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TEILDOKUMENT:
1908
Im ganzen Jahr hält die wirtschaftliche Rezession an. Anfang 1909 schreibt das "Correspondenzblatt" über 1908:
"Ein ernstes Jahr liegt hinter uns, das der Arbeiterklasse und der Arbeiterbewegung wenig Gutes gebracht hat. Schwer lastet der Druck der Wirtschaftskrisis, der sich seit Ende 1906, seit ihrem ersten Hervortreten auf dem Arbeitsmarkt, in rapider Weise gesteigert hat, auf der Arbeiterschaft, und die Wirkungen dieses Druckes spiegeln sich in der gesamten Entwickelung der Arbeits- und Arbeiterverhältnisse wider, - in dem Beschäftigungsmangel, in der Arbeitslosigkeit, in dem Stand der Arbeitsbeziehungen, in den Lohnbewegungen und Streiks, in der Stagnation der gewerkschaftlichen Organisation und in der sozialpolitischen Gesetzgebung -, in letzterer allerdings, wie schon früher beobachtet werden konnte, in umgekehrter Weise."
In diesem Jahr stagniert die Mitgliederzahl der meisten Gewerkschaften oder ist sogar rückläufig.
Im Jahrbuch des Zentralverbandes der Maurer - er verliert in diesem Jahr über 15.000 Mitglieder - heißt es dazu: "Die Krisis hat uns wieder einmal gelehrt, daß zu Zeiten guter Konjunktur doch noch allzuviele Kollegen der Organisation angehören, die von dem Wesen der Arbeiterbewegung so gut wie gar nichts in sich aufgenommen haben. Sie zahlen mit knapper Not ihre Beiträge, führen auch wohl hier und da einmal das große Wort, aber sobald sie sich der ständigen Kontrolle wackerer Kollegen enthoben fühlen, dann ade Organisation und Solidarität. Kommt dann noch längere Arbeitslosigkeit hinzu, und die Organisation kann das Elend nicht abwenden, dann verzweifeln viele an dem doch kommenden endlichen Erfolg. Anstatt zu helfen, daß die Organisation, die einzige Schutzwehr gegen die Verschlechterung der Lohn- und Arbeitsbedingungen, die Krisis gut überstehe, damit sie bei Beginn des neuen Lebens allen Kollegen eine noch viel stärkere Stütze als zuvor sein kann, reißen die Mißmutigen und Unverständigen die Mauern ein, die sie später doch wieder aufbauen müssen, wenn sie sich dem Unternehmertum nicht auf Gnade oder Ungnade ergeben wollen."
Von 60 sozialdemokratischen Gewerkschaften mit 1.831.731 Mitgliedern haben 48 Verbände mit 1.314.243 Mitgliedern (71%) die Arbeitslosenversicherung am Ort und 47 Verbände mit 1.551.092 Mitgliedern (84,6%) die Arbeitslosenversicherung auf Reise eingeführt. Von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen haben 15 mit 101.867 Mitgliedern, von den Christlichen Gewerkschaften 14 mit 192.443 Mitgliedern die Arbeitslosenunterstützung.
Auch in diesem Jahr schließen sich kleinere Gewerkschaften größeren Verbänden an.
So die Krankenkassenbeamtenverbände den Bureauangestellten, die Formstecher und Fotographen dem Lithographenverband, die Wäschearbeiter dem Schneiderverband und der durch die staatlichen Verfolgungen in Ansätzen stehengebliebene "Verband der Eisenbahner" dem Handels- und Transportarbeiterverband, wo er eine einflußreiche "Reichssektion der Eisenbahner" bildet.
In seinem sozialpolitischen Programm stellt der "Verein deutscher Arbeitgeberverbände" fest: "Tarifverträge sind für die Entwicklung der Industrie im allgemeinen verderblich und im speziellen für solche Industrien, die für den Weltmarkt arbeiten, schon darum undurchführbar, weil sie den Export unmöglich machen würden. Wo indessen eine Einigung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern hinsichtlich des Abschlusses von Tarifverträgen erfolgt, muß sie unter allen Umständen den Charakter einer freiwilligen Vereinbarung tragen."
Die im Herbst 1904 eingesetzte gewerkschaftliche Kommission zur Untersuchung des Kost- und Logiswesens veröffentlicht ihre Ergebnisse: Richard Calwer: Das Kost- und Logiswesen im Handwerk. Ergebnisse einer von der Kommission zur Beseitigung des Kost- und Logiszwanges veranstalteten Erhebung.
Die Gewährung von Urlaub hat sich in den Staatsbetrieben Preußens durchgesetzt. Doch dieses Recht ist noch an zahlreiche Bedingungen geknüpft. Das Mindestalter für eine Feriengewährung ist oft auf 35 Jahre festgesetzt, und die Dauer der Ferienzeit steigert sich erst nach 20, z.T. sogar 30 Dienstjahren auf die sinnvolle Länge von 10 bis 12 Tagen im Jahr. Weder ist ein Anspruch auf eine Erholungszeit garantiert, noch wird auf die Klauseln verzichtet, daß ein Urlaub nur gewährt werden kann, wenn dienstliche Gründe nicht entgegenstehen und zufriedenstellende Leistungen sowie eine gute Führung vorliegen. In anderen deutschen Staaten gibt es ähnliche Vereinbarungen.
Die Lithographen und die Transportarbeiter gründen als erste Gewerkschaften eigene Jugendsektionen. Ihrem Beispiel folgen die Metallarbeiter, die Holzarbeiter, die Textilarbeiter, die Bauarbeiter und die Sattler.
Von 1895 bis 1907 hatte sich der Anteil der in Industrie und Handel hauptberuflich beschäftigten Jugendlichen im Alter von 14 bis 18 Jahren von 1,3 Millionen auf 1,76 Millionen erhöht.
Hans Böckler, Bezirksleiter des Deutschen Metallarbeiterverbandes an der Saar, ruft die Metallarbeiter auf: "Ihr müßt uns helfen, das Vorurteil gegen die Freien Gewerkschaften im Saargebiet zu besiegen! Ihr wißt ja, Unternehmer und Behörden bieten alles auf, uns mundtot zu machen. Kein Wirt darf uns bei Strafe schwerer wirtschaftlicher Schädigung ein Lokal zur Verfügung stellen. Unsere Flugschriften müssen wir bei Nacht verbreiten. Unternehmer, Zivil- und Militärbehörden, Bürgermeister, Polizisten und Gendarmen stellen sich unseren Agitationen entgegen. Dreißig Zeitungen schmähen und verleumden uns jeden Tag, ja selbst die Gotteshäuser werden entweiht, selbst dort werden wir von unseren Gegnern beschimpft. In Roden und Freilautern haben die verhetzten Mitglieder christlicher Vereine unsere Versammlungen gesprengt und uns den Saal abgetrieben. Selbst Arbeiter ... kämpfen in ihrem Irrtum gegen uns, zum Schaden der Arbeiter."
Auch in diesem Jahr kommt es wieder zu zahlreichen Aussperrungen, so vor allem der Metallindustriellen in Stettin und in der Krefelder Textilindustrie.
Die Arbeitgeber haben neben den beiden Rückversicherungsgesellschaften der Arbeitgeberzentralen 8 rückversicherte und 3 nicht rückversicherte Gesellschaften, ferner 8 Reichs-, 11 Landes- und 7 Ortsverbände mit Streikversicherung, sowie 4 Reichs-, 1 Landes- und 4 Bezirksverbände, bei denen die Streikversicherung nicht statuarisch geregelt war, sondern nur von Fall zu Fall gewährt wurde. Die beiden Rückversicherungsgesellschaften umfassen einen Bereich von 775.825 beschäftigten Arbeitern. Die Streikvergütungen betragen 5-25 Prozent der Lohnsummen der Streikenden. Die Streikversicherung der Unternehmerverbände dient hauptsächlich dazu, die kleineren Gewerbetreibenden an die Organisation zu fesseln und sie der Disziplin der letzteren zu unterstellen, um Sperren gegen streikende Arbeiter wirksam durchzuführen. Sie trägt zweifellos dazu bei, die Kämpfe hartnäckiger und erbitterter zu gestalten, hat aber die Kampfesfähigkeit der Gewerkschaften nicht einschränken können.
Für rund 30% der tarifgebundenen Arbeiter gilt eine Arbeitszeit von 54 und weniger Stunden. Nur 8,4% aller in diesem Jahr abgeschlossenen Tarifverträge gelten für Betriebe mit mehr als 50 Beschäftigten.
Der Anteil der in Betrieben mit über 50 Beschäftigten tarifgebundenen Personen an der Gesamtzahl der tarifgebundenen Personen beträgt 15,1%.
9., 10. und 12. Januar 1908
In ganz Preußen finden Protestversammlungen gegen das bestehende Wahlrecht statt.
Bei der Beratung eines freisinnigen Antrages, das Reichstagswahlrecht auch auf Preußen zu übertragen, erklärt Reichskanzler B. von Bülow im preußischen Landtag, daß diese Übertragung "dem Staatswohl nicht entsprechen würde".
