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TEILDOKUMENT:

1888

1888 / 1890

Die beachtliche Konjunktur und die liberalere Handhabung des Sozialistengesetzes ermöglicht zahlreiche neue Gründungen von Fachvereinen und Zentralverbänden.
Gleichzeitig erfordern die große Anzahl Streiks in dieser Zeit in vielen Orten Streikkomitees.
Parallel dazu nehmen in dieser Zeit die Gründungen von Unternehmervereinigungen ebenfalls beträchtlich zu.

1888

Bei seiner Gründung nimmt der "Verband der Eisenindustrie Hamburgs" in seine Statuten auf: "Kein Mitglied des Verbandes darf die wegen Ausstand entlassenen oder ausgeschiedenen Arbeiter eines anderen Mitgliedes in Arbeit nehmen, die Namen dieser Arbeiter sind dem Vorstand sofort aufzugeben."

Die Behörden genehmigen die Gründung der Invalidenkasse des Verbandes der Gewerkvereine.

In Berlin gründen Maurer und Zimmerleute eine Samariter-Selbsthilfeorganisation. Diesem Beispiel folgen u.a. Dresden, Hamburg und Köln.

In einer Leipziger Buchdruckerei wird zum ersten Mal Arbeitern Urlaub gewährt.

17. Februar 1888

Der Reichstag nimmt, nachdem die Kommission für das Sozialistengesetz alle vorgeschlagenen Verschärfungen seitens der Regierung (Verlängerung bis 30. September 1893, höhere Strafen für sozialdemokratische Agitatoren, Entzug der Staatsangehörigkeit) abgelehnt hat, die Vorlage auf Verlängerung des Sozialistengesetzes auf zwei Jahre an. Die Sozialdemokratie legt bei den Beratungen neues Beweismaterial über Polizeispitzel und -provokateure vor.

2. März 1888

Vor dem Berliner Landgericht werden sechs Sozialdemokraten wegen der Teilnahme an geheimen Verbindungen zu mehrmonatigen Gefängnisstrafen verurteilt.

13./15. März 1888

Die Generalversammlung des Buchdrucker-Unterstützungsvereins in Hamburg stimmt mit Mehrheit der Forderung der preußischen Regierung zu, den Sitz nach Berlin zu verlegen und die staatliche Genehmigung für seine Unterstützungskassen einzuholen. Die preußische Regierung hat dafür die Zulassung der Zentralorganisation in Aussicht gestellt. Die "Unterwerfung" - I. Auer nennt die Buchdrucker den "königlich-preußischen Gewerkverein" - einer der größten und stabilsten gewerkschaftlichen Fachorganisationen führt zu einer zeitweiligen Isolierung der zur Sozialdemokratie tendierenden Gewerkschaft.

18. April 1888

Auf Druck der deutschen Regierung weist die Regierung der Schweiz am 18. April die Redaktion und Verwaltung des "Sozialdemokrat" aus. Zahlreiche Sympathiekundgebungen werden abgegeben. Schweizer Bürger sichern zunächst das Weitererscheinen der Zeitung.

28. April / 31. Juli 1888

Hamburger Tischler streiken erneut. Diesmal für einen Minimalstundenlohn. Sie werden von der Tischler-Innung ausgesperrt. Trotz großer Unterstützung geht der Streik verloren. Einen Teilerfolg können mehr als 2.000 Hamburger Schlosser bei ihrem Streik vom 7. Mai bis 7. Juni für die 9,5stündige Arbeitszeit und Lohnerhöhungen durchsetzen.

9. Mai 1888

In Betrieben zur Zigarrenfertigung muß nach einer Verordnung des Bundesrates ein Mindestluftraum von 7 cbm und eine Mindestraumhöhe von 3 Metern vorhanden sein. Die Arbeitstische und Fußböden müssen täglich feucht gereinigt werden. Für die Heimarbeit und die anderen Branchen der Tabakindustrie gilt diese Verordnung nicht.

