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TEILDOKUMENT:
1. Die Lage der Wirtschaft in der Region Osnabrück
Druck-Ausgabe: Seite 3
1.1 Die Entwicklung einzelner Wirtschaftbereiche
Mit der aktuellen Situation und den Perspektiven der regionalen Wirtschaft befaßte sich ein Teil des Referats von Hubert Dinger, dem Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Osnabrück-Emsland. Was die Schaffung zusätzlicher Arbeitsplätze angehe, so Dinger, weisen die Zahlen für die letzten 10 Jahre die Unternehmen des IHK-Bezirks als die erfolgreichsten nicht nur im Regierungsbezirk Weser-Ems, sondern sogar in ganz Niedersachsen aus. [Fn 1: Die Analyse bezieht sich auf die Jahre 1981 bis 1991, vgl. Industrie - und Handelskammer Osnabrück - Emsland (Hrsg.): Stärken - /Schwächenanalyse des IHK - Bezirks Osnabrück - Emsland, Osnabrück 1992]
Abweichend vom allgemeinen positiven Trend in der Industrie lokalisiert die Industrie- und Handelskammer Probleme besonders in der Stahlindustrie, im Maschinenbau, hier ganz besonders im Landmaschinenbau, bei der Möbelindustrie und bei der Textilwirtschaft. Die Lage im Dienstleistungsbereich bezeichnete Dinger sogar als sehr gut. Insbesondere seien hier die Bereiche:
zu nennen, bei denen es in den letzten Jahren geradezu Quantensprünge gegeben habe. Einschränkend müsse zu der Entwicklung in diesen Wirtschaftsbereichen allerdings angemerkt werden, daß es hier jeweils ein recht niedriges Ausgangsniveau gegeben habe, so daß die Anzahl der neu entstandenen Arbeitsplätze in diesen Bereichen absolut nicht sehr bedeutsam sei. Dennoch könne man bei ihnen sicherlich von Hoffnungsträgern für die Zukunft der Region sprechen. Zum Sektor Banken und Versicherungen merkte Dinger an, daß es historisch bedingte Defizite in der Region gebe. Das Fehlen größerer Banken- und Versicherungszentren, wie sie z.B. Oldenburg vorweisen könne, lasse die Bilanz für die Region Osnabrück nicht ganz so positiv ausfallen. Auch hier wären bei einem höheren Ausgangsniveau mehr neue Arbeitsplätze entstanden. Daß die Rechnung unter dem Strich trotzdem so gut ausfalle, spreche ganz eindeutig für die Dynamik des Raumes und die in ihm Agierenden. Druck-Ausgabe: Seite 4 Im Einzelhandel habe nach den jüngsten Berechnungen der IHK die Stadt Osnabrück als Oberzentrum einen Kaufkraftzufluß von 610 Mio. DM aus dem Umland erfahren, d.h. in diesem Umfang haben Auswärtige beim Einzelhandel der Stadt gekauft. Das entspreche einer Kaufkraftzuflußquote von 40 vH, sie liege damit deutlich z.B. über der von Münster und Bielefeld. Diese Attraktivität des Osnabrücker Einzelhandels stellt nach Dingers Meinung eine ganz wichtige Säule der regionalen Wirtschaft dar, die es zu verteidigen gelte, denn die Mittelzentren im Umfeld seien in den letzten Jahren sehr viel stärker gewachsen. Eine wesentliche Rolle werde in diesem Zusammenhang der Erreichbarkeit der Stadt zufallen, die es zu erhalten und partiell sogar zu verbessern gelte. Osnabrück war und ist die Stadt des Großhandels, führte Dinger weiter aus, obwohl sich auch in diesem Sektor ein kräftiger Strukturwandel vollziehe. Immer größer werde dabei der Anteil des problemlösenden im Vergleich zum nur verteilenden Großhandels in der Region. Nach seiner Einschätzung ist diese Entwicklung positiv zu bewerten, denn für die Zukunft sei zu erwarten, daß besonders dieser Bereich des Großhandels Bestand habe. Auch der Verkehrssektor stelle traditionell eine tragende Säule der Wirtschaftskraft der Region dar: Osnabrück, die Stadt des Verkehrs. Wegen der sich aktuell vollziehenden Strukturverwerfungen lokalisiert die Industrie- und Handelskammer in diesem Sektor allerdings Gefahren für die Beschäftigung. Zum einen sei inzwischen die ausländische Konkurrenz, z.B. aus Osteuropa, in der Region präsent. Sie könne Ware zu weitaus günstigeren Tarifen als das einheimische Speditionsgewerbe fahren. Zum anderen sei es längst zu einem Ausflaggen von Speditionen in Richtung Niederlande gekommen. Deutsche Spediteure können, so Dinger, auf der Grundlage der niederländischen gesetzlichen Bestimmungen preiswerter fahren, wenn sie die Arbeitnehmer nach deutschem Recht einstellen. Der Betriebssitz werde dabei nach Holland verlagert, die