22. Januar 1908
Der "Zechen-Verband" wird gegründet. Er übernimmt die Geschäfte der 1890 gegründeten Streikentschädigungsgesellschaft des Ruhrbergbaus und organisiert als Hauptaufgabe ein umfangreiches Sperrsystem. Nach den Satzungen dürfen die Verbandswerke während der Dauer eines Streiks und drei Monate nach seiner Beendigung keine Arbeiter eines bestreikten Verbandswerkes annehmen. Die vom Arbeitskampf betroffenen Zechen müssen sich verpflichten, während dieser Zeit keine Arbeiter einer anderen Verbandszeche einzustellen. Diese Sperre kann auch auf Arbeiter aus anderen Bergbaubezirken, in denen gestreikt wird, ausgedehnt werden. Den Kernpunkt der Satzungen des Zechenverbandes bilden Strafbestimmungen für kontraktbrüchige Arbeiter. Die Werke erhalten alle 14 Tage Listen der Kontraktbrüchigen, die geheim zu halten sind. Anfang Juni 1908 sind über 3.000 Bergleute gesperrt. Bis zum August 1908 steigt ihre Zahl auf über 5.000.
Der neue Verband - "Geheimbund der Terroristen" nennt ihn der Bergarbeiterverband - stößt auf heftige Kritik. Der christliche Bergarbeiterverein fordert die gesetzliche Sicherung des Koalitionsrechts, und im Februar 1909 ersucht der Allgemeine Bergarbeiterkongreß die Reichsregierung, "den bestehenden Gesetzen Geltung zu verschaffen" und durch den Ausbau des Koalitionsrechts der "Aussperrungstaktik der Grubenbesitzer" ein Ende zu bereiten.
22./25. Januar 1908
Der außerordentliche Kongreß der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften in Berlin lehnt mit Mehrheit die Auflösung der Vereinigung ab. Darauf erklären die "Einigungsfreunde": "Die politische Entwickelung der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften nach dem Kongreß 1906 läßt klar erkennen, daß sie im Gegensatz zu ihrem Programm einen Weg eingeschlagen hat, der sie mit Sicherheit dem Syndikalismus bzw. Anarchismus weiter entgegenführt.
Die unterzeichneten Delegierten ziehen es deshalb vor, unter Wahrung ihrer politischen Grundsätze, die im Einklang stehen mit dem bisherigen Programm deutscher Gewerkschaften und dem der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, dahin zu wirken, daß die Mitglieder ihrer Organisationen sich derjenigen Gewerkschaft anschließen, die mit der sozialdemokratischen Partei gemeinsam den Emanzipationskampf der Arbeiter führen will und die Beschlüsse der Parteitage und der Internationalen Kongresse als für sie bindend anerkennt.
Nach dieser Erklärung verlassen sie den Kongreß.
25./26. Januar 1908
Eine Konferenz des Zentralrates mit den Generalräten nimmt einstimmig Leitsätze an:
"Wir erstreben die Hebung der Arbeiterklasse zur Selbständigkeit und Gleichberechtigung auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung. Zu diesem Zwecke arbeiten wir mit an einer organischen Reform dieser Ordnung durch Selbsthilfe und Staatshilfe.
Wir gehen dabei von der Erkenntnis aus, daß der Arbeiterstand sich in einer unerfreulichen Lage befindet durch seine unsichere und unselbständige Existenz als Lohnarbeiter. Wir wollen dem Arbeiter innerhalb des Lohnverhältnisses eine gesicherte Existenz erkämpfen.
Wir scheiden uns von den sozialdemokratischen Gewerkschaften durch den Grundsatz der parteipolitischen Neutralität und dadurch, daß wir an Stelle des grundsätzlichen Klassenkampfes und der marxistischen Forderung des Kollektiveigentums in erster Linie die Vereinbarung mit den Arbeitgebern in Form von Tarifverträgen setzen und uns auf nationalen Boden stellen.
Wir scheiden uns von den christlichen Gewerkschaften durch den Grundsatz der religiösen Neutralität, den wir unverändert hochhalten. Wir scheiden uns von ihnen, indem wir glauben, daß nur auf dem Boden politischer und geistiger Freiheit der Kampf der Arbeiter für Selbständigkeit und Gleichberechtigung zum Erfolge führen kann.
Wir scheiden uns von allen Organisationen gelben Charakters durch die Erkenntnis, daß beide Produktionsfaktoren sich getrennt und in voller Unabhängigkeit voneinander organisieren müssen.
Wir sind der Überzeugung, daß die Arbeiterfrage nicht nur eine Magenfrage ist, sondern weit mehr von großen Zeitidealen getragen wird, deren Weckung in jedem Arbeiter erste Pflicht der Organisationen ist. Als diese Ideale betrachten wir: 1. Das nationale Ideal. 2. Das Ideal sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft, des Schutzes der Schwachen gegen die Starken. 3. Das Ideal geistiger und politischer Freiheit und Selbstverwaltung. 4. Das Ideal ethischer Erziehung und Hebung des Einzelmenschen zu wirksamerer Mitarbeit in der Gesamtheit.
Wir fordern von den Unternehmern:
Die Anerkennung der vollen Gleichberechtigung der Arbeiter bei der Regelung der Festsetzung der Arbeitsbedingungen durch den Abschluß von Tarifverträgen mit Sicherung eines Mindestverdienstes, gleichberechtigte Mitwirkung bei Errichtung von Tarif- und Einigungsämtern, fortschreitende Aufbesserung der Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit bis auf längstens 8 Stunden, wirksamen Schutz für Leben, Gesundheit und Sittlichkeit der Arbeiter und Angestellten beiderlei Geschlechts.
Gleiche Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit.
Jährlichen Urlaub aller Arbeiter und Angestellten unter Fortzahlung des Lohnes.
Wir fordern zunächst vom Staat:
Zehnstündigen Maximalarbeitstag für alle Industrie- und Verkehrsarbeiter, achtstündigen Maximalarbeitstag für alle Arbeiter der schweren Industrie (Eisen, Hütten, Bergbau), sowie der chemischen Industrie, Glas- und Spiegelfabrikation und für alle Kontorangestellten.
Schutz der Frauenarbeit und Verbot der Kinderarbeit.
Ausbau der Arbeiterversicherung, insbesondere Ausdehnung auf die Hausindustrie. Errichtung einer Witwen- und Waisenversicherung. Ausbau der Arbeitslosenversicherung durch die Gewerkvereine unter Mitwirkung der Gemeinden nach dem Genter System.
Volle politische Selbstverwaltung aller Versicherungseinrichtungen. Freies Koalitionsrecht, freies Vereins- und Versammlungsrecht, Arbeitskammern und Reichsarbeitsamt, Rechtsfähigkeit der Berufsvereine. Obligatorische Schiedsgerichte für alle Arbeitsstreitigkeiten mit Verhandlungszwang.
Ausdehnung der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte auf alle Gemeinden. Gesetzliche Einführung des Verhältniswahlsystems zu allen sozialen Wahlen.
Rechtliche Regelung des Tarifvertragswesens.
Verbesserung der Volksschule. Erleichterung des Besuchs höherer Schulen für Unbemittelte.
Politische Gleichberechtigung in Reich, Staat und Gemeinde.
Beseitigung aller indirekten Steuern auf Lebensmittel und Verbrauchsgegenstände."
Im Programm wurde 1907 noch erklärt, daß die Gewerkvereine in dem Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern "grundsätzlich dem Wege der Verständigung den Vorzug geben, scheuen aber auch den Kampf nicht, wo ihren berechtigten Forderungen die Anerkennung versagt wird, oder ihre Rechte und Interessen verletzt werden".
Diese Feststellung fehlt nun in den Leitsätzen.
1. Februar 1908
Mit 213 gegen 67 Stimmen ersucht der Reichstag auf Antrag der Zentrumsfraktion den Reichskanzler, "Arbeiten für die Marineverwaltung nur an solche Firmen zu vergeben, welche in Beziehung auf die Arbeitsbedingungen die gesetzlichen Vorschriften einhalten und, falls Tarifverträge für die betreffende Art der Arbeit am Ort des Betriebs gelten, nicht hinter den Bestimmungen dieser Tarifverträge zurückbleiben. Wenn das Reichsmarineamt die Forderungen akzeptiert, sind die Werften und die Hüttenwerke an Ruhr und Saar zum Abschluß von Tarifverträgen gezwungen, um sich nicht von tariflich gebundenen Kleinbetrieben die Arbeitsbedingungen vorschreiben zu lassen.
Am 28. Februar 1908 warnt der Verein Deutscher Schiffswerften den Reichskanzler vor einer solchen Maßnahme.
Am 29. Oktober 1908 legt auch der Verein Deutscher Arbeitgeberverbände "gegen jeden direkten oder indirekten Zwang zum Abschluß von Tarifverträgen grundsätzlich entschieden Verwahrung" ein. Tarifverträge seien für die Industrie im allgemeinen "verderblich" und in der Exportindustrie "undurchführbar".
Die Sorgen der Industrie sind unnötig. Bereits am 29. Juni 1908 einigen sich die Vertreter der Reichsämter und der preußischen Ministerien, der Staat müsse sich "streng hüten" vor einem "Eingreifen in die Selbständigkeit der Arbeitgeber". Am 26. Oktober 1908 lehnen sie für die Staatsbetriebe jede Mitwirkung der Arbeiterorganisationen bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen ab.
