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1911

1911 / 1914

Arbeitgeber- und Handwerkerverbände verlangen immer wieder ein gesetzliches Verbot des Streikpostenstehens und einen ausreichenden Schutz für Arbeitswillige.
Doch eine große Mehrheit im Reichstag lehnt diese Forderungen bis 1914 mehrmals ab.

1911

Auch innerhalb der chemischen Industrie versuchen die Unternehmer, ihre Betriebe möglichst "gewerkschaftsfrei" zu halten. In vielen Fällen benutzen die Chemieindustriellen einen Streik zur "Säuberung" ihrer Betriebe, durch koalitionsfeindliche Reverse und Anfragen bei früheren Arbeitgebern nach der Gewerkschaftzugehörigkeit eines Bewerbers. So z.B. in diesem Jahr die Badischen Anilin- und Sodafabriken in Ludwigshafen.
Mitte 1912 greift der Verein zur Wahrung der Interessen der chemischen Industrie Deutschlands in einem vertraulichen Rundschreiben die "Gewerkschaftsagitatoren und ihre Presse" scharf an. "Durch Verbreitung von Lügen, durch Übertreibung einzelner Ereignisse wird von diesen Elementen bei den Arbeitern Haß und Erbitterung, bei den Arbeitgebern eine tiefe Verbitterung gesät und jedes ruhige Zusammenarbeiten, wie es in beider Interesse läge, unmöglich gemacht." Von "Zunahme und Machtzuwachs" des Fabrikarbeiterverbandes befürchtet der Verein "eventuell eine ernste Gefahr für die Prosperität der chemischen Industrie Deutschlands in der Zukunft".
Im Oktober 1912 empfiehlt der Verein auf seiner Hauptversammlung die Gründung von Werkvereinen.

Nach wissenschaftlichen Untersuchungen wechseln ca. 50% der Belegschaften jährlich ihren Arbeitsplatz. Einen "stark übernormalen Wandertrieb" entwickeln die 17- bis 26jährigen Arbeiter, wobei sich die Jahre zwischen dem 18. und 21. Lebensjahr als die mobilste Lebensphase zeigen. Die weiblichen Beschäftigten und ungelernten Arbeiter, die leichter ersetzbar sind, weisen eine höhere Mobilitätsquote auf als gelernte Facharbeiter.
Für die Berliner Gewerkschaftskommission ist die Fluktuationsrate von Frauen und Jugendlichen "geradezu erschreckend". Sie ist doppelt so hoch wie bei den Männern.

Rund 77% aller Tarifverträge sind Firmentarifverträge.
Bis 1913 bleibt diese Zahl konstant.

Die Vollversammlung des Deutschen Handelstages fordert, daß "neuen sozialpolitischen Plänen nicht eher nähergetreten werden dürfe, als bis der Ausgleich zwischen unserer sozialpolitischen Belastung und derjenigen unserer Konkurrenzstaaten hergestellt ist und man der Industrie gestatten müsse, einmal tief Atem zu holen und sich auszuruhen von all demjenigen, was man ihr an Belastungen gegenwärtig zumutet".

1. Januar 1911

Im Brauereigewerbe wird in 1.237 Betrieben mit 44.740 Beschäftigten Urlaub gewährt, wenn auch erst nach Wartezeiten - Karenzzeiten - zwischen zwei und sechs Jahren das Recht auf Urlaub erreicht wird.

8. Januar 1911

Emma Ihrer, geboren 3. Januar 1857 in Glatz, war 1885 an der Gründung des "Vereins zur Vertretung der Interessen der Arbeiterinnen" beteiligt, 1890 Gründerin der Zeitschrift "Die Arbeiterin", 1890-1892 das erste weibliche Mitglied der Generalkommission, Gründerin und Vorsitzende des gewerkschaftlichen Arbeiterinnencomités, in Berlin gestorben.

12. Januar 1911

In Berlin führen die Gewerkschaften aller Richtungen und der Ausschuß für Sozialpolitik einen Heimarbeitertag durch. Die Teilnehmer verlangen für die Heimarbeiter, daß "durch Bundesrat oder Landescentralbehörde Einrichtungen geschaffen werden mit der Befugnis, durch die gewählten Vertreter der Arbeitgeber und der Arbeiter unter unparteiischem Vorsitz Tarife ausarbeiten zu lassen, die dann rechtsverbindlich und in ihrer Durchführung staatlich geschützt sind.
Der Heimarbeitertag erneuert zudem die während der letzten Jahre in zahlreichen Eingaben und Kundgebungen ausgesprochenen Wünsche der Heimarbeiter und zwar u. a.:
Für das Hausarbeitsgesetz: Unterstellung unter die Gewerbeaufsicht; Durchführung eines sanitären Gesetzes; allgemeine Einführung von Abrechnungsbüchern, obligatorischer Aushang von Lohntafeln; Entschädigung für unverschuldete Zeitversäumnis beim Holen oder Bringen von Arbeit.
Für das Arbeitskammergesetz: Verpflichtung zur Förderung der Vereinbarung und Regelung der Löhne in der Heimarbeit; Wählbarkeit der Angestellten der Berufsvereine.
Für die Reichsversicherungsordnung: Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle Heimarbeiter nicht nur für die Krankenversicherung, sondern auch für die sämtlichen übrigen Zweige der Reichsversicherungsordnung."

22. Januar 1911

In Preußen finden Hunderte von Protestversammlungen gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht statt, nachdem bei den Etatberatungen der preußische Innenminister das Einbringen einer neuen Vorlage zur Zeit für zwecklos erklärt hatte, da die Parteien ihre Haltung nicht geändert hätten.

Februar 1911

Der Versuch der Bergarbeiterverbände, im mitteldeutschen Braunkohlen- und Kalibergbau Tarifverträge abzuschließen wird von den Bergbauvereinen abgewehrt, "denn im Falle der Einführung von Lohntarifen seien Verhandlungen mit den Arbeiterverbänden nicht zu umgehen, die Sozialdemokratie würde eine weitere Stärkung erfahren, und es würde schließlich dahin kommen, daß man in seinem eigenen Hause nicht mehr Herr sei".

