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1912

Von 42.000 vom Bäckerverband befragten Gesellen leben noch immer 59,1% zu Kost und Logis bei ihrem Arbeitgeber, weitere 38% haben dort Wohnung ohne Kost, nur 34,5% haben keine Wohnung und keine Kost bei ihrem Meister.
Im Bäckergewerbe besteht auch eine hohe Fluktuation.

Seit 1903 wurden über 10.500 Personen wegen Vergehens gegen den § 153 der Gewerbeordnung angeklagt. Von ihnen wurden rund 6.370 verurteilt. Das Strafmaß liegt zwischen weniger als vier Tage bis drei Monate.
Die Polizei greift 1912 bei 35,9% aller Streiks ein. Der Anteil der Streiks, die die Staatsanwaltschaft beschäftigen, liegt bei 22,4%.

80% der 30.000 Siemensarbeiter in Berlin gehören dem wirtschaftsfriedlichen Verband an; die Hüttenvereine des Röchling-Konzerns erfassen ca. 50% der Gesamtbelegschaft, die Werkvereine der Gutehoffnungshütte in Oberhausen und der Krupp-Werke in Essen haben mehr Berg- und Hüttenarbeiter organisiert als die freigewerkschaftlichen Verbände in diesen Orten.

Adolf Levenstein veröffentlicht Protokolle über die Befragung von 5.000 Bergarbeitern, Textilarbeitern und Metallarbeitern, in denen die Bewußtseinslage der Industriearbeiter eindrucksvoll dokumentiert wird:
Viele der befragten Arbeiter belastet die Gewißheit, lebenslänglich Lohnarbeiter sein zu müssen. Dazu kommt noch die bedrückende Vorstellung, daß - wie ein Textilarbeiter es drastisch formuliert - auch die Kinder als "Arbeitssklaven" zur Welt gekommen seien.
Die Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu engagieren, erwächst bei vielen Industriearbeitern aus der Erkenntnis der "Dauer und Erblichkeit" ihres Berufsschicksals und daß sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als ungerecht und unsozial empfinden, wobei die Aussichten, durch die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung aus ihrer ökonomischen und sozialen Abhängigkeit befreit zu werden, von den durch Levenstein befragten Arbeitern zum Teil sehr skeptisch beurteilt wird: 43% der Befragten glauben nicht daran, daß ihre Lage durch die Arbeiterbewegung bald grundlegend verändert werde. Als Argument wurde immer wieder angeführt, daß die Macht des Kapitals zu groß sei, daß zu wenige Arbeiter organisiert seien, daß die Gewerkschaftsführer zu vorsichtig und zu ängstlich agieren. Immerhin habe aber die Arbeiterbewegung ihre Daseinsbedingungen erleichtert und verbessert.
Die Organisationsbereitschaft des Arbeiters ist noch immer sehr häufig eng an die berufliche Qualifikation gebunden und hängt mit seinem innerbetrieblichen Status und dem Stellenwert seiner Teilarbeit im Produktionsprozeß zusammen.

Bei einer Untersuchung über die Arbeitsverhältnisse in der Textilindustrie stellt Marie Bernays fest, daß "in den langen, lärmerfüllten Spinnsälen nicht von einer wirklichen Arbeitsgemeinschaft zwischen den Menschen gesprochen werden kann". Sie seien zwar mit derselben Arbeit beschäftigt, aber "das stete Geräusch, das unaufhörliche Surren der vielen sich drehenden Spindeln" mache jede Unterhaltung unmöglich und schließe den einzelnen Arbeiter "durch eine undurchdringliche Mauer von Lärm" von allen Vorgängen im Fabriksaal ab, "diejenigen ausgenommen, zu deren Verständnis das Auge genügt".
Ähnliche Verhältnisse wie in der Textilindustrie bestehen auch in anderen Produktionszweigen, etwa in der Stahlerzeugung und der Metallverarbeitung oder in den Großbetrieben der Holzindustrie, in denen die Arbeitsatmospähre von Maschinenlärm geprägt ist.
Daneben gibt es zahlreiche Produktionsformen, bei denen die Mechanisierung und die Lärmbelastung wesentlich geringer sind und bei denen eine Kommunikation zwischen den Arbeitnehmern während der Arbeitszeit möglich ist, wie z.B. in der Lederindustrie oder in den Kontroll-, Reparatur- oder Magazinabteilungen.

Alfred Weber stellt in einem Artikel im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik fest, das 40. Lebensjahr stelle "den entscheidenen Knick" im Berufsleben des Industriearbeiters dar: "Dann, wenn er auf der Höhe seiner geistigen Kräfte steht, dann bricht sein Berufsleben plötzlich vor ihm zusammen, dann sieht er einen Abgrund, in den er hinabstürzt, oder wenn es besser steht, eine schiefe Ebene, die ihn hoffnungslos schließlich doch da hinabführt ... Das Fürchterliche ist, daß das 'Avancieren' hier wie ein bloßer kurzer starker und verzehrender Rausch der Jugend eintritt und daß es, wenn der volle Lebensmittag da ist, durch die mageren Suppen, das Fasten und vielleicht das Hungern des Zerbrochenseins ersetzt wird."

Die von dem Nationalökonom Ludwig Bernhard veröffentlichte Kampfschrift "Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik" löst eine heftige kontroverse Diskussion zwischen Gegnern und Befürwortern der Sozialreform aus. So vertritt L. Bernhard die Thesen, das Genehmigungsverfahren gewerblicher Betriebe erschwere die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, die staatliche Kontrolle und Regelung des Arbeiterschutzes in privaten Betrieben lähme die Unternehmerinitiative, die staatliche Arbeiterversicherung führe zu Simulation und Rentenhysterie. Liberale Sozial- und christliche Sozialreformer und ihre Zeitschriften kritisieren die Thesen L. Bernhards. So betont F. Hitze die "segensreichen Wirkungen unserer Sozialpolitik im Bereich der Arbeiterversicherung und des Arbeiterschutzes und für die wirtschaftliche und kulturelle Hebung unseres Volkes".