12. Februar 1908
Karl Kloß, geboren 13. April 1847 in Berlin, Schreiner, 1875-78 Vorsitzender des Tischlerbundes, während des Sozialistengesetzes wieder in führender Funktion, 1890 Mitglied der Generalkommission, Vertreter einer zentralen Organisation der Holzarbeiter, 1893 Vorsitzender des Holzarbeiterverbandes, Mitglied des württembergischen Landtages Juni 1898-Juni 1893, Mitglied des Reichstages seit 1895, stirbt.
März / Juni 1908
Nach langen Verhandlungen gelingt es den Sattlern und Portefeuillern, für die Orte Offenbach, Berlin und Stuttgart gemeinsame Tarifverträge auf der Basis "Für gleiche Arbeit gleicher Lohn" abzuschließen.
1. März 1908
Die "lokalistischen" Organisationen der Maurer, der Bauhilfsarbeiter und die Mehrheit der "lokalistischen" Zimmerer treten nach längeren Diskussionen den jeweiligen sozialdemokratischen Gewerkschaften bei.
Die Mitglieder können auch weiterhin sich nach ihrer Überzeugung politisch betätigen, auch im Sinne des Programms der "Freien Vereinigung" einschließlich des Massen- und Generalstreiks.
11. März 1908
Der Reichstag nimmt mit großer Mehrheit die Forderung an, das Koalitionsrecht durch die Ausweitung der Strafbestimmungen des § 153 der Gewerbeordnung auf die Koalitionsverhinderung zu sichern.
Die Reichsleitung lehnt jedoch gesetzgeberische Maßnahmen zum Schutz gegen willkürliche Entlassung und zur "Immunisierung des Arbeitsvertrages" ab. Für sie ist eine Verschärfung der Strafbestimmungen gegen den Organisationszwang der Gewerkschaften weit dringlicher und ein "einseitiges" Vorgehen gegen die Arbeitgeber völlig ungerechtfertigt. Sie befürchten zudem einen schweren Konflikt mit der gesamten Industrie.
Nach Ansicht vieler Industrieller ist es nämlich "ein absoluter Unsinn zu behaupten, daß der Unternehmer ruhig zusehen müsse, wenn sich Handarbeiter von ihm zu beliebigen Hetzverbänden zusammenschließen. Nur ein schlapper Arbeitgeber ohne jedes Ehrgefühl wird das dulden".
Die Reichsregierung bleibt bei ihrer Haltung, obwohl der Reichstag 1910, 1913 und 1914 stets wieder mit großer Mehrheit die Sicherung des Koalitionsrechtes verlangt.
Ende März 1908
Die zentralen Organisationen des Baugewerbes einigen sich nach langen schwierigen Verhandlungen auf ein Tarifvertragsmuster. Die Gewerkschaften können dabei wichtige Forderungen durchsetzen. So wird der Begriff "tüchtiger" Arbeiter gestrichen, Agitation in den Arbeitspausen ist möglich, Akkordarbeit soll nicht Zwang sein.
Die darauf abzuschließenden Tarifverträge betreffen Maurer, Zimmerer und Bauhilfsarbeiter. Die Verträge sollen bis 31. März 1910 laufen. Die Arbeitszeit soll nicht unter 10 Stunden verkürzt werden.
8. April 1908
Der Reichstag nimmt den Gesetzentwurf über das Vereins- und Versammlungsrecht mit 195 gegen 168 Stimmen der SPD u.a. an. Das Gesetz tritt am 15. Mai in Kraft. Personen unter 18 Jahren bleiben von der Mitgliedschaft an politischen Vereinen und der Teilnahme an politischen Versammlungen ausgeschlossen. Den Frauen wird gestattet, sich in politischen Vereinen zu organisieren. Gegen die polizeiliche Auflösung von Versammlungen und Vereinen besteht nun ein besserer Rechtsschutz. In öffentlichen Veranstaltungen und Versammlungen ist nur die deutsche Sprache zugelassen, es sei denn mindestens 60% der eingesessenen Bevölkerung ist fremdsprachig.
Dadurch werden die nationalen Minderheiten in ihrem Wirken eingeengt. Das neue Gesetz bringt vor allem für die süddeutschen Länder Verschlechterungen gegenüber den bisherigen Landesgesetzen.
Das Koalitionsverbot für Landarbeiter wird zwar aufgehoben, aber gleichzeitig wird ausdrücklich die weitere Gültigkeit der "Vorschriften des Landesrechts in bezug auf die Verabredung ländlicher Arbeiter und Dienstboten zur Einstellung oder Verhinderung der Arbeit" betont.
Das neue Vereinsrecht beseitigt auch nicht die noch bestehenden 44 Gesindeordnungen.
17./20. April 1908
Der "Centralverein der Bureauangestellten" und der im Januar 1894 gegründete Verband der Verwaltungsbeamten der Krankenkassen, Berufsgenossenschaften usw. schließen sich in Berlin zum "Verband der Bureauangestellten und der Verwaltungsbeamten der Krankenkassen und Berufsgenossenschaften Deutschlands" zusammen.
Der Verband fordert vor allem:
Achtstündiger Maximalarbeitstag, Beseitigung der Überstunden-, der Akkord- und Pauschalarbeit, Normierung von Mindestgehältern; Verbot der Sonntagsarbeit, sowie Festlegung einer Mindestkündigungsfrist; Ausdehnung der Gewerbe- bzw. Kaufmannsgerichte auf den Beruf der Bureauangestellten; Gewährung eines ununterbrochenen Erholungsurlaubes von mindestens 14 Tagen im Jahr unter Fortzahlung des Gehalts; Erlaß hygienischer Vorschriften bezüglich der Arbeitsräume (Bureau usw.); Regelung des Lehrlingswesens.
Der Verband gewährt seinen Mitgliedern Rechtsschutz, Arbeitslosenunterstützung, Krankenunterstützung, Gemaßregeltenunterstützung und Sterbegeld.
Verbandsorgan ist "Der Bureauangestellte". Ferner gibt der Verband die "Volkstümliche Zeitschrift für praktische Arbeiterversicherung" heraus. Sitz des Verbandes ist Berlin.
Der Verband fordert u.a. die rechtliche Gleichstellung der Büro- mit den Handlungsgehilfen. Er wendet sich gegen eine eigenständige Angestelltenversicherung und verlangt eine Zusammenlegung, zumindest organische Verbindung der einzelnen Arbeiterversicherungen.
3. Mai 1908
In Darmstadt löst sich auf Grund des neuen Vereinsgesetzes der "Verband der jungen Arbeiter und Arbeiterinnen Deutschlands" auf. Bei der Auflösung hat der Verband 4.500 Mitglieder in 85 Ortsgruppen. Die "Junge Garde" zählt 11.000 Abonnenten.
4./9. Mai 1908
Die Generalversammlung des Textilarbeiterverbandes in Leipzig stimmt der Einführung einer Arbeitslosenunterstützung zu und erklärt zur Frage von Streiks:
"Der Streik ist ein notwendiges und unentbehrliches Kampfesmittel des Proletariats. Die Konzentration der Betriebe und der Kapitalien, die Zuspitzung der Gegensätze zwischen Arbeitern und Kapitalisten, die Vereinigung der Unternehmer zu Kampfeszwecken und viele andere aus der fortschreitenden Entwickelung resultierende Umstände lassen jedoch nur gut organisierten Lohnbewegungen und Streiks Aussichten auf Erfolg. Diese Aussichten auf dauernden Erfolg sind weiter nur dann vorhanden, wenn die Kämpfe geführt werden von organisierten, strengste Disziplin bewahrenden Arbeitern. Centralisation der Politik der Gewerkschaft in Sachen der Lohnkämpfe ist unerläßliche Vorbedingung.
Das Interesse der Arbeiterschaft wie des Verbandes erfordert bei Lohnbewegungen, bei beabsichtigten Streiks, vor Einleitung irgendwelcher Maßnahmen, die Genehmigung der Centrale einzuholen.
Die Führung der Lohnkämpfe untersteht in allen Fällen dem Centralvorstand; derselbe entscheidet auch über die Beendigung derselben.
Die Generalversammlung erklärt:
Bei der großen Zahl der in der Textilindustrie beschäftigten Arbeiterinnen liegt es im Interesse des Verbandes und seiner Mitglieder, nicht nur die bereits Organisierten zu halten, sondern die große Menge der Indifferenten zu gewinnen, um durch Beseitigung der lohndrückenden Tendenz der weiblichen Arbeitskraft eine Verbesserung der Lage der gesamten Textilarbeiterschaft herbeizuführen.
Die Versammlung hält hierzu die Mitarbeit weiblicher Personen für unerläßlich notwendig und empfiehlt: bei alljährlich stattfindenden Wahlen weibliche Personen mit in den Verwaltungskörper zu wählen; bei der Anstellung mehr als eines Geschäftsführers eine, für die Agitation befähigte weibliche Person anzustellen. Filialen, die nach Maßgabe ihrer Mitgliederzahl mehr als einen Delegierten zur Generalversammlung entsenden können, wird empfohlen, auch weibliche Personen zu delegieren."