24. Februar 1911

Bei der zweiten Lesung des Militäretats im Reichstag beklagt G. Noske die Verweigerung der seit Jahren von den Sozialdemokraten geforderten Lohnverbesserungen der Soldaten, die Streichung der Heizer-Zulagen bei der Marine und weist auf die drakonischen Urteile der Militärgerichte hin. Er beendet seine Ausführungen mit den Worten: "Wir entziehen uns dem Vaterlande nicht, wenn wirklich einmal ein auswärtiger Feind drohen sollte, aber dem volksfeindlichen Militarismus gegenüber gibt es für uns nur eine Parole: Krieg bis aufs Messer!"

13. März 1911

Die Reichsregierung lehnt auf Grund der Kritik der Arbeitgeberverbände endgültig eine gesetzliche Regelung des Tarifvertragswesens ab, die seit 1905 vom Zentrum, später auch von anderen Parteien und Institutionen gefordert worden war. Obwohl sich die sozialdemokratischen Gewerkschaften auf ihrem Kongreß 1908 auch für ein solches Gesetz ausgesprochen hatten, verfolgen sie aber dieses Ziel bald nicht mehr, da die Unternehmer auf die fehlende Haftung der Gewerkschaften für einen möglichen Tarifbruch ihrer Mitglieder hinweisen.

13. März / 27. April 1911

In Chemnitz streiken Former und Gießereiarbeiter für die Einführung tariflich geregelter Lohn- und Arbeitsverhältnisse. Nachdem in einer Hauptversammlung des Chemnitzer Bezirksverbandes deutscher Metallindustrieller am 13. März die Aussperrung beschlossen worden ist, sind bis zum 20. März 6.000 Arbeiter ausgesperrt. Nach minimalen Zugeständnissen der Unternehmer wird der Kampf abgebrochen.

19. März 1911

An vielen Orten wird der erste sozialdemokratische Frauentag durchgeführt. Er steht im Zeichen der Programmforderung: "Volles Bürgerrecht für die Frau".

3./8. April 1911

Die Generalversammlung des Centralverbandes der Zimmerer in Leipzig beschließt, daß den örtlichen Organisationen das Selbstbestimmungsrecht über Annahme und Ablehnung der Tarifverträge zusteht. Den Bestrebungen der Arbeitgeber, die Tarifverträge zu zentralisieren, sei scharfer Widerstand entgegenzusetzen. Für die Jahre 1910 und 1911 werden Extrabeiträge erhoben, um den Verband nach dem Arbeitskampf 1910 wieder finanziell zu stärken.

4. April 1911

Die von der Reichsregierung einberufene Kommission zur Reform des Strafrechts konstituiert sich. In den folgenden Jahren werden im Entwurf u. a. die Strafbestimmungen zum Schutz gegen Massenstreiks erweitert. Zusätzlich zu den Eisenbahnen, der Post, den Telegraphen-, Fernsprech- und Rohrpostanlagen und den Einrichtungen zur öffentlichen Versorgung mit Wasser und Licht werden auch noch die öffentlichen Versorgungsbetriebe für Wärme oder Kraft und die staatlichen Anstalten aufgenommen, welche der Landesverteidigung dienen. Vorsätzliche Hinderung oder Störung durch Sabotage und der Versuch hierzu wird in allen Betrieben, bei der Post auch die fahrlässige Verhinderung oder Gefährdung, bestraft. Neu eingeführt wird eine Strafbestimmung gegen vorsätzliche Betriebsverhinderung durch "böswillige Verzögerung" der Dienstverrichtungen, also passive Resistenz, und durch Arbeitseinstellung während der Dauer des Dienstverhältnisses, wobei auch der Versuch strafbar sein soll. Falls durch diese Handlungen "gemeine Not" herbeigeführt wird, ist als Strafe Zuchthaus nicht unter fünf Jahren, bei mildernden Umständen Gefängnis nicht unter sechs Monaten vorgesehen.

7. April 1911

In der "Neuen Zeit" wird festgestellt, daß auf dem Gebiet der Tarifverträge jede Gewerkschaft ihre eigene Praxis habe, weil die Führung fehle.
Gleichzeitig wird auf das große Interesse der Arbeiter für Ortstarife hingewiesen, da sich die in vielen Gewerben noch sehr starken örtlichen Verhältnisse berücksichtigen lassen, während die Unternehmer Reichstarife mit einheitlichen Ablaufterminen anstreben, um Gewerkschaften Arbeitskämpfe zu erschweren.

19./21. April 1911

Der Ausschuß des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften stimmt trotz mancher Bedenken dem Entwurf der Reichsversicherungsordnung zu und empfiehlt den christlichen Reichstagsabgeordneten, ihn anzunehmen.

11. Mai 1911

Führende Vertreter der christlichen Gewerkschaften und der Gewerkvereine beschließen, bei Lohnbewegungen, Streiks und Aussperrungen, bei sozialen Wahlen und bei der Beschickung von Veranstaltungen und Kongressen gemeinsam vorzugehen.

14./20. Mai 1911

Generalversammlung der Lederarbeiter in München. Zum ersten Mal sind vier Frauen Delegierte. Die Delegierten diskutieren die Möglichkeit eines Reichstarifvertrages.
Im Sommer 1911 wird für die Städte Berlin, Offenbach und Stuttgart, die drei Hauptproduktionsstätten, ein einheitlicher Tarifvertrag abgeschlossen.
1914 soll in Berlin die 52stündige, in Offenbach und Stuttgart die 53stündige Wochenarbeitszeit eingeführt werden.
Die Unternehmer verpflichten, sich allen Heimarbeitern ein Drittel des Krankenbeitrages zu erstatten.