Firmenzentrale bleibe in Deutschland. Erfreulicherweise stelle diese Entwicklung aber keine Einbahnstraße für die Beschäftigung via Holland dar, denn es könne auch beobachtet werden, daß holländische Spediteure ihre Verwaltung zum Beispiel in die Grafschaft Bentheim verlagern, den Betriebssitz in Holland belassen und über deutsches Recht ihre niederländischen Fahrer einstellen. Dingers zusammenfassende Einschätzung der aktuellen Lage lautete dann, daß der Wirtschaftsraum Osnabrück - Grafschaft Bentheim - Emsland mit Fug und Recht als prosperierend bezeichnet werden könne. Bei entsprechender Pflege habe die Region gute Chancen, weiter zu wachsen. Eine wichtige Voraussetzung dazu sei durch die günstige geographische Lage gegeben. Schon in den vergangenen Jahrzehnten sei der Raum Osnabrück-Emsland mehr und mehr zu einem Bindeglied zwischen dem Ruhrgebiet, den Standorten an der Küste sowie den Niederlanden und dem niedersächsischen Raum geworden. Durch die zunehmende Integration der europäischen Länder, insbesondere durch den Druck-Ausgabe: Seite 5 europäischen Binnenmarkt und die Öffnung der osteuropäischen Staaten liege der Raum strategisch günstig zwischen den Märkten in Ost- und Westeuropa und im Einflußbereich großräumiger. Die Region verfüge heute über eine gute Infrastrukturausstattung und hohe Standortqualität und damit günstige Chancen in einem europäischen Standortwettbewerb. Dennoch mahnte Dinger besonders den Lückenschluß der A33 und den Bau der A31 als dringend notwendig an. Man habe in der Region auch den Vorteil niedriger Lebenshaltungskosten sowie relativ günstiger Mieten und Grundstückspreise. Engpässe gebe es dagegen im Oberzentrum Osnabrück, wo praktisch kaum noch Flächenreserven zur Verfügung stünden. Auch in den Umlandgemeinden würden Industrie- und Gewerbeflächen allmählich knapp, aber hier sei ja auch Bewegung in der politischen Diskussion, um zu einem gemeinsamen Vorgehen zu kommen. Die vielfältige Wirtschaftsstruktur biete günstige Zukunftsperspektiven, besonders wenn es gelänge, die strategischen Erfolgsfaktoren der regionalen Wirtschaftsentwicklung weiterhin erfolgreich zu nutzen. Neben der Attraktivität des Standortangebotes zählen dazu, führte Dinger weiter aus, das Niveau und die Verbreitung technischen Wissens in der Wirtschaft sowie das Qualifikationsniveau und die Mobilität der Arbeitskräfte. Das deutlich unter dem Bundesdurchschnitt liegende Durchschnittsalter der Bevölkerung in der Region stelle aber auch eine große Verpflichtung zu permanenten Strukturverbesserungen dar. Wenn es gelänge, den Arbeitskräften von morgen in dem gut ausgestatteten Schul- und Bildungswesen die beruflichen Fähigkeiten zu vermitteln, die in den nächsten 20 Jahren nachgefragt würden, stiege die Attraktivität des Raumes für auswärtige Investoren weiter, wenn diese hinreichende freie Gewerbeflächen vorhanden.. Man müsse auch die Fachhochschule und die Universität Osnabrück noch mehr als Standortfaktor, als Schlüssel für den regionalen Erfolg von morgen begreifen. Es gebe allerdings auch Schwächen, die nicht verschwiegen werden sollten. Nachholbedarf bestehe immer noch bei den unternehmensbezogenen Dienstleistungen, es gebe weiterhin nur unzureichende Beschäftigungsmöglichkeiten für Hochqualifizierte, kritisch anzumerken sei aber auch die zu geringe Exportorientierung der regionalen Wirtschaft und die zu geringe Bekanntheit der Stadt Osnabrück. Es müsse gelingen, die noch vorhandenen Schwächen im Zusammenspiel aller regionalpolitisch Verantwortlichen zu überwinden, besonders aber die vielen Stärken der Region noch besser darzustellen. Die Zukunft des Raumes Osnabrück sehe also zweifellos positiv aus, äußerte sich Dinger abschließend. Die noch Mitte der 80er Jahre häufig geäußerte Befürchtung, es drohe eine Abkoppelung der Region von der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung in der Druck-Ausgabe: Seite 6 Bundesrepublik, hat sich somit als offenbar unbegründet herausgestellt. [Fn 2: Vgl. Meyer, B.: Die Entwicklung der sektoralen Wirtschaftsstruktur der Stadt und des Raumes Osnabrück. In: Stadt Osnabrück/Der Oberstadtdirektor (Hrsg.): Perspektiven der Stadtentwicklung: Ökonomie - Ökologie. Osnabrück 1988, S. 31.]