12. Januar 1912

Die Reichstagswahlen bringen der SPD einen außergewöhnlichen Erfolg, sie erhält 4.250.329 Stimmen, das sind 34,8% der abgegebenen. Zweitstärkste Partei bleibt das Zentrum mit 2.035.990 Stimmen, das sind 140.000 weniger als 1907. Erfolge erzielt die Fortschrittliche Volkspartei, die gegenüber 1907 rund 320.000 Stimmen gewinnt. Bei den Hauptwahlen erobert die Sozialdemokratie 64 Mandate. In 124 Kreisen steht sie in der Stichwahl. Sie schließt daraufhin ein Abkommen mit der Fortschrittlichen Volkspartei, sich gegenseitig bei den Stichwahlen zu unterstützen.
In den Stichwahlen gewinnt die Sozialdemokratie noch 46 Sitze und zieht nun mit 110 Abgeordneten in den neuen Reichstag ein. Nach ihrem Stimmenanteil müßte die Partei 29 Mandate mehr erhalten haben; sie erhält nur 27,7% der Mandate. Das Zentrum hat 93, die Konservativen haben 43, die Nationalliberalen 45 und die Fortschrittliche Volkspartei 41 Sitze inne.
Von den 110 Sitzen, die die SPD erhält, entfallen 107 auf die 231 industriell entwickelten Wahlkreise. Es gelingt ihr weder in den 109 landwirtschaftlichen Wahlkreisen, noch in den 23 mit relativer landwirtschaftlicher Mehrheit ein Mandat zu gewinnen.
Der Anteil von Gewerkschaftsfunktionären an der SPD-Reichstagsfraktion beträgt 32,7%.

13. Januar 1912

Die erste Ausgabe der "Arbeiterrechts-Beilage" des Correspondenzblattes erscheint.

Februar 1912

Die neu gewählte sozialdemokratische Reichstagsfraktion fordert ein einheitliches Arbeitsrecht für alle Privatangestellten. Ähnliche Forderungen für die Angestellten werden auch vom Zentrum und den Nationalliberalen gestellt.

2. März 1912

In einer Rede in Köln erklärt A. Stegerwald, die christlichen Gewerkschaften sind gegründet worden, "um den gläubigen katholischen und evangelischen Arbeitern eine Organisation zur Verfolgung ihrer gewerkschaftlichen Interessen zu bieten, in der den einzelnen Mitgliedern keinerlei Anschauungen oder Handlungen im privaten oder öffentlichen Leben, insbesondere auch in Angelegenheiten des wirtschaftlichen Gebietes, zugemutet werden, die unvereinbar sind mit den Glaubens- und Sittenlehren der katholischen bezw. evangelischen Kirche, so wie sie in diesen von der zuständigen Autorität gelehrt werden".

11./19. März 1912

Ruhrbergarbeiter beginnen einen Streik um die achtstündige Schicht, Beseitigung der Unternehmerarbeitsnachsweise, Einschränkung der Geldstrafen und Lohnaufbesserungen wegen der stark gestiegenen Lebenshaltungskosten. Im Gegensatz zum Gewerkverein der Bergarbeiter und der polnischen Bergarbeitervereinigung lehnt der christliche Verband eine Teilnahme am Streik ab, ohne verhindern zu können, daß sich zahlreiche christliche Bergarbeiter den Streikenden anschließen. Trotzdem erreicht die Zahl der Streikenden etwa 250.000. Militär wird in das Streikgebiet verlegt. Es kommt zu Zusammenstößen mit den Streikenden, bei denen vier Arbeiter getötet und zahlreiche verletzt werden. Am 19. März wird der Streik, wesentlich wegen dieses Vorgehens von Militär und Polizei, erfolglos abgebrochen. Von 577 Delegierten auf der Ruhrrevierkonferenz stimmen zwar noch 347 für die Fortsetzung des Streiks. Die dafür notwendige Zweidrittelmehrheit ist damit jedoch nicht erreicht. In einem gemeinsamen Aufruf von Generalkommission und SPD-Parteivorstand werden die Bergleute aufgefordert, sich nicht zu unüberlegten Handlungen provozieren zu lassen. "Kommen trotzdem Störungen vor, dann fällt die Verantwortung denen zu, die das Verlangen friedlicher Arbeiter nach Brot beantwortet haben mit dem Rufen nach Säbeln, Flinten und Maschinengewehren." Zahlreiche Streikende werden zu Zuchthaus- bzw. Gefängnisstrafen verurteilt.
Nach dem Ruhrbergarbeiterstreik wird in mehr als 2.000 Fällen Anklage erhoben. Der Bergarbeiterverband gewährt 1.380 Mitgliedern Rechtsschutz, in 1.206 Fällen wird über den Ausgang der Prozesse informiert. 299 Männer und 84 Frauen erhalten Gefängisstrafen, 247 Männer und 148 Frauen Geldstrafen, 280 Männer und 92 Frauen werden freigesprochen. In 29 Fällen wird das Verfahren eingestellt. Nach der Aufstellung des Bergarbeiterverbandes werden insgesamt 30 Jahre, 11 Monate, 4 Wochen und 4 Tage Gefängnis sowie 16.345 Mark Geldstrafe verhängt. In der überwiegenden Zahl der Fälle lautet die Anklage auf Beleidigung und Drohung.

19./23. März 1912

Der Verbandstag des Verbandes der Gastwirtsgehilfen in Nürnberg fordert, die Arbeitsschutzbestimmungen für alle im Gastwirtsgewerbe tätigen Personen festzulegen. Die tägliche Arbeitszeit aller Angestellten über 16 Jahre darf 12 Stunden nicht überschreiten und kann mit Rücksicht auf den Geschäftsgang auf 15 Stunden, einschließlich der Pausen verteilt werden. Pausen sind Arbeitsunterbrechungen, über die der Angestellte selbständig verfügen kann. Allen Angestellten ist eine Mittagspause von mindestens einer Stunde zu gewähren.
Allen Angestellten ist wöchentlich eine ununterbrochene Arbeitsruhe von mindestens 36 Stunden zu gewähren.
Der Verbandstag protestiert gegen die Versuche, die Gehilfen der verschiedenen Länder gegeneinander auszuspielen. Der Gehilfe muß vielmehr an jedem Ort und in jedem Land Hand in Hand mit den einheimischen bzw. zugewanderten Berufsgenossen seine gewerkschaftliche Pflicht erfüllen und lebhaften Anteil am Kampf um die Verbesserung der Verhältnisse nehmen.

25./27. März 1912

Die Konferenz der Vertreter der Verbandsvorstände diskutiert die Anträge der Bildhauer und Metallarbeiter vom Dresdener Gewerkschaftskongreß über eine gemeinsame Streikunterstützung. Während die Bildhauer die Errichtung einer Kasse mit regelmäßigen Beiträgen unter Verwaltung der Generalkommission verlangen, wünschen die Metallarbeiter bei Streiks und Aussperrungen die Erhebung von Beiträgen nach der Mitgliederzahl der Gewerkschaften. Die Konferenz entscheidet sich für das Umlageverfahren und beauftragt die Generalkommission, Durchführungsvorschläge auszuarbeiten.

30. März 1912

Th. Leipart wendet sich im "Correspondenzblatt" gegen den freien Samstagnachmittag, wenn er für eine Verlängerung der täglichen Arbeitszeit zu erreichen ist, was, wie er kritisiert, von vielen Arbeitern gewünscht werde.

8./10. April 1912

Der Verbandstag der Glaser in Dresden beschließt, eine Erwerbslosenunterstützung zur Unterstützung der örtlichen Arbeitsnachweise und einen zentralen Arbeitsnachweis einzuführen.