21./26. Mai 1911

Die Generalversammlung des Verbandes der Bergarbeiter in Bochum beschließt eine "Gehaltsskala" für die Verbandsangestellten, nachdem sich deren Gehalt nach Dienstjahren richtet.
"Angestellten, welche große Nachlässigkeit zeigen, oder sich verschiedene Verstöße zuschulden kommen lassen, kann durch Beschluß des Gesamtvorstandes die Gehaltssteigerung verweigert werden.
Jeder Angestellte und Lokalbeamte ist gegen Krankheit, Invalidität und Unfall zu versichern.
In Krankheitsfällen ist das Gehalt auf die Dauer von drei Monaten weiter zu zahlen.
Jedem Angestellten stehen nach Ablauf des Probejahres jährlich 14 Tage Ferien zu.
Wenn ein Angestellter im Dienste des Verbandes Freiheitsstrafen erleidet, so hat er Anspruch auf Selbstbeschäftigung und Beköstigung aus Verbandsmitteln."
Neu gebildet wird ein Aktionsausschuß, der die Aufgabe hat, gemeinsam mit dem Vorstand taktische und sonst wichtige Fragen innerhalb des Verbandes zu beraten. Der Ausschuß wird gebildet aus direkt von den Mitgliedern gewählten Delegierten, aus den Bezirksleitern und dem Gesamtvorstand nebst den Redakteuren. Der Aktionsausschuß ist vom Gesamtvorstand zu berufen, wenn es sich handelt: um Aufstellung eines Aktionsprogramms für den Verband, sowie für einzelne Branchen oder Reviere;
um Streitigkeiten über die Taktik, namentlich bei größeren Streiks und Aussperrungen, die Taktik im allgemeinen und bei der Agitation.
Die Generalversammlung hält erneut ein Reichsberggesetz für dringend erforderlich.
Der Vorsitzende H. Sachse wird bestätigt, zum 2. Vorsitzenden wird Fritz Husemann gewählt.

22./27. Mai 1911

Die Generalversammlung des Centralverbandes der Glasarbeiter und -arbeiterinnen in Ilmenau stellt fest, "daß die gesundheitlichen Verhältnisse in den Glasschleifereien tieftraurige sind, die Kranken- und Sterblichkeitsziffer eine sehr hohe ist, insbesondere die Volkskrankheit Tuberkulose stark unter genannten Arbeitern überhand nimmt". Deshalb fordert die Konferenz energische Maßnahmen zur Verhütung der genannten Übel.
Alle Mitglieder sind verpflichtet, entschieden für eine Beschränkung der Heimarbeit, die Beseitigung des Kost- und Logiswesens und das Zwischenmeistersystem einzutreten.

31. Mai 1911

Der Reichstag beschließt gegen die Stimmen der SPD und der freisinnigen Volkspartei die Reichsversicherungsordnung - das umfangreichste Gesetz des Deutschen Reiches -, in der alle bisherige Versicherungsgesetzgebung für Krankheit, Unfall, Invalidität und Alter zusammengefaßt wird.
Der Kreis der Krankenversicherten wird auf die Landarbeiter, die Dienstboten und die Hausgewerbetreibenden ausgedehnt. Die Verteilung der Beitragsleistungen und die damit verbundene Stimmverteilung bleibt zwar in den Kasseninstitutionen bestehen, doch die Selbstverwaltungsrechte werden eingeschränkt, die Landarbeiter von der Selbstverwaltung in den neuen Landkrankenkassen ausgeschlossen. Während die Betriebskrankenkassen mehr Rechte erhalten, werden die selbstverwalteten Hilfskassen aus der gesetzlichen Krankenversicherung ausgeschlossen.
Neu ist die Einführung einer Hinterbliebenenversicherung für erwerbsunfähige Witwen und für Waisen.
Nicht aufgenommen wird die von den Gewerkschaften geforderte Altersrente ab dem 65. Lebensjahr, die Verbesserung des Schwangeren-und Wöchnerinnenschutzes und die Anerkennung gewerblicher Vergiftungen als Unfälle.

Ende Mai / Anfang Juni 1911

Der Verein der Deutschen Kaufleute beschließt auf seinem Delegiertentag in Berlin seinen Austritt aus dem Gesamtverband der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine.

5./10. Juni 1911

Die Generalversammlung des Metallarbeiterverbandes in Mannheim erklärt:
"Die Arbeitsvermittlung in der Metallindustrie, die heute noch vollständig planlos erfolgt, bedarf dringend der Regelung.
Als gute Ansätze zur Erzielung praktischer Einrichtungen für die Arbeitsvermittelung können paritätische Arbeitsnachweise angesehen werden.
Unzureichend und unpraktisch ist das sogenannte Umschauen und die private Vermittelung unter der Hand sowie durch Zeitungsinserate.
Entschieden bekämpft müssen alle Einrichtungen werden, die als sogenannte Arbeitgebernachweise nur dem Namen nach Arbeitsnachweise sind, eine ständige Gefahr für das Gemeinwohl, sie sind der Unternehmerterrorismus in Permanenz. Der Kampf gegen diese Einrichtungen ist deshalb eine wichtige Aufgabe der Arbeiterorganisationen.
Die Versammlung fordert zur Beseitigung der zutage getretenen Mißstände wirksame gesetzliche Maßnahmen.
Die Delegierten erachten es als ihre höchste Pflicht, mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln dafür einzutreten, daß die Kulturbestrebungen der arbeitenden Klassen gefördert werden. Insbesondere halten sie es für ihre Pflicht, in geeigneter Weise den Kampf gegen den noch lange nicht genug erkannten Feind der Arbeiterschaft, den Alkohol, aufzunehmen, um so mehr, da die organisierte Arbeiterschaft als Trägerin aller Kulturbestrebungen ihre vornehmste Aufgabe darin erblickt, ihre Klasse auf ein höheres Niveau zu bringen und den Emanzipationskampf zu beschleunigen."

12./17. Juni 1911

Der internationale Textilarbeiterkongreß in Amsterdam betont die Pflicht der Arbeitnehmer aller Länder zu solidarischer Hilfeleistung, wenn die Mittel der Textilarbeiter eines Landes in der Auseinandersetzung mit den Unternehmern nicht ausreichen.

13./14. Juli 1911

Die Konferenz der Vertreter der der Generalkommission angeschlossenen Verbandsvorstände in Berlin beschließt den Beitritt zur "Internationalen Vereinigung zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit".

14. Juni 1911

Th. Leipart behandelt auf der Konferenz der Zentralvorstände die Vor- und Nachteile eines Tarifgesetzes und nennt es ein Glück, daß von der Regierung keine "Überhastung dieser schwierigen Frage" zu befürchten sei.