12./16. Mai 1908
Der Verbandstag der Gastwirtsgehilfen in Leipzig verlangt die Einführung staatlicher Arbeitsnachweise und damit das Verbot aller auch unentgeltlichen Arbeitsvermittlungen auch von Verbänden, Vereinen und Innungen bis 1913.
Das Trinkgeld wird als die verwerflichste Entlohnung erklärt, die grundsätzlich zu bekämpfen ist. An seine Stelle muß der Barlohn treten. Das Heranziehen der Arbeitnehmer zu den Geschäftsunkosten z.B. durch das sog. Bruchgeld ist zu verbieten.
17./22. Mai 1908
Die Generalversammlung der Lederarbeiter in Frankfurt/Main spricht sich für eine Urabstimmung über eine Verschmelzung mit anderen Gewerkschaften aus.
Mitglieder, die durch die Feier des 1. Mai arbeitslos werden, erhalten von der Zentralkasse weder Gemaßregelten- noch Arbeitslosenunterstützung.
18./20. Mai 1908
Die erste internationale Konferenz der Gastwirtsgehilfen in Berlin beschließt die Bildung eines internationalen Sekretariats mit Sitz in Berlin.
Zu den Aufgaben des Sekretariats gehören: Die Verbindung zwischen den einzelnen Landesorganisationen herzustellen; Erhebungen über Lohn- und Arbeitsverhältnisse in den einzelnen Ländern zu unterstützen bzw. zu veranlassen; bei Lohnkämpfen den Zuzug fremder Arbeitskräfte abzuhalten; wenn notwendig und möglich, die finanzielle Unterstützung größerer Streiks und Aussperrungen zu vermitteln; den Abschluß von Kartellverträgen anzuregen und zu fördern; im allgemeinen ein solidarisches Zusammenarbeiten der einzelnen Landesorganisationen zu erstreben; die Bildung einer internationalen Lebensmittelarbeiter-Union zu erwägen und derselben beizutreten, wenn deren Gründung unter den wünschenswerte Garantien bietenden Bedingungen erfolgt.
18./23. Mai 1908
Der Verbandstag der Stukkateure, Gipser, Pflasterer und verwandten Berufsgenossen in Nürnberg beschließt, für die Mitglieder eine Erwerbslosenunterstützung einzuführen und dafür den Beitrag zu erhöhen.
21. Mai 1908
Der Vorstand des Verbandes Bayerischer Metallindustrieller beschließt, ab sofort soll eine "Ausmerzung" der Mitglieder des Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, des Vereins für Handlungscommis von 1858, des Vereins Deutscher Kaufleute und des Verbandes Deutscher Handlungsgehilfen in den einzelnen Werken angestrebt werden. Gegenüber dem Bund der technisch-industriellen Beamten (Butib) sei nach Möglichkeit auf eine Reduzierung der in den Verbandsbetrieben beschäftigten Mitglieder hinzuwirken. Neuaufnahmen von Bundesmitgliedern hätten zu unterbleiben. Die eigentlichen Bestrebungen des Butib gingen dahin, hieß es in der Begründung des Vorstandsbeschlusses, "die Fabrikangestellten den Unternehmern und Arbeitgebern zu entfremden", indem der Bund "nicht geistige und Handarbeiter unterscheidet, sondern einen künstlichen Gegensatz zwischen allen Besitzenden und Unbesitzenden konstruiert und auf diese Weise die Angestellten der Werke, die geistigen Arbeiter, zusammen mit den Handarbeitern im Gegensatz zu den Arbeitgebern bringt".
Die Enthüllung rief einen Proteststurm der öffentlichen Meinung hervor, selbst Unternehmerverbände mißbilligen das Verfahren.
Ende November 1908 verzichtet der Verband auch gegenüber dem Butib auf eine Durchführung seiner Beschlüsse und interpretiert sein früheres Rundschreiben nur noch als einfache Warnung.
24./30. Mai 1908
Der Verbandstag des Holzarbeiterverbandes in Stettin lehnt den Abschluß eines Reichstarifvertrages als verfrüht ab, da die Lohn- und Arbeitsbedingungen noch zu unterschiedlich sind. Den Arbeitgebern kann auch noch nicht das Vertrauen geschenkt werden, ob sie ernstlich gewillt wären, mit einem solchen Vertrag einen auskömmlichen Lohn und eine angemessene kurze Arbeitszeit zu gewähren.
Der Verbandstag billigt das Arbeitsnachweis-Regulativ sowie die ebenfalls mit den Arbeitgebern 1907 vereinbarten "Regeln für die Klasseneinteilung der Städte hinsichtlich der Arbeitszeit".
25./29. Mai 1908
Der internationale Textilarbeiterkongreß in Wien verabschiedet ein internationales Streikreglement, in dem die Grundsätze enthalten sind, wann die dem internationalen Verband angeschlossenen Gewerkschaften bei großen Streiks Hilfe in Anspruch nehmen können.
3. und 16. Juni 1908
Für die Sozialdemokraten werden bei den preußischen Landtagswahlen über 598.000 Stimmen, das sind 23,87% abgegeben. Die SPD zieht zum ersten Mal in das preußische Abgeordnetenhaus mit 7 Vertretern ein.
Zweitstärkste Partei wird das Zentrum mit 19,91%, drittstärkste Partei die Konservativen mit 14,15%. Das Zentrum zieht mit 104, die Konservativen sogar mit 152 Mandaten in den neuen Landtag. Die Wahlbeteiligung beträgt 32,84% gegen 23,62% 1903.
8./9. Juni 1908
Die Generalversammlung des Centralverbandes der Handlungsgehilfen und Gehilfinnen in München protestiert dagegen, daß der Centralverein der Bureauangestellten versucht, die Versicherungsangestellten zu organisieren, für die der Centralverband zuständig sei.
Da der Centralverband deutscher Consumvereine nicht bereit ist, einen zentralen Tarifvertrag abzuschließen, sollen örtliche Verträge mit einzelnen Genossenschaften vereinbart werden.
Die Generalversammlung lehnt eine eigene Angestelltenversicherung ab. In der notwendigen Versicherung der Angestellten ist die für die Versicherungspflicht bestehende Einkommensgrenze zu beseitigen.
Die Zersplitterung der Krankenversicherungsträger ist aufzuheben und einheitliche Krankenkassen sind zu schaffen.
15./20. Juni 1908
Die Generalversammlung der Schuhmacher in Gotha steht einem Industrieverband der in der Lederwirtschaft beschäftigten Arbeiter positiv gegenüber. Eine Entscheidung soll durch eine Urabstimmung erreicht werden. Die "Erstrebung von Sommerferien" und die "Bekämpfung des Kost- und Logiszwanges" wird als Ziel in die Statuten aufgenommen.
W. Bock, der frühere Vorsitzende, referiert über "Ursachen und Begleiterscheinungen der wirtschaftlichen Krise". In einer Resolution werden seine Ausführungen zusammengefaßt: "In Erwägung, daß die moderne Warenproduktion unfähig ist, die vorhandenen Produktivkräfte in einer für die Gesellschaft nutzbringenden Art anzuwenden und durch ihre Planlosigkeit die ganze Wirtschaftsordnung in kurzen oder längeren Perioden in die schwersten Krisen stürzt, unter welchen die arbeitende Bevölkerung durch unverschuldete Massenarbeitslosigkeit, Hunger und Elend am furchtbarsten zu leiden hat; in weiterer Erwägung, daß die Kapitalistenklasse nicht imstande ist, diese wirtschaftliche Anarchie zu verhindern, erwächst der politisch organisierten Arbeiterklasse die Aufgabe, eine neue Wirtschaftsordnung an deren Stelle zu setzen.
Bis zu der Zeit, an welcher sich diese Umwandlung vollzieht, haben die Gewerkschaften dahin zu wirken, die Leiden der Arbeiterklasse, welche durch die Folgen der Krisen verursacht werden, zu mildern."
20. Juni 1908
Die Konferenz der Vertreter der Centralvorstände in Hamburg stimmt der Vereinbarung zwischen der Generalkommission und dem Vorstand des Centralverbandes der Konsumvereine zu, die auf dem Genossenschaftstag in Eisenach in den kommenden Tagen angenommen werden soll, in der es heißt: "Der Genossenschaftstag erklärt, daß der Beschluß des Düsseldorfer Genossenschaftstages, wonach genossenschaftliche Lohn- und Arbeitstarife nicht auf solchen Prinzipien aufgebaut werden können, deren Durchführung bei den konkurrierenden Privatbetrieben noch in weiter Ferne liegt, nicht dahin aufzufassen ist, daß nunmehr den Forderungen der Gewerkschaften die Anerkennung seitens der Genossenschaften versagt werden soll, solange sie nicht in dem größten Teil der Privatbetriebe zur Durchführung gelangt sind.
Der Genossenschaftstag steht nach wie vor auf dem Standpunkt, daß es die Pflicht der Genossenschaften ist, soweit es in ihren Kräften steht, in bezug auf die Ausgestaltung der Lohn- und Arbeitsverhältnisse ihrer Angestellten und Arbeiter vorbildlich zu sein.
Der Genossenschaftstag beauftragt daher den Vorstand des Centralverbandes bezüglich des Abschlusses allgemeiner Lohn- und Arbeitstarife mit den Gewerkschaften und Berufsorganisationen der beteiligten Angestellten und Arbeiter in Verhandlung zu treten.