21./25. April 1912

Auf dem Verbandstag des Kürschnerverbandes in Leipzig teilt der Vorsitzende mit, daß in Amsterdam, Genf, Kopenhagen, Rotterdam und Zürich Filialen des Verbandes errichtet würden, weil in diesen Ländern wegen des Umfangs des Kürschnergewerbes keine selbständigen Organisationen bestehen.

5./7. Mai 1912

Die Generalversammlung des Centralverbandes der Handlungsgehilfen und -gehilfinnen in Berlin fordert das Verbot der Sonntagsarbeit in Kontoren und eine zweistündige Öffnungszeit für offene Verkaufsstellen.
Zum Verbandsvorsitzenden wird Otto Urban gewählt, der Sitz des Verbandes von Hamburg nach Berlin verlegt.

11. Mai 1912

Das "Correspondenzblatt" veröffentlicht einen gemeinsamen Aufruf der Generalkommission und des Vorstandes des Centralverbandes deutscher Konsumvereine "An die deutsche Arbeiterschaft", mit dem die gewerkschaftlich wie genossenschaftlich organisierte Arbeiterschaft ersucht wird - um die Heimarbeit einzuschränken -, künftig keinerlei Heimarbeitserzeugnisse derjenigen Fabrikationszweige mehr zu kaufen, in denen durch genossenschaftliche Eigenproduktion die sichere Gewähr für den Bezug einwandfreier Bedarfsartikel gegeben ist.

13./17. Mai 1912

Die zur gleichen Zeit in Hamburg tagenden Generalversammlungen des Tabakarbeiterverbandes und des Verbandes der Zigarrensortierer und Kistenkleber beschließen, beide Verbände zu vereinigen. Der Verband führt den Namen "Deutscher Tabakarbeiterverband".

13./18. Mai 1912

Der Verbandstag des Steinarbeiterverbandes in München beschließt die Bildung eines Beirates "zur Entscheidung in wichtigen Fragen der Taktik bei Lohnbewegungen, Streiks und Aussperrungen". Dem Beirat gehören u.a. Vertreter aller im Steinarbeiterverband vertretenen Branchen an, so der Sandstein-, der Granit-, der Pflasterindustrie, der Marmor-, der Grabsteinbranche, der Muschelkalk- sowie der Schieferindustrie an.
Der Verbandstag legt Wert darauf, daß bei allen Tarifabschlüssen Schiedsgerichtsinstanzen vorgesehen sein müssen.
Ein Antrag, alle überflüssigen Gelder des Verbandes den Privatbanken zu entziehen und bei der Bankabteilung der Großeinkaufsgenossenschaft anzulegen wird dem Vorstand zur Berücksichtigung überwiesen.

14. Mai 1912

Die Mehrheit des Reichstages bewilligt die finanziellen Mittel für den Ausbau der deutschen Flotte. Damit wird das internationale Wettrüsten weiter gesteigert. Gleichzeitig wachsen die Lebenshaltungskosten an.

16./18. Mai 1912

Der Kongreß der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften - sie hat noch rund 7.100 Mitglieder - in Magdeburg strebt eine engere Zusammenfassung verwandter Berufe in örtlichen Industrieföderationen an, betont aber daß dieser örtliche Zusammenschluß auf Dauer nicht genügen werde.

22. Mai 1912

Nachdem im preußischen Landtag erneut ohne Erfolg über die Wahlrechtsfrage debattiert worden ist, wird in 22 Protestversammlungen gegen das Dreiklassenwahlrecht in Berlin eine gleichlautende Resolution angenommen, in der es heißt, daß der störrische Widerstand des Junkerparlaments nur die Aufforderung an das entrechtete Volk bedeute, durch Aktionen außerhalb des Parlaments seinen Willen mit allen zum Erfolg führenden Mitteln durchzusetzen.

29. Mai /1. Juni 1912

Die Generalversammlung der Sattler und Portefeuiller in München fordert weitere Arbeitszeitverkürzungen. Dort, wo die Arbeitszeit bereits neun Stunden beträgt, kann weitere Verkürzung auf den Samstag gelegt werden. Die Erlangung des freien Samstagnachmittages darf auf keinen Fall auf Kosten der Verlängerung der täglichen Arbeitszeit gehen.
Die Regierungen und gesetzgeberischen Körperschaften werden gebeten, die Gefängnisarbeit auf Sattler- und Portefeuilleswaren einzuschränken; durch die Heimindustrie, Frauenarbeit und Lehrlingszüchterei wird bereits der Sattler- und Portefeuillerberuf schwer in Mitleidenschaft gezogen, welches durch die Gefängnisarbeit erheblich verschlimmert wird.

2./8. Juni 1912

Der Verbandstag der Gemeinde- und Staatsarbeiter in München ist der Auffassung, daß die Organisierung aller Arbeiter der militärischen Betriebe ohne Unterschied des etwaigen Berufes zweckmäßigerweise durch diesen Verband erfolgen soll.
Die Delegierten kritisieren, daß die Stadtverwaltungen in immer stärkerem Maße bestrebt sind, einen Teil der Arbeiter zu Beamten zu machen oder in beamtenähnliche Stellungen zu bringen, um sie dadurch von den organisierten Arbeitern zu trennen und ihren besonderen Zwecken dienstbar zu machen.
Durch die Schaffung spezieller Arbeitsnachweise ist Vorsorge zu treffen, daß entlassene Arbeiter wieder in städtischen oder staatlichen Betrieben unterkommen können.

9./16. Juni 1912

Der Verbandstag des Transportarbeiterverbandes in Breslau fordert u.a.: die lückenlose Ausdehnung der Gewerbegerichtsbarkeit unter Hinzuziehung von Berufsangehörigen der Beisitzer; eine Erhöhung der Betriebssicherheit, d.h. erhöhter Schutz für Leben und Gesundheit durch Vermehrung der Arbeitskraft, Einführung moderner technischer, sanitärer und hygienischer Hilfsmittel; die Einführung und Anerkennung der staatlichen Betriebskontrolle durch angestellte Inspektoren und Assistenten aus Arbeiterkreisen; das Verbot des heutigen Kost- und Logiswesens; den weitgehendsten Schutz für die weiblichen und jugendlichen Arbeiter unter Berücksichtigung ihrer physischen Leistungsfähigkeit und natürlichen Veranlagung; die Anerkennung hinreichender Essenspausen, generelle Durchführung des 8 Uhr-Laden-, 7 Uhr-Kontor- und Arbeitsschlusses und Einführung des 6 Uhr-Postschalter- und Bahnschlusses sowie die Rücksichtnahme auf die Betriebssicherheit bei Einstellung fremdsprachiger Arbeiter und umfassende Maßnahmen zur Verhütung bzw. Einschränkung der Berufskrankheiten aller Art.
Der Verbandstag protestiert gegen diese Behinderung der in den staatlichen Transport- und Verkehrsanstalten tätigen Personen in der Ausübung ihrer staatsbürgerlichen Rechte und in der Wahrnehmung ihrer wirtschaftlichen Interessen, die jeder gesetzlichen Grundlage entbehrt und dem Rechtsempfinden der Mehrheit des Volkes ein Schlag ins Angesicht ist, und gegen die behördliche Unterstellung, daß der Besuch einer Versammlung oder die Zugehörigkeit zum Transportarbeiter-Verband unehrenhaft und mit der Stellung eines Staatsbediensteten unvereinbar sei. Der Transportarbeiter-Verband steht auf gesetzlicher Grundlage und weder seine ideellen noch materiellen Bestrebungen sind staats- oder ordnungsfeindlich.