19./21. Juni 1911

Der Genossenschaftstag des Centralverbandes der Konsumvereine in Leipzig beschließt dem "Internationalen Genossenschaftsbund" beizutreten.
In seinem Rechenschaftsbericht hebt der Vorsitzende H. Kaufmann hervor, daß die Beziehungen zwischen den Konsumvereinen und den Gewerkschaften sich, trotz mancherlei Reibungen, unter Anerkennung der Selbständigkeit jeder Bewegung, immer inniger gestaltet hätten. Von den mit der Generalkommission der Gewerkschaften getroffenen Vereinbarungen über Heimarbeit, Strafanstaltsarbeit, Boykotts, Anerkennung der Gewerkschaften, ihrer Tarife und der gewerkschaftsüblichen Arbeitsbedingungen, über die Errichtung industrieller Arbeitsgenossenschaften, sowie über die genossenschaftlichen Pflichten der Gewerkschaftsmitglieder soll die erstgenannte betreffend Hausindustrie und Behandlung der Heimarbeitsprodukte nunmehr mit Nachdruck durchgeführt werden.

26. Juni / 1. Juli 1911

Der 8. Kongreß der freien Gewerkschaften in Dresden fordert für die Eisenbahner, die Staats- und Gemeindearbeiter, die Landarbeiter, die Seeleute und die Bergarbeiter die uneingeschränkte Koalitionsfreiheit. Die Koalitionsfreiheit sei zwar theoretisch in Deutschland anerkannt, die praktische Ausübung dieses Rechts werde aber durch die Gesetzgebung und die Rechtsauslegung erschwert, oft nahezu unmöglich gemacht.
Bei der Revision des Strafgesetzbuches - "konzentrierteste, in das raffinierteste System gebrachte Gewalt gegen das politisch und gewerkschaftlich organisierte Proletariat" - sollen alle die Ausübung des Koalitionsrechts erschwerenden Vorschriften des geltenden Rechts aus dem Strafgesetzbuch beseitigt werden. Unternehmer, die das Koalitionsrecht der Arbeiter behindern, sollen unter Strafe gestellt werden.
Der Kongreß beauftragt die Generalkommission, gemeinsam mit dem Zentralverband Deutscher Konsumvereine eine gewerkschaftlich-genossenschaftliche Unterstützungsvereinigung ins Leben zu rufen. Aufgabe dieser Vereinigung soll es sein, den Mitgliedern der Gewerkschaften und Genossenschaften, die freiwillig Beiträge leisten, und deren Familienangehörigen im Falle des Todes, des Alters und der Kinderversorgung usw. Unterstützung zu gewähren.
Die Gewerkschaftskartelle sollen die junge Organisation der Hausangestellten moralisch und materiell unterstützen.
Der Kongreß bestätigt die zwischen der Generalkommission und dem Centralverband der Konsumvereine getroffenen Vereinbarungen über die Beseitigung der Heimarbeit, den Ausschluß von Strafanstaltserzeugnissen, den genossenschaftlichen Pflichten der Gewerkschaftmitglieder, über die Verhängung von Boykotts über eine Stellungnahme zur Neugründung von industriellen Arbeitsgenossenschaften oder sog. Produktionsgenossenschaften und die "Anerkennung der Gewerkschaften, deren Tarife und gewerkschaftsüblichen Arbeitsbedingungen bei Lieferungsaufträgen und Vergebung von Arbeiten":
"Der Vorstand des Centralverbandes verpflichtet sich, den Konsumvereinen zu empfehlen, daß bei Lieferungsaufträgen sowie bei Vergebung von Arbeiten der Vereine solche Firmen Berücksichtigung finden, welche die Gewerkschaften und die von diesen mit den Arbeitgebern abgeschlossenen Tarife und Vereinbarungen anerkennen."
Der Kongreß verlangt zahlreiche Änderungen im Heimarbeitergesetzentwurf. Entschieden protestiert der Kongreß gegen die geplante Zurücksetzung der Heimarbeiter in der Reichsversicherungsordnung, insbesondere gegen die rechtlose Stellung in den Landkrankenkassen und die Ausschaltung der Heimarbeiter in der Invaliden- und der Hinterbliebenenversicherung.
Der Kongreß kann in der Reichsversicherungsordnung keine den Anforderungen der Arbeiter entsprechende Reform der Arbeiterversicherung erkennen. Er verurteilt auf das entschiedenste die Beeinträchtigung der Rechte der Arbeiter in der Krankenversicherung, das Weiterbestehen der Betriebs-, Innungs- und Sonderkassen, die ungenügende Fürsorge für die Landarbeiter, die Benachteiligung der Ausländer, die vollständige Ausschaltung der Selbstverwaltung in den Landkrankenkassen, das Fehlen einer Mutterschaftsversicherung, die Begrenzung der Versicherungspflicht für Privatangestellte, die ungenügende Entschädigung bei Betriebsunfällen, das Ausscheiden zahlreicher Arbeiter aus der Unfallversicherung, die Verschlechterung des Verfahrens, die niederen Invaliden- und Altersrenten, die Verweigerung der Altersrenten bei Vollendung des 65. Lebensjahres, den Ausschluß der Heimarbeiter aus der Invalidenversicherung, das Herabdrücken der Witwen- und Waisenrenten auf gänzlich unzulängliche Beträge.
Der dem Reichstag unterbreitete Entwurf eines Gesetzes betreffend die Versicherung der Privatangestellten bringt abermals eine Zersplitterung in der Arbeiterversicherung, die nicht zum Vorteil der Versicherten dienen kann.
Der Kongreß erneuert seinen Beschluß von 1908, bei allen Gesetzen auf die Gewährung gleicher Rechte für Männer und Frauen hinzuwirken.
Der Kongreß ruft die Angestellten auf, sich nicht von dem Anschluß an die Gewerkschaftsbewegung abdrängen zu lassen. "Arbeiter und Angestellte gehören in eine gemeinsame Kampfesfront. Den vereinten Kräften umfassender Organisationen der Angestellten und Arbeiter wird es gelingen, die Macht des Kapitals zu brechen und den endgültigen Sieg der Arbeit über das Kapital vorbereiten zu helfen."
"Die Arbeitslosenversicherung ist auf der bewährten Grundlage der gewerkschaftlichen Arbeitslosenunterstützung dergestalt zu organisieren, daß das Reich den Gewerkschaften einen Teil der für die Arbeitslosenfürsorge gemachten Aufwendungen zurückvergütet, ohne sie in ihrer freien Selbstverwaltung zu beeinträchtigen."
Der Kongreß nimmt Leitsätze zur Verbesserung der gewerkschaftlichen Bildungsbestrebungen und des Bibliothekswesens an. Denn "die Gewerkschaften haben die Aufgaben, die Mitglieder mit Fragen des öffentlichen Lebens bekannt zu machen und ihnen Kenntnisse zu vermitteln, die geeignet sind, sie als Menschen zu heben und als kämpfende Arbeiter in ihren Kämpfen zu unterstützen. Die Erweiterung der Elementarkenntnisse der Volksschule ist nicht Aufgabe der Gewerkschaften. ..."
"In Anbetracht dessen, daß die wirtschaftlichen Kämpfe einen immer schärferen Charakter annehmen und die Taktik der Unternehmerverbände dahin geht, durch große Aussperrungen den Arbeitern ihren Willen aufzuzwingen, werden die Branchenverbände aufgefordert, sich zu leistungsfähigen Industrieverbänden zu vereinigen oder sich an solche anzuschließen."
In die Generalkommisson werden wieder gewählt: C. Legien (Vorsitzender), Gustav Bauer, Adolf Cohen, Emil Döblin, Carl Hübsch, Alexander Knoll, Hermann Kube, Gustav Sabath, Hermann Sachse (neu), Johann Sassenbach, Robert Schmidt, Oswald Schumann, Hermann Silberschmidt.