Erweist sich der Beschluß eines Gesamttarifes für eine Branche der genossenschaftlichen Angestellten oder Arbeiter als verfrüht oder unmöglich, so steht dem Abschluß solcher Verträge an einzelnen Orten oder in einzelnen Bezirken nichts im Wege."
Die Konferenz stimmt ferner folgendem Antrag zu, der dem Gewerkschaftskongreß unterbreitet werden soll:
"Der Gewerkschaftskongreß nimmt Kenntnis von dem Beschlusse des Eisenacher Genossenschaftstages des Centralverbandes deutscher Konsumvereine und verweist die gewerkschaftlich organisierten Arbeiter erneut auf den Beschluß des Kölner Gewerkschaftskongresses (1905), nach welchem die Konsumgenossenschaften durch Beitritt und Propagierung der genossenschaftlichen Bestrebungen aufs tatkräftigste zu unterstützen sind."
21./22. Juni 1908
Die zweite Konferenz der Arbeitersekretäre in Hamburg schlägt spezielle Unterrichtskurse für Arbeitersekretäre vor.
22./24. Juni 1908
Der Genossenschaftstag der deutschen Konsumvereine in Eisenach stimmt der Vereinbarung von Generalkommission und Verbandsvorstand zu.
Der Genossenschaftstag nimmt indessen noch einen Nachsatz an, in dem es heißt: "... wenn die bezüglichen örtlichen Tarifforderungen an die Genossenschaften nicht wesentlich über das hinausgehen, was an den betreffenden Orten in der Gesamtbranche seitens der Gewerkschaften durchgeführt werden kann. Aus der etwaigen Ablehnung weitergehender Forderungen kann den Konsumvereinsverwaltungen kein Vorwurf gemacht werden."
Der Genossenschaftstag erklärt sich bereit, mit Gewerkschaften aller Richtungen, Tarifvereinbarungen abzuschließen. Er lehnt aber ab, in den zwischen den Gewerkschaften bestehenden Differenzen Partei zu ergreifen, da das mit der grundsätzlichen Neutralität des Centralvereins unvereinbar ist.
Der Genossenschaftstag nimmt "mit Freuden zur Kenntnis", daß die Großeinkaufs-Gesellschaft Deutscher Konsumvereine beabsichtigt, sich eine Bankabteilung anzugliedern, um eine organisatorische Behandlung des konsumgenossenschaftlichen Geldwesens herbeizuführen.
22./27. Juni 1908
Auf dem 6. Gewerkschaftskongreß der Generalkommission in Hamburg erklärt C. Legien in seinem Eröffnungsreferat: "'Wenn Deutschland heute das hervorragendste Industrieland ist und selbst England auf dem Weltmarkte verdrängen konnte, so danken wir dies nicht den Rüstungen, nicht der Vermehrung der Kanonen und Kriegsschiffe, nicht dem stehenden Heere, sondern zum größten Teile der Intelligenz der deutschen Arbeiter.' Heute gelten die Gewerkschaften als Machtfaktor, sowohl im Wirtschaftsleben, als auch im politischen Leben. Selbst die amtliche Statistik kann die Gewerkschaften nicht mehr entbehren, kann ohne sie keine Arbeiterstatistik treiben. Auf die Dauer sei ein Zustand nicht haltbar, daß die eine Reichsbehörde die Hilfe der Gewerkschaften in Anspruch nehme, während die andere sie als nicht vorhanden betrachte. Die Gewerkschaften werden sich aber die Anerkennung ebenso wie im Wirtschaftsleben, so auch auf rechtlichem Gebiete erzwingen. Sie bitten nicht darum und haben deshalb auch Abstand genommen, Regierungsvertreter zu diesem Kongreß einzuladen. Die Macht der Gewerkschaften sei gegeben; sie ist unabhängig davon, ob Regierungsvertreter an diesem Kongreß teilnehmen."
Zum ersten Mal wird die soziale Gesetzgebung in einem besonderen Referat behandelt, ein einheitliches Arbeitsrecht gefordert und ein 15 Punkte umfassendes sozialpolitisches Programm aufgestellt. Darin werden Arbeiterkammern, volle Koalitionsfreiheit, eine gesetzliche Grundlage für kollektive Arbeitsverträge, der achtstündige Arbeitstag, eine ununterbrochene Ruhepause von mindestens 36 Stunden in der Woche, durchgreifende gewerbliche Hygiene, Unfallverhütung sowie Vereinheitlichung und Ausdehnung der Arbeiterversicherung unter der Selbstverwaltung der Versicherten gefordert. In der Präambel zu diesem Programm heißt es:
"Durch die technische und kapitalistische Entwickelung wird die Produktivität der Arbeiter gesteigert. Um alle Vorteile der Entwickelung ausnutzen zu können, vereinigen sich die Unternehmer in Kartellen, Arbeitgeberverbänden und ähnlichen Organisationen. Die Unternehmerverbände sind Machtfaktoren im wirtschaftlichen und politischen Leben, die den Kapitalprofit steigern, den politischen Einfluß der Unternehmer heben, aber die Arbeiter oft zu modernen Leibeigenen des Kapitals herabdrücken.
Die Abhängigkeit der Arbeiter vom einzelnen Unternehmer wird gesteigert durch Mietverträge bei Überlassung von Wohnungen, durch Pensionskassen und andere sogenannte Wohlfahrtseinrichtungen, die aus den für Arbeitslohn bestimmten Summen unterhalten werden. Die staatsbürgerlichen Rechte der Arbeiter, Freizügigkeit, Koalitionsrecht usw. werden beschränkt und oft völlig vernichtet durch Verträge der in Unternehmerverbänden organisierten Kapitalisten.
Der große Einfluß der Unternehmerverbände auf Gesetzgebung und Verwaltung wird ausgenutzt, um die Ausbeutung und Unterdrückung der Arbeiter zu steigern. Jedes Gesetz sucht der Centralverband zu formen, wie es dem Ausbeuterinteresse entspricht.
Dem Beispiele der Unternehmerverbände müssen die organisierten Arbeiter folgen und alle Gesetzesvorlagen darauf prüfen, wie sie für die Arbeiter im allgemeinen und für die einzelnen Berufe im besonderen wirken."
Der von der Regierung vorgelegte Entwurf von Arbeitskammern wird abgelehnt.
Der Boykott wird vom Kongreß als gewerkschaftliches Hilfsmittel bezeichnet, das die Arbeiterschaft als Konsument zur Unterstützung von Arbeitskämpfen benutzen solle. Die Beschlußfassung steht dem Gewerkschaftskartell, nach dem die betreffende Gewerkschaft einen Boykott angemeldet hat, zu, möglichst unter Hinzuziehung der politischen Arbeiterorganisation. Der Beschluß ist auch für die Arbeiterschaft anderer Orte bindend.
Den gewerkschaftlichen und wirtschaftlichen Bestrebungen der kaufmännischen und technischen Angestellten wird volle Sympathie bekundet. Der Kongreß beauftragt die Generalkommission mit der Einberufung einer Dienstbotenkonferenz. Die Kartelle sollen die Gründung von Dienstbotenvereinen fördern. Die Beseitigung der Gesindeordnungen und Dienstbücher und die völlige Koalitionsfreiheit für die Dienstboten und ländlichen Arbeiter sei dringend notwendig.
Der Kongreß erneuert die Forderung der Arbeiterschaft nach reichsgesetzlichem Heimarbeiterschutz und verlangt die reichsgesetzliche Regelung des Kost- und Logiszwanges. "Die in den Gewerkschaftsorganisationen organisierten Mitglieder sind zu verpflichten, ihre Frauen und Töchter, welche in gewerblichen Betrieben oder Heimarbeit beschäftigt sind und durch ihre Nichtorganisation den Fortschritt in den in Frage kommenden Gewerben hemmen, den in diesen Gewerben existierenden Gewerkschaftsorganisationen zuzuführen."
Der Kongreß erachtet die Beseitigung des § 115, Abs. 2 der Gewerbeordnung, so daß die Arbeitgeber in Zukunft verpflichtet sind, die Löhne bar auszuzahlen und bis zu dieser Regelung eine landesgesetzliche und kommunale Wohnungsreform als notwendig.
Der Kongreß stimmt dem Übereinkommen zwischen Generalkommission und Parteivorstand über den 1. Mai zu, wonach beide Organisationen gemeinsam für eine würdige Feier sorgen sollen unter Berücksichtigung der jeweiligen örtlichen und beruflichen Verhältnisse. Die Unterstützungsfrage bei Aussperrungen soll indessen noch einmal überprüft werden, nachdem gegen die Übereinkunft, die Unterstützungen sollten von den örtlichen Gewerkschaften und Parteiorganisationen getragen werden, heftig protestiert worden war. Zu den immer wieder ausbrechenden Grenzstreitigkeiten erklärt der Kongreß: "Die gewerkschaftliche Entwickelung vollzieht sich unverkennbar in der Richtung des Zusammenschlusses der Organisation zu großen, leistungsfähigen Verbänden. In diese sich von selbst vollziehende Entwickelung von außen her, durch Konferenz- und Kongreßbeschlüsse einzugreifen, würde nur erschwerend und störend wirken und erweist sich deshalb eine endgültige Grenzregulierung durch solche Beschlüsse als untunlich.