17./22. Juni 1912

Die Generalversammlung des Textilarbeiterverbandes in Stuttgart fordert die völlige Zollfreiheit und die Rückkehr zur Politik ungehinderten Austausches der Produkte zwischen den Nationen.

23 ./ 29. Juni 1912

Der Verbandstag des Holzarbeiterverbandes in Berlin beauftragt die Lokalverwaltungen, auf die Errichtung paritätischer Arbeitsnachweise hinzuwirken.
An die Einführung eines freien Samstagnachmittag kann erst herangetreten werden, wenn die tägliche Arbeitszeit im ausreichenden Maße verkürzt ist.

24./29. Juni 1912

Der Verbandstag der Schuhmacher in Dresden ist der Auffassung, daß nach Erreichen des neunstündigen Arbeitstages auf Erlangung des freien Samstagnachmittages hingearbeitet werden soll. Die Besoldung der lokalen Funktionäre wird vom Hauptvorstand übernommen. Der Vorstand teilt mit, daß bereits in 16 Fabriken, zehn Handwerksbetrieben und in einer Schnellsohlerei Urlaubstage eingeführt sind. Von den 4.600 in diesen Betrieben beschäftigten Arbeitern erhalten ca. 1.800 Urlaub.

30. Juni 1912

Das Internationale Sekretariat der Handschuhmacher löst sich auf.

Juli 1912

Der Verbandstag des Technikerverbandes in Köln entscheidet sich in einer neuen Satzung für eine zentrale Angestelltengewerkschaft, nachdem der Verband bisher aus selbständigen lokalen Vereinigungen bestand. Arbeitgeber können künftig nicht mehr Mitglied werden. Als Kampfmittel der Organisation wird nun auch die "solidarische Arbeitsverweigerung" anerkannt.

Anfang Juli 1912

Von sozialdemokratischer Seite wird eine Statistik veröffentlicht, nach der 1910 21% der gesamten Industriearbeiterschaft gewerkschaftlich organisiert sind. Doch gehören von je 100 Arbeitern nur sieben der SPD an. 36% der Gewerkschaftsmitglieder waren 1910 Mitglieder der Sozialdemokratie.

22./25. Juli 1912

Der Verbandstag der Tapezierer und verwandter Berufsgenossen in Köln erklärt, da die Unternehmer paritätische obligatorische Arbeitsnachweise ablehnen, Verbandsnachweise einzurichten, wenn keine paritätischen kommunalen Arbeitsnachweise vorhanden sind.

4./10. August 1912

Der Verbandstag des Fabrikarbeiterverbandes in Dresden stellt fest: "Im modernen Großbetrieb werden die Arbeiter ohne Rücksicht auf Geschlecht, Alter, Fähigkeiten, Vorbildung und Beruf dem Produktionsprozeß einverleibt, von einem Willen regiert, von einem Kapital ausgebeutet und unterdrückt.
Dieser einheitlichen Ausbeutung und Unterdrückung muß die einheitliche Organisation der Arbeiter gegenübergestellt werden. Der Verdrängung des Berufsarbeiters durch den Industriearbeiter muß die Umwandlung der Berufsorganisationen in Industrieverbände folgen: die gewerkschaftliche Entwickelung muß zu großen, leistungsfähigen Industrieverbänden führen. ...
Die natürliche Grundlage, die logische Einheit des Industrieverbandes bildet vielmehr die Zusammenfassung der Arbeiter eines Betriebes: die Betriebsorganisation muß die Grundlage der Industrieverbände bilden.
Wenn alle in einem Betriebe beschäftigten Arbeiter, ohne Rücksicht auf Geschlecht und Beruf, in einer Organisation vereinigt, zu gegenseitiger Solidarität erzogen, zu gemeinsamem Handeln verpflichtet werden, wird es noch besser als seither gelingen, der wachsenden Macht des Kapitals Grenzen zu setzen, den Einfluß der Arbeiter zu mehren, dem kulturellen Aufstieg der Arbeiter die Wege zu ebnen."
Aus diesen Erwägungen heraus beauftragt der Verbandstag "seine Vertreter, auf den gewerkschaftlichen Konferenzen und Kongressen und bei Abschluß von Kartellverträgen im Sinne dieser Resolution zu wirken, insbesondere die Einführung der Betriebsorganisation im Verbandsgebiet - dessen Grenzen im Statut festgelegt sind - anzustreben".
Für die Funktionäre des Verbandes wird eine Unfallversicherung für alle bei ihrer Verbandstätigkeit eintretenden Unfälle eingeführt.
Die Verpflichtung für die Verbandskasse, die aus Anlaß der Arbeitsruhe am 1. Mai Ausgesperrten nach dem Streikreglement zu unterstützen, wird gestrichen. Für die Beschlußfassung der Verbandsmitglieder über die Teilnahme an der Arbeitsruhe am 1. Mai müssen 2/3 der Beschäftigen mindestens 1/4 Jahr organisiert sein, die Beschlußfassung muß mit 3/4 Majorität erfolgen in einer Betriebsversammlung, wo 2/3 der Beschäftigten anwesend sind.
Für die Verbandsfunktionäre wird ein Angestellten-Regulativ verabschiedet, das neben einer spezifizierten Gehaltsskala festlegt, daß die Angestellten der Zahlstellen und des Hauptvorstandes, Redakteur, Gauleiter und Bureauangestellte nach einjähriger Dienstzeit zwei Wochen, nach einer Dienstzeit von über fünf Jahren drei Wochen Ferien erhalten.
Vorstand und Zahlstellen haben das Recht, falls die Gesundheit eines Angestellten es erfordert, den Erholungsurlaub auf längere Zeit auszudehnen.
Die Beiträge für die Privatbeamtenversicherung werden für die Mitglieder des Vorstandes, Redakteure, Sekretäre Agitationsleiter, Gauleiter und Bureauangestellte von der Verbandskasse getragen.
In Krankheitsfällen wird das Gehalt auf die Dauer von 3 Monaten gezahlt.