27. Juni 1911

Die Mehrheit des preußischen Abgeordnetenhauses lehnt die sozialdemokratische Forderung nach Einführung des Reichstagswahlrechts für den preußischen Landtag ab. Die SPD ruft darauf zu Protestversammlungen auf.

1. Hälfte Juli 1911

In ganz Preußen finden Protestversammlungen gegen die Ablehnung der sozialdemokratischen Wahlrechtsforderungen im preußischen Abgeordnetenhaus statt.

1. Juli 1911

Durch die Entsendung der Kriegsschiffe "Panther" und "Berlin" nach Agadir wird die zweite Marokkokrise ausgelöst. In zwei Abkommen sichert das deutsche Reich Frankreich politisch und militärisch freie Hand in Marokko zu und erhält dafür vorteilhafte Bedingungen für die Ausbeutung der Erzvorkommen in Marokko sowie einen Teil von Französisch-Kongo.

9./12. Juli 1911

Auf der Generalversammlung des Gewerkvereins christlicher Bergarbeiter in Köln erklärt dessen Vorsitzender Heinrich Imbusch: "Der Sozialdemokratie gegenüber können wir nicht neutral sein. Deren und unsere Grundsätze stehen sich entgegen und schließen sich gegenseitig aus. Auf Schritt und Tritt müssen wir uns deshalb als Gegner begegnen."

Die Generalversammlung des Verbandes der Lagerhalter und Lagerhalterinnen in München "erkennt gern an, daß ein Teil der Konsumvereine bemüht ist, den sozialen Verpflichtungen, die sie als Arbeitgeber ihren Arbeitern und Angestellten gegenüber zu erfüllen haben, nachzukommen.
Die letzte vom Verband aufgenommene Statistik zeigt jedoch, daß ein großer Teil der Konsumvereine seine soziale Pflicht als Arbeitgeber nicht erfüllt. Die Generalversammlung ist sich bewußt, daß die Konsumvereine im heutigen kapitalistischen Staatswesen im gewissen Sinne kapitalistisch geleitet werden müssen, um sich lebens- und leistungsfähig zu erhalten. Sie kann sich jedoch mit der Ansicht: 'die Konsumgenossenschaften, wirtschaftlich gesprochen, nur als Krämer zu betrachten', nicht einverstanden erklären. Die Konsumgenossenschaften sollen im heutigen Wirtschaftsleben eine höher entwickelte Form der Warenvermittelung darstellen. ...
Eine weitere Aufgabe der Konsumgenossenschaften muß aber sein, wertvolle soziale Arbeit durch Schaffung mustergültiger Lohn- und Arbeitsverhältnisse zu leisten. Deshalb fordert die Generalversammlung die Konsumgenossenschaften, die diese Aufgabe noch nicht erfüllen, auf, den Forderungen der Gewerkschaften Rechnung zu tragen."

16. Juli 1911

An dem internationalen Sozialistentreffen in Arbon (Schweiz) nehmen 8.000 Menschen aus Deutschland, Italien, Österreich und der Schweiz teil. Die Arbeiter aller Länder werden aufgefordert, in Übereinstimmung mit der Resolution des Internationalen Sozialistenkongresses in Stuttgart mit allen Mitteln gegen einen evtl. ausbrechenden Völkermord vorzugehen.

August / September 1911

Der anfängliche Teilstreik von rund 700 Leipziger Metallgießern wird von den Metallindustriellen zu einer Kraftprobe mit den Metallarbeitern ganz Sachsens gemacht. In Leipzig sperren die Metallindustriellen ab 5. August 60 Prozent der Metallarbeiter von Chemnitz, Dresden und Leipzig aus. Die Metallarbeiter ganz stellen sich solidarisch an die Seite der Leipziger Metallgießer.

7./9. August 1911

Der Verbandstag des Verbandes der Büroangestellten und der Verwaltungsbeamten der Krankenkassen in Köln wiederholt mit allem Nachdruck die seit 15 Jahren erhobenen Forderungen nach einer rechtlichen Regelung der Berufsverhältnisse der Büreauangestellten. Er fordert insbesondere zunächst die schleunigste rechtliche Gleichstellung mit den Handlungsgehilfen und weiterhin einen gründlichen und umfassenden Ausbau des Arbeitsvertragsrechtes wie der Schutzgesetze für die Angestellten überhaupt mit dem Ziele eines einheitlichen Privatangestellten- und Arbeitsrechtes.
Der Entwurf eines Versicherungsgesetzes für Angestellte ist schon wegen der Zulassung von Ersatzkassen unannehmbar.
Der Verband nennt sich nun "Verband der Bureauangestellten Deutschlands".

8. August / Anfang September 1911

Der SPD-Parteivorstand ruft auf, "mit allen zu Gebote stehenden Mitteln den Frieden zu sichern."
Darauf finden bis September in ganz Deutschland zahlreiche Massenversammlungen und Kundgebungen gegen die Kriegsgefahr statt. Am 3. September demonstrieren über 200.000 Personen im Treptower Park in Berlin unter der Losung "Gegen die Kriegshetze! Für den Völkerfrieden!". Auf 10 Tribünen sprechen 20 Sozialdemokraten.