28. Mai 1888

In einem Bericht des Berliner Polizeipräsidenten "betr. die Ausbreitung der sozialdemokratischen Zentral-Fachverbände und Zentral-Krankenkassen sowie der zugehörigen Presse in Deutschland" weist er darauf hin, "daß diese Bewegung ... nicht bloß den sozialen Frieden und die materielle Wohlfahrt weiter Kreise, sondern auch die Entwicklung und Konkurrenzfähigkeit der deutschen Industrie ernstlich bedrohen" würde.
Nach diesem Bericht bestehen wieder folgende gewerkschaftliche Organisationen:
Verband der Bäcker und Berufsgenossen Deutschlands Berlin
Unterstützungsverein der Bildhauer Deutschlands Stuttgart
Zentralverein deutscher Böttcher Bremen
Allgemeiner Brauer-Verband Dresden
Unterstützungsverband der Vereine der Buchbinder, Portefeuillo usw. in Deutschland Stuttgart
Unterstützungsverein deutscher Buchdrucker Stuttgart
Buchdrucker-Unterstützungsverein für Bayern Nürnberg
Unterstützungsverein für Buchdrucker und Schriftgießer in Elsaß-Lothringen Straßburg
Unterstützungsverein der Bürsten- und Pinselmacher Deutschlands Hamburg
Vereinigung der Drechsler Deutschlands Hamburg
Zentral-Unterstützungsverein deutscher Gerber und Lederzurichter Altona
Verband der Glacéhandschuhmacher Deutschlands Altenburg
Verband der Glasergesellen Deutschlands Wiesbaden
Verband der deutschen Glasergesellschaften Frankfurt (Main)
Unterstützungsverein deutscher Hutmacher Altenburg
Unterstützungsverein deutscher Korbmacher Dresden
Unterstützungsverein der Kupferschmiede Deutschlands Hamburg
Vereinigung der Maler, Lackierer, Anstreicher und verw. Berufsgenossen Hamburg
Zentralisation der Maurer-Fachvereine Hamburg
Verband deutscher Mechaniker Stuttgart
Zentralisation der Metallarbeiter
Verband deutscher Perückenmacher- und Friseurgehilfenvereine Frankfurt (Main)
Zentralverband der Vereine der Reepschläger, Seiler und verw. Berufsgenossen Deutschlands Altona
Allgemeiner deutscher Schiffbauerverein Hamburg
Allgemeiner deutscher Schiffszimmerer-Verband Hamburg
Allgemeiner Schirmmacher-Verband Berlin
Vereinigung der deutschen Schmiede Hamburg
Reiseunterstützungsverband der Schneider und verw. Berufsgenossen Deutschlands Halle (Saale)
Verein deutscher Schuhmacher Nürnberg
Deutscher Senefelder Bund Frankfurt (Main)
Verband der deutschen Steinmetzen Berlin
Zentralverband der vereinigten Steinmetzengesellschaften in Deutschland Berlin
Vereinigung deutscher Stellmacher Hamburg
Unterstützungsverein deutscher Tabakarbeiter Bremen
Allgemeiner, deutscher Tapezierer-Verein Nürnberg
Deutscher Tischler-Verband Stuttgart
Zentralisation der Töpfer-Fachvereine Hamburg
Allgemeiner Weißgerberverband in Deutschland Altenburg
Deutscher Xylographenverband Stuttgart
Verein deutscher Zigarrensortierer Hamburg
Verband deutscher Zimmerleute Hamburg

Ende Mai / Anfang Juni 1888

Gegen 40 Vertreter der Maurerbewegung beginnt in Berlin ein Prozeß, der nach zwei Wochen mit Freisprüchen aller Angeklagten endet. Dieser Prozeß, wie ein geplanter Streik der Berliner Maurer für den 9-stündigen Arbeitstag, führt vorübergehend wieder zu einer Annäherung der beiden Flügel.
Doch noch während des Berliner Streiks vom Mai bis Juli 1889 kommt es zu erneuten Auseinandersetzungen.

Juni 1888

Nach der Ablösung des preußischen Innenministers von Puttkamers beginnt eine liberalere Handhabung des Sozialistengesetzes.

24. Juni 1888

"Der Grundstein" erscheint als Nachfolger des verbotenen "Neuen Bauhandwerkers".

28. Juni 1888

Die elf Fachvereine und gewerkschaftlichen Zahlstellen in Stuttgart bilden unter sich einen Verband, ihre Vorstände einen Ausschuß, welcher von Zeit zu Zeit zur Verfolgung gemeinschaftlicher Interessen zusammentritt und -wirkt.
Ähnliche Koordinationszentren entstehen auch in Braunschweig, Hamburg, Leipzig und anderen Orten. Seit 1890 werden diese lokalen Zusammenschlüsse unter dem Namen "Gewerkschaftskartelle" durchgängig verwirklicht. Sie stellen örtliche Gewerkschaftsleitungen dar, "welche alle Gewerke nebeneinander umschließen und die allgemeine Solidarität aller Arbeiter äußerlich zum Ausdruck bringen sollen". Die Tätigkeit der Kartelle steht mit den Lohnkämpfen in unmittelbaren Zusammenhang. Grundgedanke ist die Notwendigkeit auf Mittel und Wege zu sinnen, um eine einigermaßen einheitliche gewerkschaftliche Tätigkeit zu ermöglichen.

6./8. August 1888

Auf einem Kongreß in Erfurt wird der "Verband der Schneider, Schneiderinnen und verwandter Berufsgenossen Deutschlands" als Nachfolger des August 1885 in Halle/Saale gegründeten "Reiseunterstützungsverbandes der Schneider und verwandter Berufsgenossen Deutschlands" gegründet.