11. August 1912

Eine Konferenz liberaler Arbeiter und Angestellter in Leipzig hält die Schaffung einer liberalen Arbeiter- und Angestelltenbewegung für eine dringende Notwendigkeit. Die liberale Arbeiterbewegung erblickt ihre vornehmlichste Aufgabe in einem unausgesetzten Werben für freiheitlichen Ausbau aller öffentlichen Einrichtungen in Reich, Staat und Gemeinde, wie für die politische Gleichberechtigung aller Erwachsenen; für die Schaffung eines sozialen Arbeitsrechts durch Umwandlung des Arbeitsverhältnisses aus einem Gewaltverhältnis in ein Rechtsverhältnis. Die wichtigste Pflicht jedes Gewerbes ist die Erhaltung und Kräftigung einer leistungsfähigen Arbeitnehmerschaft.

12./18. August 1912

Der Verbandstag des Verbandes der Schneider, Schneiderinnen und Wäschearbeiter in Köln stimmt den Vorschlägen der Unparteiischen zu, daß ab 1. März 1916 alle einzelnen Tarifverträge zu einem Reichstarifvertrag zusammengefaßt werden. Bis dahin sollen die Arbeitgeber u.a. folgende Mindestforderungen gewähren: die 10stündige Arbeitszeit, Furnituren sind zu liefern oder zu vergüten und vorschriftsmäßige Betriebswerkstätten sind zu fördern.
Der Verbandstag erklärt, daß das Hausarbeitsgesetz vom 20. Dezember 1911 in keiner Weise auch nur den minimalsten Forderungen eines wirksamen Heimarbeiterschutzes entspricht.
Abgesehen davon, daß die Lohnämter als Grundlage eines durchgreifenden Heimarbeiterschutzes fehlen, ist das Gesetz nur ein Rahmengesetz, welches wenig zwingende Bestimmungen enthält, sondern mehr nur leitende Grundsätze aufstellt, deren Ausführung dem Ermessen der zuständigen Behörden überlassen ist.
Zwingend sind lediglich die Bestimmungen über die offene Auslage von Lohnverzeichnissen und Lohntafeln (§ 3), die Führung von Lohnbüchern oder Lohnzetteln (§ 4), die Registrierpflicht (§ 13) und die Unterstellung der Heimarbeiter unter die Gewerbeinspektion (§ 17).
Das gemeinsame Vorgehen der Gewerkschaften und Genossenschaften gegen die Heimarbeit und die Erzeugnisse der Strafanstalten ist als der Anfang gemeinsamer Arbeit nur zu begrüßen.
An Stelle der Gründung von Produktivgenossenschaften ist die Erweiterung der Eigenproduktion der Konsumvereine und deren Großeinkaufsgesellschaft zu empfehlen, weil eine solche Produktion für den organisierten Konsum auf gesichertem Absatz beruht.

24. August 1912

Das "Correspondenzblatt" registriert kritisch die seit 1910 wachsende "Hetze gegen das Koalitionsrecht".

Ende August / Ende September 1912

Nach einem Aufruf des SPD-Parteivorstandes kommt es im September in einigen Städten zu öffentlichen Protestkundgebungen gegen die ständigen Lebensmittelteuerungen.

Anfang September 1912

Der Kongreß der Internationalen Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz in Zürich schlägt den Regierungen vor, folgende Probleme der Heimarbeit gesetzlich zu regeln: Verbot jeder Lohnzahlung in natura oder durch Warengutscheine auf Konsumläden der Arbeitgeber; Verwerfung von Bußen und Lohnabzügen für Schadenersatz außer solchen wegen absichtlicher Beschädigung; unentgeltliche Lieferung des Arbeitsmaterials durch den Arbeitgeber. Zum Schutz der Heimarbeiter wird weiter die gewerkschaftliche Organisation der Heimarbeiter und der Abschluß von Tarifverträgen und deren gesetzliche Anerkennung, Nichtigkeitserklärung ungenügender und wucherischer Löhne, sowie Festsetzung von Mindestlöhnen durch Lohnämter gefordert.
Der Kongreß empfiehlt für die bei ununterbrochener Arbeit beschäftigten Arbeiter an Hochöfen, in den Eisenhütten, Stahl- und Walzwerken die Achtstundenschicht. Frauen und Jugendliche sollen an Samstagnachmittagen von der Arbeit freigestellt werden.

5./6. September 1912

Die Konferenz der "Internationalen Vereinigung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit" in Zürich befaßt sich hauptsächlich mit Fragen der Arbeitsvermittlung.

8./11. September 1912

Ein außerordentlicher Verbandstag des Verbandes der Lagerhalter beschließt den Anschluß an den Handlungsgehilfenverband zum 31. Dezember 1912.

15./21. September 1912

Der SPD-Parteitag in Chemnitz erklärt zur Imperialismusfrage, daß die Sozialdemokratie auf das nachdrücklichste imperialistische und chauvinistische Bestrebungen bekämpfe, wo immer sie sich zeigen mögen. Sie pflege dagegen mit aller Entschiedenheit die internationale Solidarität des Proletariats, das nirgends feindselige Gefühle gegen ein anderes Volk hege. Der Parteitag bekunde den entschlossenen Willen, alles aufzubieten, um eine Verständigung zwischen den Nationen herbeizuführen und den Frieden zu hüten. Der Parteitag verlangt die Beendigung des Wettrüstens und fordert die Beseitigung des Schutzzollsystems.
Gegen die Verfolgungen der proletarischen Jugendbewegung durch die staatlichen Behörden wird Einspruch erhoben. Der Parteitag empfiehlt den Parteimitgliedern, junge Arbeiter und Arbeiterinnen im Alter von 18 bis 21 Jahren durch geeignete Maßnahmen für die Arbeiterorganisation zu gewinnen.
Gegen die planmäßige Bewaffnung von Arbeitswilligen bei Streiks und gegen die nachsichtige Haltung der Behörden gegenüber deren Gewalttaten wird schärfstens protestiert.
Die Fraktion wird beauftragt, den Reichstag nachdrücklichst zur Beschlußfassung über eine den modernen Betriebs- und Arbeitsverhältnissen entsprechende reichsgesetzliche Regelung des Bergarbeiterschutzes zu veranlassen. Diese müsse zwingend festlegen: Eine Arbeitszeit von höchstens acht Stunden, Verbot der Untertagearbeit für Arbeiter unter 18 Jahren, Bereithaltung einer genügenden Zahl von Rettungsapparaturen sowie Einrichtung von entsprechenden Wasch- und Badeanstalten.
Die sofortige Einberufung des Reichstages sei unerläßlich, um durchgreifende Maßnahmen gegen die zunehmende Teuerung, deren Ursache in der herrschenden Schutzzollpolitik Deutschlands liege, zu beschließen. Der Nürnberger Beschluß über die Abführung eines Tagelohnes an den Maifonds durch diejenigen Parteimitglieder, die ohne Verlust des Arbeitsverdienstes am 1. Mai feiern, wird aufgehoben. Ob Partei- und Gewerkschaftsangestellte nach wie vor den Lohn für diesen Tag abführen sollen, soll der nächste Parteitag entscheiden.