10./12. August 1911

Die 7. internationale Konferenz der Vertreter der gewerkschaftlichen Landeszentralen in Budapest - auf ihr sind 18 Landeszentralen vertreten - beschließt:
"Das Internationale Sekretariat hat sich an internationalen Hilfsaktionen nur dann zu beteiligen, wenn gleichzeitig mehrere Berufs- oder Industrieverbände eines Landes derart in wirtschaftliche Kämpfe verwickelt sind, daß die zu deren Durchführung erforderlichen Mittel im eigenen Lande oder von den internationalen Branchenorganisationen, denen die beteiligten Verbände angehören, nicht aufgebracht werden können.
Die Einleitung einer internationalen Hilfsaktion hat ferner nur dann zu erfolgen, wenn u. a. folgende Bedingungen erfüllt sind:
Von der Landescentrale, der die zu unterstützenden Organisationen angehören, ist ein motiviertes Gesuch an das Internationale Gewerkschaftssekretariat einzureichen. Die Motivierung soll enthalten: Einen summarischen Bericht über Ursachen und bisherigen Verlauf des Konfliktes, ferner eine Übersicht über die Organisationsstärke und die finanzielle Leistungsfähigkeit der hilfesuchenden Organisationen."
Die Forderung der französischen Delegierten, Esparanto als internationale Hilfssprache einzuführen, wird abgelehnt.

20./25. August 1911

Die Generalversammlung des Centralverbandes der Böttcher, Weinküfer und Hilfsarbeiter in Dresden beschließt, daß die Arbeitseinstellung nur in geheimer Abstimmung mit Zweidrittelmehrheit beschlossen werden kann.
Die Mitglieder des Verbandsvorstandes, des Ausschusses, der Pressekommission und die Gauleiter haben auf dem Verbandstag nur Stimmrecht, wenn sie als Delegierte gewählt sind.
Die Ferien für die Verbandsangestellten werden von acht auf 14 Tage verlängert.

26. August / 1. September 1911

Die Generalversammlung der Porzellan- und verwandten Arbeiter und Arbeiterinnen in Berlin fordert die neunstündige Arbeitszeit: "Dazu drängen in erster Linie die außerordentlich großen Gefahren, denen die Kollegen und Kolleginnen bei der Arbeit ausgesetzt sind. Vor allen Dingen entstehen die schweren Gefahren durch den gefährlichen Staub und die starke Hitze, welche die Arbeitsräume erfüllen, ferner auch durch die Verarbeitung von nassem Material. In überaus zahlreichen Fällen führen diese Übelstände zu schweren Erkrankungen der Arbeiter und Arbeiterinnen, welche infolgedessen zumeist an Tuberkulose zugrunde gehen."
Die Delegierten billigen nach heftigen Vorwürfen gegen den Fabrikarbeiterverband, die mit ihm durch die Vermittlung der Generalkommission getroffenen Vereinbarungen über die Organisationsgrenzen.

30. August 1911

Zwischen dem christlichem Metallarbeiterverband und dem Gewerkverein der Metall- und Maschinenbauarbeiter wird ein Kartellvertrag geschlossen:
Im Interesse der Metallarbeiterschaft sollen bei Streiks und Aussperrungen beide Verbände gemeinsam und einheitlich vorgehen; besonders bei der einzuschlagenden Taktik, bei Beginn, Fortsetzung und Beilegung der Kämpfe.
In Orten und Bezirken, wo die Mitgliederzahlen der beiden Verbände sehr ungleich sind, soll bei Festlegung der Taktik diejenige Organisation das Meistbestimmungsrecht haben, welche die größte Mitgliederzahl aufweist.
Keiner der beiden Verbände soll dem anderen Teil bei Streiks oder Aussperrungen Schwierigkeiten bereiten, sei es durch Drängen zum Streik oder bei Abbruch des Streiks.
Gegenüber den Ausschaltungsbestrebungen gegnerischer Organisationen bei Tarifabschlüssen und Verhandlungen sollen beide Verbände gemeinsam vorgehen, um sich die Anerkennung und das Mitbestimmungsrecht zu sichern.
Bei Streitfällen mit anderen Organisationen soll entweder wohlwollende Neutralität gewahrt oder freundliche Hilfeleistung geübt werden.
Unbeschadet der getroffenen Vereinbarungen wahrt jede Organisation ihre absolute Selbständigkeit, und werden die grundsätzlichen und organisatorischen Verschiedenheiten der Organisationen in keiner Weise berührt. Eine Einwirkung auf parteipolitische oder konfessionelle Gebiete ist ausgeschlossen.

3. September 1911

Eine Kundgebung von mehr als 200.000 Berlinern im Treptower Park unter der Losung "Gegen die Kriegshetze! Für den Völkerfrieden!" gestaltet sich zu einer der größten Friedensdemonstrationen der deutschen Arbeitnehmer vor 1914.

3./5. September 1911

Die außerordentliche Generalversammlung des Verbandes der Zigarrensortierer und Kistenbekleber in Dresden beschließt den Anschluß an den Tabakarbeiterverband.

8./9. September 1911

Die SPD-Frauenkonferenz fordert u. a., folgende Bestimmungen in die Versicherungsgesetzgebung aufzunehmen: Ausdehnung der Krankenversicherung auf alle lohnarbeitenden Frauen, obligatorische Gewährung einer Schwangerenunterstützung für die Dauer von 8 Wochen, freie obligatorische Gewährung der Hebammendienste und freie ärztliche Behandlung der Schwangerschaftsbeschwerden, obligatorische Gewährung der Wöchnerinnenunterstützung für 8 Wochen, die Schwangeren- und Wöchnerinnenunterstützung ist den Arbeiterinnen in der Höhe des versicherten Lohnes zu gewähren.

10./13. September 1911

Auf dem ersten internationalen Malerkongreß in Zürich wird die Errichtung eines internationalen Sekretariats mit Sitz in Hamburg beschlossen.