Um ein gedeihliches Nebeneinander- und Zusammenwirken der Gewerkschaften zu gewährleisten, wird denselben unter Anerkennung des gegenwärtigen Organisationsstandes empfohlen, strittige Agitationsgebiete durch besondere Vereinbarungen mit den Centralvorständen der in Betracht kommenden Verbände abzugrenzen und alle Fragen der beruflichen wie gemeinsamen Agitation, des Uebertrittes von Mitgliedern und des Zusammenwirkens bei Lohnbewegungen durch feste Bestimmungen (Kartellverträge) zu regeln."
Der Kongreß stimmt der schon von den Gastwirtsgehilfen erhobenen Forderung nach gänzlicher Beseitigung der gewerbsmäßigen Stellenvermittelung und deren Ersatz durch öffentliche gemeinnützige Arbeitsnachweise voll zu.
Der Kongreß stimmt der Vereinbarung zwischen der Generalkommission und dem Vorstand des Verbandes der Konsumvereine zu, ohne auf den Zusatzbeschluß des Eisenacher Genossenschaftstages einzugehen.
In seinem Grundsatzreferat zur Jugendfrage wendet sich Robert Schmidt gegen "alle Vereinsspielereien und Vereinsmeiereien". "Um das Interesse der Jugend für die Arbeiterbewegung zu wecken, bedarf es keiner Vereine. Hier ist eine freie Betätigung durch Vorträge, im Sommer durch Ausflüge, zu entfalten, ohne irgendwelche große Vereinsorganisationen." In der gegen eine Stimme angenommenen - und vorher mit dem SPD-Parteivorstand abgestimmten - Resolution wird die gewerkschaftliche Jugendarbeit auf Bildungsveranstaltungen, auf Sport, Geselligkeit und Unterhaltung beschränkt. Selbständige Jugendabteilungen werden abgelehnt. Ausdrücklich wird festgestellt, daß "die wirtschaftliche Interessenvertretung und die Entscheidung über politische Parteifragen allein die Aufgabe der gewerkschaftlichen bzw. politischen Organisation" ist.
Die Generalkommission wird von 11 auf 13 Mitglieder erweitert. Als neue Mitglieder werden Gustav Bauer und Hübsch gewählt.
7./11. Juli 1908
Der Verbandstag des Centralverbandes der Brauereiarbeiter in München erklärt sich im Prinzip für die Gründung von Industrieverbänden, lehnt aber mit 43 gegen 23 Stimmen eine Verschmelzung mit den anderen Gewerkschaften der Nahrungsmittelindustrie ab, weil die Voraussetzungen für den Zusammenschluß fehlen. Da der Zusammenschluß einzelner Berufsgruppen zu Industriegruppen aus Zweckmäßigkeitsgründen geschieht, so kann nur dort der Zusammenschluß befürwortet werden, wo durch die technische Entwicklung die eine Berufsgruppe in das Abhängigkeitsverhältnis der anderen gebracht wird.
11. Juli 1908
Der Oberpräsident von Westfalen erläßt eine Verordnung über den "unbefugten Aufenthalt in der Nähe einer Betriebsstätte". Nach ihr ist nicht nur den polizeilichen Anordnungen der polizeilichen Aufsichtsbeamten zur "Erhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung insbesondere zum Schutze der Personen und des Eigentums" Folge zu leisten.
Am 18. Februar 1911 wird eine gleichlautende Verordnung für die Rheinprovinz erlassen. Am 4. Oktober ordnet der preußische Innenminister eine Ergänzung der Straßenpolizeivorschriften nach Vorbild der westfälischen Verordnung an. In dieser Vorschrift sei ein Mittel geschaffen, "welches bei Arbeitskämpfen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung insbesondere auch zum Schutze Arbeitswilliger gegen Belästigungen durch Streikposten und andere Personen mit Vorteil verwendet" werden könne. Im Februar 1914 drängt er erneut, die bestehenden Polizeiverordnungen zu erweitern. Mit diesen Erlassen wird das Streikpostenstehen weitgehend dem Ermessen des Schutzmannes überantwortet. Der Vorstand des Gesamtverbandes sieht in der Erweiterung der preußischen Straßenpolizeiverordnungen eine "Abschlagszahlung" an die Unternehmer und ruft deshalb dazu auf, das Verhalten der Polizei bei Arbeitskämpfen und die Rechtsprechung der Gerichte bei Streikvergehen scharf zu beobachten und bei Übergriffen jeweils alle zulässigen Rechtsmittel und Beschwerdemöglichkeiten auszuschöpfen. Daneben sollte eine systematische "Aufklärung der Gleichgültigen und Unwissenden" über die Bedeutung des Koalitionsrechts durchgeführt werden. Es sei "Ehrensache der christlich organisierten Arbeiter und Arbeiterinnen, die Grundrechte der Arbeiterschaft mit aller Entschiedenheit zu verteidigen".
18. Juli / 16. August 1908
7.800 Arbeiter der Werft "Vulkan" in Stettin werden ausgesperrt, weil sich die Nieter weigern, weiterhin übermäßige, gegen den Tarif verstoßende Überstunden zu leisten. Die Werftarbeiter gehen zum Streik über und fordern außer der Einschränkung der Überstunden eine Regulierung des Akkordlohnes. Der Streik endet mit Teilerfolgen.
2./8. August 1908
Der Verbandstag des Fabrikarbeiterverbandes in München erklärt sich mit dem Beschluß der Konferenz der Centralvorstände vom Dezember 1907, Gründung einer selbständigen Organisation für Land- und Waldarbeiter, unter der Voraussetzung einverstanden, daß diese Organisation nicht auf die der Gewerbeordnung unterstehenden landwirtschaftlichen Nebenbetriebe ausgedehnt wird.
"Der Verbandstag erblickt in dem Tarifvertrag ein geeignetes Mittel zur Erringung und Erhaltung günstiger Lohn- und Arbeitsbedingungen.
Der Abschluß eines Arbeitsvertrages erfordert eine starke Organisation der Kolleginnen und Kollegen, für welche er Geltung erlangen soll. Für die Organisation ist eine verstärkte Werbekraft zu erhoffen, weil durch den Tarifvertrag die unterschiedliche Bezahlung für gleich geartete Leistungen ausgeschaltet, und das Streben der Kolleginnen und Kollegen, durch Anschluß an die Organisation der tariflichen Bestimmungen teilhaftig zu werden, gestärkt wird.
Da, wo die Vorbedingungen gegeben sind, Lokal- oder Bezirkstarife zu bekommen, ist deren Abschluß anzustreben."
Der Verband führt nun den Namen "Verband der Fabrikarbeiter Deutschlands".
3./5. August 1908
Die erste internationale Konferenz der christlichen Gewerkschaften in Zürich, an der Delegierte aus acht Ländern teilnehmen, ruft die christlichen Arbeiter und Arbeiterinnen auf, den Gewerkschaftsorganisationen beizutreten, die sich zum Ziel gesetzt haben:
"Die Verhältnisse der Lohnarbeiter in bezug auf Lohn und Arbeitszeit, persönliche Achtung und Schutz der Gesundheit zu bessern, zu schützen und zu sichern; diese Aufgaben verfolgen auf dem Boden der staatlichen Ordnung und alle Mittel und Bestrebungen ausschließen, welche die religiösen und politischen Anschauungen ihrer Mitglieder zu verletzen geeignet sind; als Mittel zur Durchführung dieser Aufgaben die friedliche Einwirkung auf die Arbeitgeber und, wenn diese fruchtlos ist, die Arbeitsverweigerung als notwendiges und berechtigtes Kampfmittel betrachten und dabei die Grundsätze der Gerechtigkeit zu beobachten gewillt sind; die Gleichberechtigung des Lohnarbeiterstandes in Staat und Gesellschaft, insbesondere im Arbeitsvertrag, mit aller Entschiedenheit erstreben, aber das Prinzip des sozialdemokratischen Klassenkampfes verwerfen; das Zusammenwirken der christlichen Arbeiter der verschiedenen Konfessionen und politischen Parteien zu diesen Zwecken zu fördern."
Die Konferenz beschließt die Gründung eines internationalen Sekretariats für die christlichen Gewerkschaften, das dem Generalsekretär des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften, A. Stegerwald, übertragen wird. Dazu wird eine leitende internationale Gewerkschaftskommission gebildet.
24. August 1908
Die auf dem internationalen Schneiderkongreß in Frankfurt a. Main versammelten Delegierten der verschiedenen Länder versprechen, dafür einzutreten, daß bei allen größeren Streiks und Aussperrungen gegenseitige finanzielle wie moralische Unterstützung erfolgt, sowie nach Kräften dafür sorgen zu wollen, daß der Zuzug während eines Streiks oder einer Aussperrung von dem davon betroffenen Lande ferngehalten wird.
28. August / 1. September 1908
Ein internationaler Glasarbeiterkongreß in Paris beschließt die Gründung der "Internationalen Organisation der Glasarbeiter" und die Einrichtung eines "Internationalen Sekretariats" in Deutschland.