Herbst 1912

Der "Verband Deutscher Schmiede" schließt sich dem "Deutschen Metallarbeiterverband" an.

23. September 1912 / 23. Januar 1913

Ein Streik Leipziger Lithographen und Steindrucker für Erhöhung der Mindestlöhne und eine Verkürzung der Arbeitszeit greift bald auf andere Orte über und wird Mitte Oktober seitens der Unternehmer mit einer Aussperrung aller Verbandsmitglieder beantwortet. Insgesamt sind rund ein Drittel aller Gehilfen an dem Arbeitskampf beteiligt. Die Arbeitszeit wird zwar um eine Stunde auf 53 Stunden verkürzt, eine Vereinbarung über Schiedsinstanzen gelingt indessen nicht.

6./10. Oktober 1912

Der 8. Kongreß des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften in Dresden "hält die Lösung der Arbeitslosenfrage für eine der bedeutsamsten Aufgaben der zukünftigen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Durch die Schwankungen der Wirtschftskonjunktur und die Übersichtlichkeit des Arbeitsmarktes werden fortlaufend eine Anzahl von Erwerbstätigen ohne eigenes Verschulden arbeitslos und damit ihrer einzigen Einkommensquelle beraubt. Für die Betroffenen und deren Familien, wie für die Volkswirtschaft und Allgemeinheit ist das von den nachteiligsten Folgen.
Seitens der öffentlichen Gewalten sind alle Bestrebungen zu fördern, durch die eine größere Stabilität des Arbeitsmarktes herbeigeführt werden kann.
Dringend notwendig ist ein besserer Schutz der nationalen Arbeitskraft. Der bisherigen schrankenlosen Schmutzkonkurrenz mit billigeren ausländischen Arbeitskräften sind gesetzliche Schranken zu ziehen. Die heimischen Arbeiter haben ein Recht darauf, in Deutschlands Industrie, Handel und Gewerbe zuerst Arbeit und Brot zu finden.
Die Arbeitsvermittelung ist durch Reichsgesetz zu regeln. Ferner muß die Arbeitsvermittelung der staatlichen Aufsicht unterstellt und jeder Mißbrauch verboten werden.
Öffentliche (kommunale - gemeinnützige) Arbeitsnachweise sind zu empfehlen, vorausgesetzt, daß ihre Vermittelungstätigkeit einwandfrei ist und auch den Arbeiterorganisationen ein entsprechender Einfluß eingeräumt wird. Generell abzulehnen ist jeder Zwang bei der Arbeitvermittelung, durch den die Freiheit des Arbeitsvertrages, die Freizügigkeit und fachliche Weiterbildung unterbunden werden.
Für die unverschuldet Arbeitslosen zu sorgen, ist Pflicht der Allgemeinheit und die nächste dringliche Aufgabe unserer Sozialpolitik. Eine befriedigende Lösung kann nur in einer reichsgesetzlichen Arbeitslosenversicherung auf beruflicher Grundlage gefunden werden. Die Bundesstaaten sollen die Gemeinden zur Einführung kommunaler Arbeitslosenversicherungen anhalten und bestehende Einrichtungen durch Zuschüsse aus Staatsmitteln fördern und unterstützen.
Grundsätzlich und praktisch ist bei der Arbeitsvermittelung wie bei der Arbeitslosenfürsorge die Mitwirkung der Gewerkschaften unentbehrlich, weshalb ihnen ein entsprechender Einfluß einzuräumen ist.
Angesichts der Tatsache, daß durch die Zunahme der Ausstände und Aussperrungen an Zahl und Bedeutung die wirtschaftlichen Schäden, die sie den Arbeitern, den Unternehmern und der ganzen Volkswirtschaft zufügen, eine in hohem Grade bedenkliche Ausdehnung gewonnen haben, wird es erforderlich, dem Schieds- und Einigungswesen erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden.
Es ist zu erstreben, alle Hindernisse zu beseitigen, welche der Koalitionsfreiheit, der Bildung und Wirksamkeit von Vereinigungen zur Vertretung gemeinsamer wirtschaftlicher und beruflicher Interessen der Berufsgenossen entgegenstehen.
Die bisher zur friedlichen Beseitigung von Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis eingeschlagenen Wege sind teils durch die Gesetzgebung des Reiches - Errichtung von Gewerbegerichten und Einigungsämtern -, teils durch Selbsthilfe der Beteiligten - Tarifverträge, Einsetzung von Schlichtungskommissionen und centralen Einigungsinstanzen - eröffnet worden. Beide Wege werden auch in Zukunft in Anspruch genommen. Für alle großen Ausstände und Aussperrungen, die sich über das ganze Reich oder doch über einen erheblichen Teil desselben erstrecken, erscheint es erforderlich, alsbald in einem Reichs-Einigungsamt eine Instanz zu schaffen, die den Parteien den Weg zur Verhandlung ebnet, die friedliche Beilegung von Streitigkeiten aus dem Arbeitsverhältnis und den Abschluß von Verträgen vermittelt, die die Einrichtung von dauernden, paritätisch besetzten Organen zwecks Herbeiführung und Wahrung des Friedens im Gewerbe bezwecken.
Das gewerbliche Schieds- und Einigungswesen muß in allen Gewerben und Industrien - besonders auch in der Großindustrie - Eingang finden.
Der Kongreß erachtet es als eine Selbstverständlichkeit, daß in den Schieds- und Einigungsämtern alle Gewerkschaftsrichtungen vertreten sein müssen. Er erhebt deshalb gegen die einseitige Besetzung der Schieds- und Einigungsämter für das Buchdruck-, Chemigraphen- und Kupferdruckgewerbe mit sozialdemokratisch organisierten Arbeiterbeisitzern und gegen das Bestreben, diese verwerfliche Praxis auch auf andere Gewerbe zu übertragen, den schärfsten Protest.
Die auf dem Kongreß vertretenen Organisationen verpflichten sich, in Zukunft alles aufzubieten, um eine Monopolstellung der sozialdemokratischen Verbände im gewerblichen Schieds- und Einigungswesen zu verhindern und den christlichen Gewerkschaften den ihnen gebührenden Einfluß zu sichern.
Eine Arbeiterbewegung, die in Deutschland sich auf die Dauer neben der Sozialdemokratie behaupten will, muß der weitschichtigen sozialdemokratischen Gedankenwelt eine andere, ebenso umfassende Gedankenwelt entgegenstellen. Also bedarf die christliche Gewerkschaftsbewegung einer Ergänzung. Diese ist nur möglich dadurch, daß sich die Arbeiter zur Pflege ihrer staatsbürgerlichen und geistig-sittlichen Ideale ohne Unterschied des Berufes in konfessionellen Arbeitervereinen zusammenschließen, während die wirksame Geltendmachung der wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter deren umfassenden Zusammenschluß auf beruflicher Grundlage erfordert, was eine Trennung nach Konfessionen ausschließt.
Der Kongreß erklärt: Organisationsform und Charakter der christlichen Gewerkschaften haben sich in nahezu 15jähriger Praxis bewährt; die christlichen Gewerkschaften bleiben deshalb auch in der Zukunft in den seitherigen bewährten Bahnen."
Den christlichen Mitgliedern wird der Beitritt zu Konsumvereinen empfohlen; der Kongreß hält es aber für selbstverständlich, daß sie nur solchen Konsumvereinen beitreten, die einem Verband, der für die Neutralität auf politischem und wirtschaftlichem Gebiete die vollste Gewähr biete, angehören.
Der Centralverband deutscher Konsumvereine kann als solcher schon wegen der engen Koalierung mit den sozialdemokratischen Gewerkschaften und der sozialdemokratischen Partei nicht in Frage kommen.
Der Kongreß hält ein spezielles Staatsarbeiterrecht für dringend notwendig.