10./16. September 1911

Auf dem SPD-Parteitag in Jena sagt A. Bebel in seiner Eröffnungsrede zur Marokkokrise: "Wir werden einem Zustand entgegengehen, der meiner Überzeugung nach nur noch mit einer große Katastrophe enden kann und enden muß".
In der Diskussion über den Marokkokonflikt wird dem Parteivorstand vorgeworfen, er habe es in dieser Situation an Initiative mangeln lassen. Bei der drohenden Kriegsgefahr habe er nicht schnell genug eine Friedensaktion entfaltet, ein Vorwurf, der von den Parteivorstands-Mitgliedern zurückgewiesen wird.
Der Parteitag erhebt nachdrücklichsten Protest gegen jeden Versuch, einen männermordenden Krieg zwischen Kulturvölkern hervorzurufen, der notwendig ein Weltkrieg werden müßte und mit einer allgemeinen Katastrophe enden würde. Der Parteitag erwartet, daß insbesondere die deutsche Arbeiterklasse jedes mögliche Mittel anwendet, um einen Weltkrieg zu verhindern. Er fordert die sofortige Einberufung des Reichstages, damit der Volksvertretung Gelegenheit gegeben werde, ihre Meinung zu äußern und den volksfeindlichen Machinationen entgegenzutreten. Die Fraktion wird darüber hinaus ersucht, einen Antrag einzubringen, wonach die Reichsregierung verpflichtet werden könne, in Fällen internationaler Verwicklungen den Reichstag einzuberufen und die gewählte Volksvertretung über die Verhandlungen mit der auswärtigen Regierung zu unterrichten. Unter stürmischer Zustimmung des Parteitages erwähnt A. Bebel, daß er schon 1904 gegenüber Reichskanzler B. v. Bülow gesagt habe, wenn ein großer Krieg komme, stehe die Existenz der bürgerlichen Gesellschaft auf dem Spiele, und nicht die Sozialdemokraten seien es, die das herbeigeführt hätten.
Gegen die Verfolgung der proletarischen Jugendbewegung durch Polizei, Schulaufsichtsbehörde und Justiz wird entschieden protestiert. Alle jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen werden vor dem Eintritt in bürgerliche Jugendvereine und vor der Teilnahme an bürgerlichen Jugendbestrebungen gewarnt.
Der Parteitag verabschiedet Forderungen, die der Lebensmittelteuerung entgegenwirken sollen.
Gegen alle Parteimitglieder, die sich weigern, dem Nürnberger Beschluß von 1908 nachzukommen, einen Tagesverdienst am 1. Mai zu zahlen, soll das Ausschlußverfahren eingeleitet werden.

13./16. September 1911

Der internationale Glasarbeiter-Kongreß in Berlin fordert die achtstündige Arbeitszeit, die Abschaffung der Sonntagsarbeit, das Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren in Glasbetrieben und von Frauen in Glashütten und Glasschleifereien.

Herbst 1911

Der Bund technisch-industrieller Beamter organisiert in Berlin den ersten Streik deutscher Techniker. Nach diesem Streik verschärft sich der Kampf der Unternehmer gegen die Verbände der technischen Angestellten. So stimmt die Delegiertenversammlung der Hauptstelle deutscher Arbeitgeberverbände wenig später darin überein, "daß trotz der Straffreiheit der Vereinigung einer Agitation entgegengetreten werden müsse, die das unentbehrliche Vertrauensverhältnis zwischen Unternehmern und Angestellten zu zerstören drohe und die klassenkämpferische Tendenz der Gewerkschaftsstreitigkeiten in die Ertragswirtschaft und das gesamte Wirtschaftsleben hineintrage".
Es gelingt den Unternehmern jedoch bis 1914 nicht, den ButiB zu unterdrücken, da seine Organisation in einzelnen Zentren bereits 1908 zu stark ist und die Mehrzahl der Unternehmer bei einem offenen Angriff auf das Koalitionsrecht ein Eingreifen der Gesetzgebung und Gegenmaßnahmen der Kommunalverwaltungen fürchtet.

Oktober / November 1911

In ganz Deutschland finden als Auftakt zum Reichstagswahlkampf Massenversammlungen gegen die zunehmende Teuerung statt. In den Resolutionen werden sofortige Maßnahmen der Reichsregierung gegen die Teuerung gefordert: Aufhebung der Lebensmittel- und Futterzölle, Herabsetzung der Frachttarife sowie kommunale Maßnahmen zur Linderung der Not.

7. Oktober 1911

Im neuen Tarifvertrag der Buchdrucker wird vereinbart, daß die Gehilfen in allen Betrieben mit mehr als 6 Beschäftigten einen "Vertrauensmann" wählen, der aus dem Drittel derjenigen Gehilfen, die am längsten im Geschäft sind, zu benennen ist.
Der Vertrauensmann soll bestehende und auftauchende Differenzen zwischen Prinzipal und Personal schlichten. Er erhält einen besonderen Kündigungsschutz.
Der umfassendste bestehende Tarifvertrag enthält Abmachungen über Akkord- und Zeitlohn, Arbeitszeit (53 Wochenstunden), Überstunden, Sonntags- und Feiertagsarbeit, Lohnauszahlung, Kündigungsfrist, Kurzarbeit, Ortszuschläge, Lehrlings- und Maschinenarbeit. Außerdem regelt er Besetzung und Kompetenzen tariflicher Schlichtungs- und Verwaltungsbehörden (Schiedsgerichte, Kreisämter, Arbeitsämter, Tarifamt und Tarifausschuß). Der Tarifvertrag umfaßt 80% aller Druckereien und 90% aller Gehilfen.

4. November 1911

Die Generalkommission ruft die "organisierte Arbeiterschaft Deutschlands" auf, die seit 12. Oktober streikenden und ausgesperrten rund 10.000 Tabakarbeiter zu unterstützen.

5./12. November 1911

In allen großen deutschen und vielen europäischen Städten finden Protestversammlungen gegen die Kriegsgefahr statt, die durch die Aggression Italiens in Tripolis und der Cyrenaika hervorgerufen worden ist.
Das Internationale Sozialistische Büro hatte dazu am 2. November aufgerufen.

30. November / 6. Dezember 1911

Rund 35.000 Berliner Metallarbeiter werden durch die Metallindustriellen zur Unterdrückung des seit dem 6. Oktober andauernden Streiks der Berliner Former und Gießer ausgesperrt.

5. Dezember 1911

Parteivorstand und Reichstagsfraktion erlassen den Wahlaufruf zu den Reichstagswahlen: "Wähler Deutschlands! Helft den Grund legen zu einer neuen, besseren Gestaltung unseres staatlichen und gesellschaftlichen Baues, der die Devise tragen soll: Tod der Not und dem Müßiggang! Arbeit, Brot und Gerechtigkeit für alle!"