Dieser konjunkturelle Abschwung ist in den Zahlen für den Zeitraum von 1981 bis 1991, auf die sich die Analyse der IHK stützt, noch nicht enthalten. Von der prosperierenden Region Osnabrück-Grafschaft Bentheim-Emsland sollte man daher in der jetztigen konjunkturellen Situation sicherlich nur relativ, eben im Vergleich zu den übrigen Regionen des Landes Niedersachsen sprechen.
1.2. Die Situation auf dem Arbeitsmarkt
Über die aktuelle Lage auf dem Arbeitsmarkt der Region und seine Perspektiven referierte Gotthard Czekalla, Leiter des Arbeitsamtes Osnabrück. Sein Beitrag bestand im wesentlichen aus drei Thesen. These 1: Der regionale Arbeitsmarkt Osnabrück ist, gemessen an vergleichbaren Wirtschaftsräumen in Niedersachsen, noch am geringsten von Arbeitslosigkeit betroffen. Im Arbeitsamtsbezirk Osnabrück, der die Stadt und den Landkreis Osnabrück umfaßt, seien in der Zeit von 1985 bis 1992 rund 32.000 Arbeitsplätze für sozialversicherungspflichtig Beschäftigte entstanden, berichtete Czekalla. Prozentual gesehen war diese Zunahme deutlich höher als im Landes- und Bundesdurchschnitt. Von diesem Zuwachs profitiere der regionale Arbeitsmarkt zur Zeit noch, wobei die stolze Zahl von 172.000 sozialversicherungspflichtig Beschäftigten Ende 1992 leider der Vergangenheit angehöre. Es seien heute 18.500 Personen beim Arbeitsamt Osnabrück arbeitlos gemeldet, und gut 3.000 Personen würden verkürzt arbeiten, führte Czekalla weiter aus. Die Dynamik eines Arbeitsmarktes würde aber durch die Bewegungszahlen beschrieben. In diesem Jahr, das von einer allgemeinen Rezession geprägt sei, hätten sich auf der einen Seite bis Ende September über 26.000 Personen arbeitslos gemeldet. Auf der anderen Seite hätten sich aber auch 23.000 Personen wieder aus der Arbeitslosigkeit abgemeldet. Nach wie vor finden also rege Austauschprozesse auf dem Arbeitsmarkt statt. Würde man die Region Osnabrück mit ähnlichen Wirtschafträumen in Niedersachsen, z.B. mit Braunschweig, Göttingen, Hannover oder Oldenburg vergleichen, dann habe der Arbeitsamtsbezirk Osnabrück mit einer Arbeitslosenquote von 9,3 vH die niedrigste Betroffenheit aufzuweisen. Druck-Ausgabe: Seite 7 Diese erste von Czekalla vertretene These läßt sich als das Resultat der positiven Entwicklung in den einzelnen Wirtschaftsbereichen der Region interpretieren. Der überdurchschnittliche Zuwachs bei der Beschäftigung in der Region läßt die Arbeitslosenquote im niedersächsischen Vergleich relativ niedrig ausfallen. Anzusprechen ist in diesem Zusammenhang aber auch die demographische Komponente der Arbeitslosigkeit, die aktuell den Arbeitsmarkt der Bundesrepublik belastet. [Fn 3 Vgl. Deutsche Bundesbank (Hrsg.): Die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt in Deutschland seit dem Ende der achtziger Jahre. In: Monatsbericht August 1993, S. 55 - 65, Frankfurt 1993.]