31. August / 5. September 1908
Der außerordentliche Verbandstag des Centralverbandes der Maurer in Hannover beschließt, in allen Verwaltungsstellen im Oktober Versammlungen durchzuführen, die das Thema "Wirtschaftliche Krisen, ihre Ursachen und Wirkungen" behandeln sollen. Zu Tarifverhandlungen verabschiedet der Verbandsvorstand Leitsätze:
"Bei eventuellen zukünftigen centralen Verhandlungen ... ist dahin zu wirken, daß ... möglichst alle Fragen des Arbeitsverhältnisses, mit Ausnahme des normalen Stundenlohnes, der normalen Arbeitszeit und der Akkordarbeit, central geregelt werden; ... die Festsetzung des Stundenlohnes, der täglichen Arbeitszeit und ob Akkordarbeit zulässig sein soll oder nicht, den örtlichen Organisationen vorzubehalten bleibt, und Tarifverträge nur abzuschließen sind für einzelne Orte oder für mehrere Orte, die gemeinsam ein wirtschaftliches Interessengebiet darstellen. Die Aufstellung von Forderungen ist Sache der Zweigvereine resp. der Sektionen für die Spezialbranchen; ..."
13./19. September 1908
Der SPD-Parteitag in Nürnberg beschäftigt sich mit der Maifeier; der Parteivorstand wird beauftragt, über die Unterstützungsfrage noch einmal mit der Generalkommission zu verhandeln. Die Angestellten der Partei und die Parteimitglieder, die am 1. Mai feiern und keinen Lohnausfall erleiden, wären verpflichtet, einen Tagesverdienst in die Aussperrungskasse zu zahlen.
Über die Budgetbewilligung wird lebhaft diskutiert. Mit 258 gegen 119 Stimmen werden die Resolutionen von Lübeck und Dresden bestätigt. 66 Delegierte erklären, daß für spezielle Landesfragen die Landesorganisationen zuständig sind.
Der Parteitag erklärt, daß jede Mitarbeit von Parteimitgliedern in dem mit der Freien Vereinigung deutscher Gewerkschaften verbundenen Verein mit den Grundsätzen und Interessen der Sozialdemokratie unvereinbar ist.
Der Parteitag verlangt zur Sozialpolitik die baldige Verwirklichung der in München aufgestellten Forderungen zur Arbeiterversicherung, die Schaffung eines einheitlichen Arbeiterrechts und gesetzliche Vorschriften für Wohlfahrtseinrichtungen, sowie die Sicherung des geistigen Eigentums an Erfindungen und Entdeckungen. Er wendet sich entschieden gegen die vorgesehene Reichsfinanzreform, die nur wieder die Erhöhung und Einführung neuer indirekter Steuern vorsehe. Der Parteitag fordert erneut die Abschaffung aller indirekten Steuern, die Einführung einer stufenweise steigenden Reichs-Einkommens- und -Vermögenssteuer und die Reform der Erbschaftssteuer.
Die Ausnahmegesetze gegen die Polen, besonders das Verbot der Muttersprache in öffentlichen Versammlungen, werden abgelehnt. Dem Proletariat Deutschlands wird es zur besonderen Pflicht gemacht, mit allen in Betracht kommenden Mitteln für die Überwindung des chauvinistischen Geistes und die Sicherung des Friedens einzutreten.
Der Parteitag spricht sich - wie die Gewerkschaften - für die Bildung von Kommissionen aus. Die Kommissionen werden aus Vertretern der örtlichen SPD und der Gewerkschaftskartelle unter Hinzuziehung von Vertrauenspersonen der jugendlichen Arbeiter und Arbeiterinnen zusammengesetzt - ihnen soll mindestens ein weibliches Parteimitglied angehören.
Die Kommissionen sollen dahin wirken, daß die Gewerkschaftskartelle für den Lehrlingsschutz eintreten. Die wirtschaftliche Interessenvertretung und die Entscheidung über politische Parteifragen bleiben Aufgabe der gewerkschaftlichen und der politischen Organisation.
20. September 1908
In Berlin findet eine Friedenskundgebung deutscher Arbeiter mit Vertretern der englischen Arbeiterbewegung statt, einberufen von den Freien Gewerkschaften, der Sozialdemokratie und den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen.
28./30. September 1908
Die "Internationale Vereinigung für gesetzlichen Arbeiterschutz" behandelt auf ihrem Kongreß in Luzern u.a. das Verbot der Nachtarbeit für Jugendliche - es soll für alle bis zum 18. Lebensjahr eingeführt werden -, das Verbot der Verwendung von Bleifarben, die Heim- und die Kinderarbeit.
Bei Unfällen sind Ausländer den einheimischen Arbeitern gleichzustellen.
20. Oktober 1908
In der Thronrede zur Eröffnung des Preußischen Landtages wird eine organische Fortentwicklung des Wahlrechts, welche der wirtschaftlichen Entwicklung, der Ausbreitung der Bildung und des politischen Verständnisses entspricht, angekündigt.
29. Oktober 1908
Ein Interview Wilhelm II. mit dem "Daily Telegraph" wird veröffentlicht. Es löst eine heftige Staatskrise aus. Selbst von konservativer Seite wird Kritik am "persönlichen Regiment" des deutschen Kaisers geübt.
Der "Verein deutscher Arbeitgeberverbände" beschließt ein sozialpolitisches Programm, in dem er u.a. eine Vereinheitlichung der Arbeiterversicherung ablehnt, paritätische Arbeitskammern verwirft; die Arbeitgeber brauchen sie nicht. Will man den Arbeitern auch eine gesetzliche Interessenvertretung geben, so möge man Arbeiterkammern errichten.
Arbeitsnachweise müssen im Interesse der vaterländischen Gewerbetätigkeit in den Händen der Arbeitgeber liegen. Das System der paritätischen und öffentlichen (kommunalen) Arbeitsnachweise ist ebenfalls zu verwerfen.
Tarifverträge sind für die Entwicklung der Industrie im allgemeinen verderblich und im speziellen für solche Industrien, die für den Weltmarkt arbeiten, schon darum undurchführbar, weil sie den Export unmöglich machen würden. Wo trotzdem eine Einigung von Arbeitnehmern und Arbeitgebern hinsichtlich des Abschlusses von Tarifverträgen erfolgt, muß sie unter allen Umständen den Charakter einer freiwilligen Vereinbarung tragen, wie denn gegen jeden direkten oder indirekten Zwang zum Abschluß von Tarifverträgen grundsätzlich entschieden Verwahrung einzulegen ist.
November 1908
In vielen Städten finden Protestversammlungen und -demonstrationen gegen die "Daily-Telegraph"-Affäre und die vorgesehene Reichsfinanzreform statt.
An einer Urabstimmung des Zentralverbandes der Schuhmacher über die Gründung eines Lederindustrieverbandes nehmen rund 10.700 der 38.000 Mitglieder teil. Da sich nur 8.025 Mitglieder für einen Industrieverband aussprechen, ist die Gründung gescheitert.
Anfang November 1908
Die Reichsregierung unterbreitet dem Deutschen Reichstag den Entwurf zu einer Reichsfinanzreform. Mit der Finanzreform soll ein jährlicher Mehrbetrag von 500 Mill. M vor allem durch Erhöhung bzw. Neuschaffung indirekter Steuern, z.B. auf Branntwein, Tabak, Bier, Gas und Elektrizität, erzielt werden. Ein Fünftel des Mehrbetrages soll aus einer Erbschaftssteuer gewonnen werden.
1. November 1908
In Tarifverträgen für das Brauereigewerbe wird für 619 Betriebe mit 27.350 Beschäftigten Urlaub gewährt.
1909 beschreibt Adolf Braun Gründe dafür, warum gerade die Brauerei- und Druckereiarbeiter als erste Arbeiter Urlaub erhalten:
"In beiden Berufen kommt vielfach Nachtarbeit vor, in beiden Berufen steigert sich die Qualität der Arbeit durch die angespannte Aufmerksamkeit in dem Arbeitsprozesse, in beiden Berufen sind Pünktlichkeit und Genauigkeit, Aufmerksamkeit und Peinlichkeit, seltener Wechsel der beschäftigten Personen Voraussetzungen hochqualifizierter Arbeitsleistung. In beiden Berufen kommen zeitweise stark gesteigerte Arbeitsleistungen vor. Der Urlaub schaffe für die Brauereiarbeiter, die vielfach noch im Zweischichtensystem rund um die Uhr arbeiten müßten, einen Ausgleich für ihre anstrengende Arbeit, während die Buchdrucker auf der Grenze zwischen der rein mechanischen zur geistigen Arbeit ständen und bei letzterer der Unternehmer sowieso die Urlaubsnotwendigkeit eher einsehe."
13./14. November 1908
Der Staatssekretär des Innern erklärt im Reichstag, daß die Frage einer reichsrechtlichen obligatorischen Arbeitslosenversicherung "noch nicht reif" ist.
19. November 1908
Die "Soziale Praxis" schreibt: "Im rheinisch-westfälischen Grubenbezirk herrscht seit Jahren der Kriegszustand, offen oder latent, zwischen den Zechenbesitzern und den Bergarbeitern: Aussperrung, Schwarze Listen, Despotismus auf der einen - Streik, Kontraktbruch, Empörung auf der anderen Seite."