20. Dezember 1911

Der Reichstag verabschiedet das Hausarbeitsgesetz, das Vorschriften über den Gesundheitsschutz und den Betriebs- und Gefahrenschutz für Heimarbeiter enthält.
Die Bestimmungen über den offenen Aushang von Lohnverzeichnissen und die Ausgabe von Lohnbüchern treten erst am 1. Januar 1918 in Kraft.
Die vorgesehenen nicht obligatorischen und paritätischen Fachausschüsse für die Mitwirkung u. a. bei der Entgeltsregelung - sie dürfen z.B. den Abschluß von Tarifverträgen fördern - sind erst 1919 mit nur vermittelnder Funktion zusammengetreten.

28. Dezember 1911

Das Versicherungsgesetz für Angestellte wird im Reichsgesetzblatt veröffentlicht und tritt am 1. Januar 1913 in Kraft.
Das neue Gesetz sieht eine besondere Fürsorge für den Fall der Berufsunfähigkeit und eine eigene Versicherungseinrichtung - die Reichsversicherungsanstalt - für Werkmeister, Techniker, Betriebsbeamte und andere in einer gehobenen Tätigkeit Beschäftigte sowie die Handlungsgehilfen vor. Eine begriffliche Definition des "Angestellten" enthält das Gesetz nicht.
Das Gesetz behält die Versicherungspflicht in der bisherigen Invalidenversicherung bis zu einem Jahresgehalt von 2.000 Mark bei und schafft nun eine ergänzende Zuschußkasse, der alle Privatangestellten bis zu einem Jahresgehalt von 5.000 Mark zwangsweise angehören.
Zudem erweitert das Gesetz den Kreis der Versicherungspflichtigen auf Angestellte in leitender Stellung, Angestellte in wissenschaftlicher, künstlerischer und ähnlicher Tätigkeit, die nicht von der Invalidenversicherung erfaßt sind.
Als Ergänzung der Versicherung können Werkskassen und Zuschußkassen tätig werden, die die gesetzlichen Beiträge ihrer Versicherten an die Reichsversicherungskammer abführen.
Die Versicherungsleistungen für die Angestellten sind vor allem höher als für die der Arbeiter. Für Angestellte gilt zudem die Altersgrenze von 65 Jahren, während sie für Arbeiter noch bei 70 Jahren liegt.
Im Gegensatz zu den Arbeitern erhalten Angestellte einen Rentenanspruch bei früherer Berufsinvalidität. Witwenunterstützung wird gezahlt, auch wenn diese noch erwerbsfähig sind.

Ende 1911

Die Generalkommission umfaßt 53 Gewerkschaften mit rund 2.420.000 Mitgliedern, davon rund 210.000 weiblichen.
Die größten Gewerkschaften sind die der Metallarbeiter mit rund 515.150, die der Bauarbeiter mit rund 195.700, die der Transportarbeiter mit rund 195.250, die der Holzarbeiter mit rund 183.000 und die der Textilarbeiter mit rund 131.400 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkschaften sind die der Xylographen mit 433, die der Notenstecher mit 444, die der Blumenarbeiter mit 1.023, die der Asphalteure mit 1.106 und die der Zivilmusiker mit 1.909 Mitgliedern.
Von ihren Einnahmen gaben die Gewerkschaften rund 23% für die Streik-, rund 14% für die Kranken- und rund 9% für die Arbeitslosenunterstützung aus.

Im Bereich der Generalkommission bestehen 707 Gewerkschaftskartelle und 119 Arbeitersekretariate. 82 Kartelle haben eine Arbeiterinnen-Agitations-Kommission oder haben weibliche Vertrauenspersonen eingesetzt.
547 Kartelle haben Bibliotheken, Bildungsausschüsse bestehen in 362 Orten, die Zahl der Jugendkommissionen beträgt 346.
Zur Durchführung der Arbeitsschutzbestimmungen bestehen 135 Beschwerdekommissionen für Gewerbeinspektionssachen und 235 Bauarbeiterschutzkommissionen. An 46 Orten werden Kommissionen zur Beseitigung des Kost- und Logiswesens beim Arbeitgeber unterhalten.
In 173 Orten haben die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine Ortsverbände, in 171 Orten die christlichen Gewerkschaften Kartelle.

Dem Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften sind 23 Gewerkschaften mit 350.600 Mitgliedern, davon rund 2.800 weiblichen, angeschlossen.
Die größten Verbände sind die der Bergarbeiter mit rund 84.000, die der Metallarbeiter mit rund 43.000, die der Bauarbeiter mit rund 41.000 und die der Textilarbeiter mit 40.000 Mitgliedern.
Die kleinsten Verbände sind die der Gärtner mit 824, die der Mecklenburgischen Eisenbahner mit 987 und die der Krankenpfleger mit rund 1.400 Mitgliedern.
Von den Einnahmen gaben die christlichen Gewerkschaften rund 18% für Streik-, 11% für Kranken- und rund 4% für Reise- und Arbeitslosenunterstützung aus.

Es bestehen 24 Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine mit zusammen rund 108.000 Mitgliedern. Die größten Gewerkvereine sind der der Maschinenbau- und Metallarbeiter mit rund 44.000, der der Fabrik- und Handarbeiter mit rund 18.000 und der der Textilarbeiter mit rund 7.000 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkvereine sind der der Gärtner in Quedlinburg mit 20, der der Reepschläger in Danzig mit 33 und der der Küfer in Mannheim mit 52 Mitgliedern.
Von ihren Einnahmen gaben die Gewerkvereine rund 32% für die Kranken-, rund 13% für die Streik- und rund 8% für die Arbeitslosenunterstützung aus.

Die Generalkommission registriert im Jahre 1911 9.670 Lohnbewegungen mit rund 12.000 Personen, von denen 2.914 (30,1%) mit Streiks und Aussperrungen verbunden waren.
Von den Arbeitskämpfen waren 58,5% Angriffs-, 34,4% Abwehrstreiks und 7,1% Aussperrungen.
Erfolgreich verliefen 76,4% der Angriffs-, 79,5% der Abwehrstreiks und 29% der Aussperrungen für die Arbeiter.

Im Bereich der Arbeiterversicherung wurden in diesem Jahr rund 707.000 Unfallverletzte und 9.440 Tote bei Arbeitsunfällen gezählt.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

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