Besonders betroffen von der Arbeitslosigkeit sei, so Czekalla weiter, die Gruppe der Aussiedler, bei denen sich binnen Jahresfrist die Zahl auf fast 3.000 verdoppelt habe. Ebenfalls auffällig sei die hohe Arbeitslosigkeit bei Ausländern. Dies hänge vor allem mit fehlenden Sprachkenntnissen, aber auch mit den geringen beruflichen Qualifikationen dieser Personengruppen zusammen. Auch Deutsche ohne Berufsausbildung oder mit nicht mehr am Markt nachgefragten Qualifikationen seien von Arbeitslosigkeit stark betroffen und würden - wie Aussiedler und Ausländer - auch bei wieder anziehender Konjunktur große Schwierigkeiten haben, dauerhaft im Berufsleben Fuß zu fassen. Andererseits seien im Arbeitsamtsbezirk Osnabrück zur Zeit auch 357 Ingenieure arbeitslos. Bei dieser Gruppe dürften nach Czekallas Einschätzung aber in erster Linie konjunkturelle Gründe vorliegen. These 2: Von Rezession zu Rezession erhöht sich die allgemeine Arbeitslosigkeit. Wirtschaftswachstum und allgemeine Arbeitslosigkeit sind zwei Größen, die nur noch sehr bedingt voneinander abhängen. Die Erfahrung der zwei letzten Rezessionen und den sich anschließenden Phasen wirtschaftlichen Wachstums zeige, führte Czekalla aus, daß die Zahl der Arbeitslosen stufenweise steigt. Bundesweit erlangte sie im ersten dieser beiden Konjunkturzyklen einen Tiefststand im Jahr 1979 mit durchschnittlich 875.000 und in Osnabrück mit 5.350 Arbeitslosen. Im zweiten Zyklus war es das Jahr 1991, als in den alten Bundesländern knapp 1,7 Millionen und in Osnabrück gut 13.000 Menschen arbeitslos gemeldet waren. Obwohl gerade in der Region Osnabrück in den zurückliegenden sieben Jahren rund 32.000 Arbeitsplätze zusätzlich entstanden seien, habe dies nur zu einer geringen Reduktion der allgemeinen Arbeitslosenzahlen geführt. Beschäftigung und Arbeitslosigkeit seien also offensichtlich zwei Größen, so Czekalla, die sich immer weniger bedingten. Wirtschaftliche Wachstumsphasen führten nicht automatisch auch zu geringeren Arbeitslosenzahlen. Auch nach dem Ende der aktuellen Rezession werde aller Voraussicht nach wieder eine neue, höhere Druck-Ausgabe: Seite 8 Sockelarbeitslosigkeit erreicht werden. Auch wenn sich bald wieder ein Wirtschaftswachstum einstellen sollte, dürfte dies zunächst keine sofortige Auswirkung auf den Arbeitsmarkt haben. Erfahrungsgemäß erhöhe sich die Arbeitslosenzahl über einen Zeitraum von zwei Jahren zunächst noch einmal, denn vorhandene Kapazitätsreserven und Rationalisierungsdruck wirkten fort. Erst in der darauffolgenden Zeit gehe die Arbeitslosigkeit allmählich zurück und pendele sich dann auf einem neuen und gegenüber dem vorangegangenen Zyklus erhöhten Niveau ein. Aller Voraussicht nach werde man auch um die Jahrtausendwende bundesweit mehr als 3 Millionen Arbeitslose zählen müssen. Die Experten würden sich lediglich über die Größenordnung dieses Mehr streiten. Auch über die Höhe der Arbeitslosigkeit im Wirtschaftraum Osnabrück nach dem Ende der jetztigen Rezession könne man, so Czekalla, nur spekulieren. Sicher scheine aber trotz der positiven Bilanz der letzten Jahre zu sein, daß sich auch hier ein neuer Rekordsockel ergeben werde. Auf der anderen Seite sei zu befürchten, daß längerfristig qualifizierte Mitarbeiter vor allem im gewerblich-technischen Bereich fehlen. Deshalb müßten Angestellte zukünftig neben der Erstausbildung auch die innerbetrieblichen Weiterbildungsmöglichkeiten intensiver nutzen, um den Anschluß nicht zu verpassen. Aus- und Weiterbildung stellen nach Czekallas Auffassung eine wesentliche Voraussetzung für die wirtschaftliche