8. Oktober 1912 / 30. Mai 1913

Erster Balkankrieg zwischen Bulgarien, Griechenland, Montenegro und Serbien gegen die Türkei.
Am 20. Oktober wird auf einer von der SPD organisierten Massenversammlung in Berlin die deutsche Regierung aufgefordert, sich nicht in den Balkankrieg einzumischen und strikte Neutralität zu üben.
In allen europäischen Hauptstädten finden am 17. November auf Vorschlag des Internationalen Sozialistischen Büros Protestkundgebungen gegen den Krieg statt.

17. Oktober 1912

Theodor Bömelburg, geboren am 27. September 1862 in Westönnen (Westfalen), Maurer, seit 1894 Vorsitzender der Bauarbeitergewerkschaft, 1903-1911 MdR, in Hamburg gestorben.

24./25. November 1912

Der außerordentliche Kongreß der Internationale im Münster von Basel wird zu einer bedeutenden Friedensdemonstration. 550 Delegierte vertreten 23 Nationen. In einem umfangreichen Manifest wird ein Programm einer internationalen sozialistischen Außenpolitik verkündet, den drohenden Krieg zu verhindern. Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Deutschland auf der einen und England und Frankreich auf der anderen Seite, würde die größte Gefahr für den Weltfrieden beseitigen, die Machtstellung des Zarismus, der diesen Gegensatz ausbeute, erschüttern, einen Überfall Österreich-Ungarns auf Serbien unmöglich machen und der Welt den Frieden sichern. Auf dieses Ziel vor allem seien daher die Bemühungen der Internationale zu richten. Die Arbeiterklasse aller Länder solle mit allen Kräften die Vernichtung der Blüte aller Völker verhindern und in allen Formen und allen Orten den Friedenswillen des Proletariats demonstrieren.

14. Dezember 1912

Die Hauptstelle Deutscher Arbeitgeberverbände, deren Mitglieder über eine Million Arbeiter beschäftigen, protestiert gegen die "grobe Irreführung der öffentlichen Meinung". Es werde fälschlich ein "gesetzlich gewährleistetes Koalitionsrecht" konstruiert und aus ihm gefolgert, "daß jeder Unternehmer gezwungen sei, Mitglieder jeder Arbeiterkoalition in seinem Betrieb aufzunehmen und darin zu beschäftigen, solange nicht Betriebsgründe Arbeiterentlassungen überhaupt nötig machten". Demgegenüber beharrt die HDA auf die gesetzlich festgelegte "Freiheit des Unternehmer in der Auswahl seines Arbeitspersonals". "Wenn also der Unternehmer den Mitgliedern von Gewerkschaften, weil sie wirtschaftsstörende und klassenkämpferische Bestrebungen vertreten, die Beschäftigung in seinem Betriebe versagt, so stützt er sich hierbei durchaus auf das Gesetz; außerdem gebietet ihm diese Handlungsweise auch seine Pflicht, die ihm als dem für das Gedeihen des Betriebes verantwortlichen Teil die Fernhaltung betriebsstörender Einflüsse auferlegt."

16. Dezember 1912

Die gewerkschaftlich-genossenschaftliche "Volksfürsorge"-Versicherungsgesellschaft wird gegründet. Bereits am 31. Dezember 1913 hat sie 74.746 Versicherungsanträge mit einer Versicherungssumme von 13,25 Millionen Mark angenommen.
Das Aktienkapital - eine Million Mark - wird je zur Hälfte von Gewerkschaften und Genossenschaften eingezahlt.
Die Volksfürsorge umfaßt alle Arten der Volksversicherung. Sie übernimmt Versicherungen auf Todesfall sowie auf Todes- und Erlebensfall, Kinderversicherungen, Sparversicherungen sowie Versicherungen mit einmaliger Prämienzahlung.
Die der Generalkommission angeschlossenen Gewerkschaften und die dem Centralverbande Deutscher Konsumvereine angeschlossenen Genossenschaften werden mit allen ihren Funktionären in den Dienst der "Volksfürsorge" gestellt. Hierdurch soll erreicht werden, daß die Verwaltungskosten der "Volksfürsorge" möglichst gering werden, um die so erzielte Ersparnis den Versicherten zugute kommen zu lassen.
Nach Möglichkeit haben deshalb die Einkassierer und Beitragssammler der Gewerkschaften auch die Einkassierung der Prämien für die "Volksfürsorge" zu übernehmen, wofür ihnen die hierfür festgesetzte Entschädigung zusteht.
Der Geschäftsgewinn ist auf 4% begrenzt.

28./31. Dezember 1912

Der erste Verbandstag der Land-, Wald- und Weinbergsarbeiter in Berlin verlangt unter Beseitigung aller landesgesetzlichen Gesindeordnungen, aller Strafgesetze und Strafbestimmungen, die sich gegen Gesinde und Landarbeiter richten, die reichsgesetzliche Regelung des Landarbeiterrechts. Das hat die volle Koalitionsfreiheit für alle Land- und Forstarbeiter zu gewähren, das Arbeitsverhältnis nach den Erfordernissen der Erhaltung der Gesundheit, der Gebote der Sittlichkeit, der wirtschaftlichen Bedürfnisse der Arbeiter und ihres Anspruchs auf gesetzliche Gleichberechtigung - vor allem auch in der Arbeiterversicherung - zu regeln.
Es hat einen ausreichenden Arbeiterschutz, vor allem auch für Frauen und Kinder zu enthalten und besondere Berufsgerichte vorzusehen.
Der Verband hat rund 17.200 Mitglieder, darunter rund 670 weibliche.
Im Frühjahr 1913 reicht der Verband dem Reichstag eine Petition ein, in der er seine Forderung nach einer reichsgesetzlichen Lösung des Landarbeiterrechts unterbreitet.

