeststandards in zentralen Bereichen - Ökologie- und Umweltverträglichkeit, NutzerInnenbeteiligung und Offenheit für neue Wohnformen, städtebauliche und architektonische Qualitäten - vorgibt.) Einige zentrale Aspekte solcher qualitativen Grundorientierungen - zusätzlich oder unterstreichend zu den zuvor erläuterten qualitativen Forderungen - sind: [Seite der Druckausgabe: 44]
Dadurch können Veränderungen innerhalb von Familien, andere Haushaltsformen als die familiären, Veränderungen von Haushaltsgrößen, Behinderungen im Alter und anderes befriedigender gelebt bzw. gewohnt werden. Wohnungsbau mit größerer Variabilität und Flexibilität von Nutzungen muß gar nicht teurer sein, wie viele - vor allem im Ausland - realisierte Beispiele zeigen. Je normaler diese qualitative Grundorientierung wird, desto stärker können durch serielle Produktion Kosten eingespart werden. (Die (Schein-)Argumente höheren Kosten- und Zeitaufwands kaschieren allzu häufig die ablehnende Haltung bzw. Schwerfälligkeit von - auch kommunalen - Wohnungsbaugesellschaften gegenüber veränderten Anforderungen und neuen Konzeptionen.) [Seite der Druckausgabe: 45]
Jedoch lassen die vielfältigen Veränderungen im Lebens- und Wohnalltag - die Berufstätigkeit der Frauen, die weitergehende Abschwächung familiärer Bindungen und Netze sowie wachsendes ökologisches Bewußtsein - die Wiederbelebung von Nachbarschaftsbeziehungen und gemeinschaftlicher Nutzung von Einrichtungen erkennen. Beispiele aus Skandinavien und den Niederlanden zeigen dies deutlich. Gemeinschaft kann sich aber nicht in den dafür vorgesehenen Räumen entwickeln, wenn die Wohnumgebung kommunikationshemmend, monofunktional, eintönig oder sogar angstmachend ist, und insoweit besteht ein direkter Zusammenhang zur zuvor genannten qualitativen Grundorientierung der Quartiersbezogenheit. Lebendige Nachbarschaften berühren viele der hier angeschnittenen Themenbereiche: Alten- und behindertengerechtes Bauen oder ökologische Anforderungen an Wohnungs- und Städtebau dürfen nicht nur technisch abgehandelt werden. Wo z. B. Siedlungsformen Vandalismus provozieren, ist an ökologischen Umgang im Alltagsleben kaum zu denken. Dieser bedarf vielmehr einer Vertrautheit, einer Identifikation mit dem Quartier sowie der Möglichkeiten von Mitgestaltung und Selbstverantwortung. [Seite der Druckausgabe: 46] gen, welche Fähigkeiten, gerade auch für kreative Konfliktlösungen, vorhanden sind und aktiviert werden können. So verstanden impliziert Mitsprache und Mitgestaltung immer auch ein gewisses Maß an Verfügungsrechten, insbesondere in bezug auf die Sicherheit und die aktive qualitative Veränderung des Wohnens. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Januar 2001 |