Entwicklung dar. Das Arbeitsamt Osnabrück beteilige sich daran, indem es die Schwerpunkte der gewerblichen Bildungsmaßnahmen neu setze und betriebsnah ansiedele. Es werde auch den gewerblich-technischen Bildungsbereich ausweiten, sofern man ihm die entsprechenden Gestaltungsmöglichkeiten einräume. These 3: Gefragt ist ein Standort mit "schlank getrimmten" Unternehmen in den Hochtechnologiesparten. Dringend benötigt wird aber auch eine adäquate Mischung von Arbeitsplätzen auf allen Qualifikationsstufen, die alle Bürger am ökonomischen Fortschritt teilhaben läßt. Bei der Diskussion um eine zukunftsweisende Wirtschaftspolitik stehe das schlank getrimmte Unternehmen mit Spitzentechnologie im Mittelpunkt der Diskussion, der internationale Konkurrenzdruck zwinge zu einer solchen Betrachtung. Czekalla stellte dazu die Frage, ob man ausschließlich nur diesen Weg gehen müsse mit der Folge, daß, überspitzt formuliert, dadurch zwar einige hochqualifizierte Arbeitsplätze entstünden, andererseits aber gleichzeitig viele Arbeitsplätze in den unteren Lohngruppen verlorengingen. Zwar steige dadurch möglicherweise das Sozialprodukt, aber ein Teil der arbeitsfähigen Bevölkerung bleibe mit seinen Fähigkeiten unberücksichtigt. Zur Illustration nannte Czekalla das Beispiel der Beschützenden Werkstätten Sutthausen, deren Arbeitnehmer ein Leistungsniveau von schätzungsweise 40 vH im Vergleich zu den Anforderungen von 100 vH in der Wirtschaft hätten. Die 100 vH-Meßlatte werde dabei stets nach oben neu festgelegt. Wer aber nur ein Druck-Ausgabe: Seite 9 Leistungsvermögen von 50 bis 90 vH aufweisen könne, unabhängig vom einmal erlernten Beruf, habe im Arbeitsmarkt das Nachsehen. Einen zweiten Arbeitsmarkt in Form von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und sozialen Betrieben im nachhinein, also nach dem Verlust von Arbeitsplätzen im ersten Arbeitsmarkt, zu errichten, ist nach Czekallas Ansicht nur sehr mühsam und begrenzt möglich, darüber hinaus kostenträchtig, bürokratisch aufwendig und für die Betroffenen mit vielen sozialen Friktionen verbunden. Die sich abzeichnende zukünftige Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt fordere die Frage heraus, wie man den Prozeß der Verlagerung einfacher Arbeitsplätze aufhalten könne. Er wolle dabei keineswegs die Notwendigkeit des Rationalisierungsprozesses, der zu einem endgültigen Verlust von Arbeitsplätzen führt, in Frage stellen. Wenn aber verstärkt Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagert würden, so habe das zur Folge, daß anderswo Vollbeschäftigung herrsche, während in der Bundesrepublik die Sockelarbeitslosigkeit von Rezession zu Rezession steige. Zwar zwinge, so Czekalla weiter, das Kostendiktat dazu und deshalb würden, überspitzt formuliert, Halbfertigwaren europa- und weltweit auf verstopften Verkehrswegen hin- und hertransportiert und gleichzeitig ein immer größerer Anteil der arbeitsfähigen Bevölkerung alimentiert. Die konsequent angewandten Zauberformeln "lean production" und "just in time" brächten dann auch den Straßenverkehr vollends zum Erliegen. Nach seiner Auffassung gehe es aber auch anders. Nicht im großen Maßstab, nicht als Patentrezept für alle bestehenden Probleme auf dem Arbeitsmarkt, aber jeder sinnvolle Versuch verringere strukturell bedingte Langzeitarbeitslosigkeit. Als ein bemerkenswertes Beispiel in diesem Zusammenhang nannte Czekalla die Firma Westland Gummiwerke mit ihrer Tochterfirma Wiese, die mit staatlicher Unterstützung Beschäftigungsmöglichkeiten auch Menschen biete, die auf dem Arbeitsmarkt ansonsten keine Chance