Ende 1912

Der Generalkommission sind 48 Gewerkschaften mit rund 2.560.000 Mitgliedern, davon rund 222.400 weiblichen, angeschlossen.
Die größten Gewerkschaften sind die der Metallarbeiter mit rund 561.000, die der Bauarbeiter mit rund 330.000, die der Transportarbeiter mit rund 226.000, die der Fabrikarbeiter mit rund 208.000, die der Holzarbeiter mit rund 197.000, die der Textilarbeiter mit ca. 143.000 und die der Bergarbeiter mit rund 114.000 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkschaften sind die der Xylographen mit 423, die der Notenstecher mit 444, die der Aspaltheure mit 1.230, die der Blumenarbeiter mit 1.273, die der Zivilmusiker mit 2.046 und die der Friseure mit 2.532 Mitgliedern.
Von ihren Einnahmen gaben die Gewerkschaften rund 16% für Streik-, rund 14% für Kranken- und rund 9% für Arbeitslosenunterstützungen aus. Für Agitation und Bildungsmaßnahmen wandten die Gewerkschaften 15% ihrer Ausgaben auf.

Im Bereich der Generalkommission bestehen 744 Gewerkschaftskartelle, 106 Arbeitersekretariate, 133 Kommissionen für Beschwerden an Gewerbeinspektionen, 42 zur Bekämpfung des Kost- und Logiszwanges sowie 257 für den Bauarbeiterschutz.
Die Gewerkschaftskartelle setzten 84 weibliche Vertrauenspersonen und 17 Arbeiterinnen-Agitations-Kommissionen ein.
Es bestehen 77 von den Kartellen eingerichtete bzw. unterhaltene Gewerkschaftshäuser und 36 Gewerkschaftsherbergen in eigener Regie.
Bei den Kartellen sind 581 Bibliotheken vorhanden.
Die christlichen Gewerkschaften haben 184 Ortskartelle, die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine 155 Ortsverbände.

Seit 1909 erzielen vor allem die Verbände des Handels- und Transportgewerbes und der Gastronomie einen überdurchschnittlichen Mitgliedergewinn.
Regional sind seit 1906 die größten Mitgliederzuwächse zu verzeichnen. Auch in Sachsen können die Gewerkschaften beachtliche Mitgliedergewinne erzielen.
56,4% aller der in Gewerkschaften der Generalkommission organisierten Mitglieder leben in Großstädten mit mehr als 100.000 Einwohnern, in Orten bis 2.000 Einwohnern nur 6,7%.
Die höchsten Organisationsgrade erreichen die Gewerkschaften des Druckgewerbes mit 61,6%, die der Holzindustrie mit 36,7%, die der Metallindustrie mit 34,4% und die des Baugewerbes mit 30%.
Nur noch 16 der Generalkommission angeschlossene Verbände haben weniger als 10.000 Mitglieder, 1903 waren es noch 45.

Dem Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften gehören 24 Gewerkschaften mit rund 350.000 Mitgliedern, davon rund 28.000 weiblichen, an.
Die größten Gewerkschaften sind die der Bergarbeiter mit rund 78.000, die der Bauarbeiter mit rund 44.000, die der Metallarbeiter mit rund 42.000 und die der Textilarbeiter mit rund 40.000 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkschaften sind die der Weinbergarbeiter mit 751, die der Gärtner mit 791, die der Mecklenburgischen Eisenbahner mit rund 1.000 und die der Krankenpfleger mit rund 1.800 Mitgliedern. Von ihren Einnahmen gaben die christlichen Gewerkschaften 11% für Kranken-, 10% für Streik- und 3% für Reise- und Arbeitslosenunterstützungen aus.
12% ihrer Einnahmen verwendeten sie für Agitation und Bildungsmaßnahmen.

Dem Generalrat der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine gehören 21 Verbände mit rund 108.000 Mitgliedern, davon rund 5.000 weiblichen, an.
Die größten Gewerkvereine sind die der Maschinenbau- und Metallarbeiter mit rund 45.000, die der Fabrik- und Handarbeiter mit rund 18.000 und die der Württembergischen Eisenbahner mit rund 8.000 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkvereine sind die der Reepschläger mit 30, die der Küfer mit 54 und die der Bäcker und Konditoren mit 300 Mitgliedern.
Von ihren Einnahmen gaben die Gewerkvereine rund 27% für Kranken-, rund 10% für Streik- und rund 8% für Arbeitslosenunterstützungen aus.
Für Agitation und Bildungsmaßnahmen beliefen sich die Ausgaben auf 9%.

Für das Jahr 1912 registriert die Generalkommission 9.961 Lohnbewegungen mit rund 775.000 Beteiligten.
In 2.825 Fällen kam es zu Arbeitskämpfen mit rund 480.000 Personen.
Von den 1.543 Angriffsstreiks verliefen 61,5%, von den 926 Abwehrstreiks 66,3% erfolgreich.
Von den 356 Aussperrungen endeten 52,3% erfolgreich.

Innerhalb des "Internationalen Sekretariats" bestehen folgende Berufssekretariate:
das Internationale Buchbindersekretariat
das Internationale Buchdruckersekretariat
der Internationale Diamantarbeiterbund
das Internationale Sekretariat der Fabrikarbeiter
das Sekretariat der Friseurgehilfen
der Internationale Metallarbeiterbund
die Internationale Vereinigung der Sattler
das Internationale Sekretariat der Schneider
die Internationale Schuh- und Lederarbeiterunion
das Internationale Steinarbeitersekretariat
das Internationale Sekretariat der Tabakarbeiter
der Centralrat der Internationalen Transportarbeiterföderation
die Internationale Vereinigung der Textilarbeiter
das Internationale Sekretariat der Töpfer
der Internationale Vertrauensmann der Zimmerer
das Sekretariat der Arbeiter öffentlicher Betriebe
die Internationale Vereinigung der Verbände der Bäcker, Konditoren und verwandter Berufsgenossen
die Internationale der Bergarbeiter
das Sekretariat der Bauarbeiter.
Die meisten der internationalen Berufssekretariate haben eigene Organe, von denen die der Handlungsgehilfen, Lithographen, Metallarbeiter, Textilarbeiter und Holzarbeiter monatlich in 3 bis 4 Sprachen erscheinen, während das Sekretariat der Transportarbeiter neben einem vierteljährlichen Korresponenzblatt eine wöchentliche Korrespondenz herausgibt. Die übrigen Sekretariate lassen ihre Bulletins in längeren Fristen oder nach Bedarf erscheinen.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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