26. November 1908
Die Reichsregierung bringt im Reichstag einen neuen, im wesentlichen unveränderten Gesetzentwurf zur Errichtung von Arbeitskammern ein.
Ende November 1908
Der "Centralverband christlicher Eisenbahnhandwerker und -arbeiter" mit Sitz in Elberfeld wird gegründet, nachdem es nicht gelungen war, den Trierer "Verband deutscher Eisenbahnhandwerker- und Arbeiter" zum Anschluß an den Gesamtverband christlicher Gewerkschaften zu gewinnen. Der Trierer Verband lehnt interkonfessionelle Gewerkschaften ab.
Der Centralverband schließt sich dem Gesamtverband sofort an.
Dezember 1908
In Berlin konstituiert sich entsprechend dem Parteitagsbeschluß die "Zentralstelle für die arbeitende Jugend Deutschlands" unter dem Vorsitz von F. Ebert. Der Zentralstelle gehören u.a. C. Legien - an seine Stelle tritt bald G. Bauer -, R. Schmidt, J. Sassenbach, Emma Ihrer an.
2. Dezember 1908
Der Reichstag behandelt den von der sozialdemokratischen Fraktion eingebrachten Antrag auf Erlaß eines Ministerverantwortlichkeitsgesetzes und vom Zentrum und den Freisinnigen gestellte Anträge auf Änderung der Verfassung und der Geschäftsordnung des Reichstages. Die Beratungen verlaufen ergebnislos.
9. Dezember 1908
Der Reichstag verabschiedet eine Novelle zur Gewerbeordnung, in der u.a. festgelegt wird:
Die heute für Fabriken geltenden Paragraphen der Gewerbeordnung gelten für alle Betriebe, in denen in der Regel mindestens 10 Arbeiter beschäftigt werden.
Jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen dürfen in der Zeit von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens nicht beschäftigt werden; denselben ist eine ununterbrochene elfstündige Minimalruhezeit zu gewähren.
An Sonnabenden und Festagsvorabenden darf die Arbeitszeit nicht über 5 Uhr hinaus währen.
Arbeiterinnen dürfen an Sonnabenden und Festagsvorabenden nur 8 Stunden, an den übrigen Tagen längstens 10 Stunden beschäftigt werden.
Wöchnerinnen dürfen acht Wochen lang, davon mindestens sechs Wochen nach ihrer Niederkunft nicht beschäftigt werden.
Ausnahmsweise Längerbeschäftigung erwachsener Arbeiterinnen wegen außergewöhnlicher Häufung der Arbeit ist nur bis 12 Stunden täglicher Arbeitsdauer bis 9 Uhr abends und bis zu 50 Tagen im Jahr gestattet.
Zur Verhütung des Verderbens von Rohstoffen oder des Mißlingens von Arbeitserzeugnissen darf der Bundesrat für einzelne Gewerbezweige eine Herabsetzung der elfstündigen Mindestruhezeit auf 8,5 Stunden an 60 Tagen im Jahr zulassen.
Verboten wird die Beschäftigung von Arbeiterinnen im Bergbau über Tage bei der Förderung (ausgenommen Aufbereitungsarbeiten), beim Transport und Verladen, ferner in Kokereien und die Beschäftigung beim Materialtransport auf Bauten.
Diese Verbote treten erst am 1. April 1915 in Kraft.
18. oder 19. Dezember 1908
Mit der sogenannten Großeisenverordnung, die auf erbitterten Widerstand der betroffenen Unternehmer und deren Verbände stößt, werden die bisher übermäßig getätigten Überstunden eingeschränkt und die Mindestpausen während der Arbeitszeit und zwischen zwei Arbeitsschichten sichergestellt.
In allen Schichten, die länger als acht Stunden dauern, müssen jedem Arbeiter Pausen in einer Gesamtdauer von mindestens zwei Stunden gewährt werden. Vor der täglichen Arbeitszeit muß für jeden Arbeiter eine ununterbrochene Ruhezeit von mindestens acht Stunden liegen. Nach Auffassung des Metallarbeiterverbandes vermögen diese Bestimmungen weder eine Einschränkung der Überarbeit und der Überschichten, noch eine für die Gesundheit der Arbeiter erforderliche Regelung der Pausen herbeizuführen. Die den oberen Verwaltungsbehörden zugesprochene Befugnis, von den Vorschriften der Verordnung Ausnahmen zu gestatten, wird nicht nur den reichsrechtlichen Charakter der Verordnung durchbrechen, sondern auch die winzigen Vorteile für die Arbeiter gänzlich wieder beseitigen.
Ende 1908
Die Wirtschaftskrise hat auch in diesem Jahr angehalten. Die wirtschaftliche Krise hat auch der Lohnbewegung ihren Stempel aufgedrückt. Die Arbeitskämpfe sind an Zahl und Umfang ganz erheblich zurückgegangen, nicht nur die Angriffskämpfe, sondern auch die Abwehrstreiks und Aussperrungen. Gleichzeitig ist eine Zunahme der Tarifabschlüsse und besonders ein auffälliges Vordringen der Reichs- und Bezirkstarife in zahlreichen Berufen bemerkenswert. Im Holzgewerbe, im Baugewerbe, im Malerberufe und im Schneidergewerbe wurden Reichstarife teils angebahnt, teils beschlossen, in der Lederindustrie, im Kupferdrucker-, Chemigraphen- und Xylographenberufe wurden die Centraltarife unter Verbesserungen für die Arbeiter erneuert.
Zwischen der Generalkommission und der SPD werden für die künftige Jugendarbeit die Aufgaben verteilt.
Dies zwingt die Gewerkschaften zur Aufgabe ihrer organisatorischen Abstinenz im Jugendbereich.
Der Generalkommission sind 60 Verbände mit 1.873.150 Mitgliedern, davon 132.820 weiblichen, angeschlossen.
Die größten Verbände sind die der Metallarbeiter mit 362.200, die der Maurer mit 180.700, die der Holzarbeiter mit 147.490 Mitgliedern.
Die kleinsten Verbände sind die der Notenstecher mit 415, die der Schirmmacher mit 450 und die der Asphalteure mit 484 Mitgliedern.
1908 gaben die Verbände jeweils fast das Doppelte für Arbeitslosen- (16%) und für die Krankenunterstützung (17%) als für Streikunterstützungen (rund 10%) aus.
Der Verband der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine umfaßt 25 Gewerkvereine mit rund 105.630 Mitgliedern, davon rund 7.000 weiblichen.
Die größten Gewerkvereine sind die der Maschinenbau- und Metallarbeiter mit 38.000, die der Kaufleute mit 18.170 und die der Fabrik- und Handarbeiter mit 15.250 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkvereine sind die der Reepschläger mit 43, die der Gärtner mit 70 und die der Eisenbahner mit 120 Mitgliedern.
Dem Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften sind 22 Gewerkschaften mit 260.770 Mitgliedern, davon 22.090 weiblichen, angeschlossen.
Die größten Gewerkschaften sind die der Bergarbeiter mit 74.810 Mitgliedern, die der Textilarbeiter mit 33.700 Mitgliedern, davon 10.890 weiblichen, und die der Bauhandwerker und Bauhilfsarbeiter mit 31.150 Mitgliedern.
Die kleinsten Gewerkschaften sind die der Gärtner mit 733, die der Steinarbeiter mit 995 und die der Nahrungsmittelarbeiter mit 1.060 Mitgliedern.
In diesem Jahr fanden mit 5.837 gegenüber 1907 27,5% weniger Lohnbewegungen statt, von denen 2.052 mit Streiks und Aussperrungen verbunden waren.
Beteiligt waren rund 742.000 Beschäftigte. Erfolgreich waren 51,8%, teilweise erfolgreich 24,4%, erfolglos 20,3%.
1908 fanden 2.052 Arbeitskämpfe statt. 26,5% weniger als 1907. Beteiligt waren 126.880 Personen.
Von den 2.052 Arbeitskämpfen waren 678 Angriffsstreiks, 1.117 Abwehrstreiks und 257 Aussperrungen.
Von den Angriffsstreiks enden 312 erfolgreich, 175 teilweise erfolgreich, 166 erfolglos. Von den restlichen Streiks ist das Ergebnis unbekannt bzw. sie waren noch nicht beendet.
Von den 1.117 Abwehrstreiks endeten 525 erfolgreich, 139 teilweise erfolgreich und 410 erfolglos. 26 Streiks sind noch nicht beendet, von 17 Streiks ist das Ergebnis unbekannt.
An den 257 Aussperrungen waren 60.580 Personen beteiligt. 21% der Aussperrungen enden für die Arbeitnehmer erfolgreich und 48,3% teilweise erfolgreich.
In die Statistik der Generalkommission werden nun auch statistische Materialien über Arbeiterschutz und Arbeiterversicherung, Arbeitsmarkt und Arbeitslosigkeit, Gewerbe-, Berg- und Kaufmannsgerichte, seit 1910 die der Tarifverträge aufgenommen.
77% der Belegschaft des MAN-Werkes in Augsburg gehören dem "gelben Arbeiterverein vom Werk Augsburg" an, der im Herbst 1905 gegründet worden war.
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fes-library | Februar 2000
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