hätten. Solche Beispiele können nach Czekallas Ansicht aber nur entstehen, wenn in den maßgeblichen gesellschaftlichen Institutionen einige grundsätzliche Positionen zu diesem Thema überdacht würden. Zumindest der Gedanke der kostenneutralen Umschichtung von Lohnersatzleistungen in aktive Maßnahmen müsse eine stärkere Beachtung finden und sorgfältig in verschiedener Form erprobt werden. Czekalla beendete sein Referat mit einem Vergleich des Arbeitsmarktes mit dem Sport: Spitzensport schaffe internationales Ansehen, Breitensport auf allen Ebenen eine lebensfrohe und gesunde Bevölkerung. Vielfach ergebe sich auch das eine aus dem anderen. Auf die richtige Mischung komme es auch bei den Arbeitsplätzen an. Diese müsse man mit langem Atem erproben und dürfe man nicht von vornherein in abstrakten Grundsatzdiskussionen zerreden und gleichzeitig bedenkenlos einfache Arbeitsplätze in Billiglohnländer verlagern.
Druck-Ausgabe: Seite 10
1.3. Diskussionsbeiträge
In der anschließenden Diskussion stellte Ernst Schwanhold, Mitglied der SPDBundestagsfraktion, die Frage, wie es trotz des hohen Lohnniveaus gelingen könne, unter staatlicher Mithilfe Arbeitsplätze für den Teil der Menschen zu erhalten, die immer mehr aus dem Arbeitsprozeß herausgedrängt werden. Hier antwortete Czekalla, daß man seines Erachtens Unternehmen, die dabei sind, ihre Produktion zu verlagern, Angebote zur Lohnsubventionierung unterbreiten sollte. Das sei unter dem Strich billiger als Alimentation, Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und zweiter Arbeitsmarkt. Immerhin gäben Stadt und Landkreis Osnabrück trotz erheblicher Sparmaßnahmen in diesem Jahr 700 Millionen DM überwindend für Alimentation aus. In der Abschlußdiskussion wurde an Dr. Alfred Tacke, Staatssekretär im Ministerium für Wirtschaft, Technologie und Verkehr des Landes Niedersachsen, die Frage gerichtet, ob und wie es der Wirtschaftspolitik gelingen könne, Vollbeschäftigung wieder herzustellen. Tacke antwortete, er sei der festen Überzeugung, daß es Aufgabe der Politik sei, Vollbeschäftigung im ersten Arbeitsmarkt herzustellen. Wenn jemand meine, man könne dies über den zweiten Arbeitsmarkt lösen, der irre gewaltig. Denn je größer dieser würde, desto offener würde er auch für Sozialabbau und Lohnabbau, und die Standards, die man heute dort vorfände, könnten nicht gehalten werden angesichts leerer öffentlicher Kassen. Tacke führte weiter aus, daß Deutschland auf den Weltmärkten mit Wirtschaftssystemen konkurriere, die vergleichbare Sozial- und Umweltstandards nicht aufweisen würden, die aber sehr wohl in Technologie und Qualität etwas zu bieten hätten und auch in der Durchdringung des europäischen Marktes sehr erfolgreich seien. Der Versuch, dies über den zweiten Arbeitsmarkt zu lösen, werde scheitern. Er wirke kontraproduktiv und führe nach seiner Einschätzung mittel- und langfristig zu "englischen Verhältnissen". In zwei Punkten bestehe eine Bringschuld der Politik. Erstens gebe es einen unterbliebenen Strukturwandel. Altindustrien, die langfristig keine Chance hätten, würden mit zweistelligen Milliardenbeträgen subventioniert. Man müsse hier langfristig in einigen Branchen gegen Null gehen, auch wenn das nicht allgemein akzeptiert werde. Auf Dauer müßten wir uns darauf verständigen, daß Rohstoffe importiert und nicht exportiert werden, wenn wir technologieorientierte Produkte verkaufen wollten. Zweitens müsse man zur Wiedererlangung von Vollbeschäftigung in den zukünftigen Industriebereichen sehr erfolgreich sein. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | März 1999 |