8./10. August 1888

Nachdem der Reiseunterstützungsverband der Schneider vor allem durch die Praxis des preußischen Versicherungsgesetzes behindert wurde, wird die Zentralorganisation der Schneider erneut auf der Generalversammlung in Weimar umgewandelt.
Nun wird der "Deutsche Schneiderverband" gegründet, der die "allseitige Vertretung der Interessen seiner Mitglieder mit Ausschluß aller politischen und religiösen Fragen" sowie die Erreichung "möglichst günstiger Arbeitsbedingungen auf gesetzlichem Wege nach Maßgabe des § 152 der Reichsgewerbeordnung" als seine Ziele bezeichnet.
Der Verband gewährt eine Reiseunterstützung und eine Hilfe in "außergewöhnlichen Notfällen".
Verbandssitz wird Hannover. Um der repressiven Anwendung, vor allem des sächsischen Vereinsgesetzes zu entgehen, wird auf einem der Generalversammlung vorangegangenen "Kongreß der deutschen Schneider" beschlossen, neben der Zentralorganisation wieder eine "Kontrollkommission" einzusetzen.
Der Versuch, Kürschner und Posamentierer für den Verband zu gewinnen, mißlingt. Die Kürschner gründen 1890 eine eigene Organisation, den "Verband der Kürschner" mit Sitz in Hamburg. Die wenigen lokalen Organisationen der Posamentierer schließen sich 1890 zu einer eigenen zentralen Berufsorganisation zusammen, diese tritt 1893 dem Textilarbeiterverband bei.

1. September 1888

Der Buchdruckerverein verlegt auf Druck der preußischen Regierung seinen Sitz nach Berlin. Vorsitzender wird - bis 1919 - Emil Döblin.
Die Redaktion bleibt - bis 1925 - in Leipzig.

Herbst 1888

Mit der Ausbreitung der Streiks der Metallarbeiter auf ganz Deutschland bildet sich eine zentrale gewerkschaftliche Leitung der Streikaktionen heraus. Auf einem Kongreß in Magdeburg wird eine zentrale Unterstützungskasse eingerichtet. Neben Lohnerhöhungen werden eine zehnstündige tägliche Arbeitszeit und die Abschaffung der Sonntags- und Überstundenarbeit gefordert.
An einigen Orten werden von den Streikenden Arbeitsnachweisbüros eingerichtet.

27. November 1888

Die Reichsregierung bringt die Vorlage eines Gesetzentwurfes zur Alters- und Invalidenversicherung im Deutschen Reichstag ein.

27./30. Dezember 1888

Der Allgemeine Deutsche Metallarbeiterkongreß in Weimar nimmt eine Resolution an: "Durchdrungen von der Überzeugung, daß die Arbeiter nicht imstande sind, durch die gewerkschaftliche Organisation ihre Lage durchgreifend und auf die Dauer zu verbessern, ist sich der Kongreß dennoch bewußt, daß die gewerkschaftliche Organisation den Arbeitern ein Mittel biete, ihre materielle Lage zeitweise zu heben, ihre Aufklärung zu fördern und sie zum Bewußtsein ihrer Klassenlage zu bringen. Der Kongreß erklärt es deshalb für die Pflicht aller Metallarbeiter, sich den bestehenden Metallarbeiterorganisationen anzuschließen, und, wo solche nicht vorhanden sind, unverzüglich Organisationen zu gründen.
Als die zweckmäßigste Organisation erachtet der Kongreß im Prinzip die Zentralisation und erkennt deshalb die bestehenden Zentralorganisationen an, sieht jedoch mit Rücksicht auf die gesetzlichen und politischen Verhältnisse von der Gründung einer weiteren Zentralisation zur Zeit ab. Er empfiehlt vielmehr die Förderung und Gründung lokaler Organisationen mit der Maßgabe, daß sowohl Branchen (allgemeine Metallarbeiter-) als auch Fachorganisationen, je nach den örtlichen Verhältnissen, für zweckentsprechend zu erachten sind."
Außerdem werden die Metallarbeiter aufgefordert, mit aller Energie für ein gesichertes Zusammenwirken der Arbeiter aller Länder eine wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung auf internationaler Basis zu erzwingen.
Zur "Betreibung einer regen und geregelten Agitation" soll für die "Berufsgruppen" der Schlosser und Maschinenbauer, der Schmiede, der Klempner, der Eisen- und Metallgießer (Former) sowie der "Metallarbeiter im Allgemeinen" je ein Vertrauensmann eingesetzt werden. Den "Vertrauensmännern" werden auch Funktionen zur Streikregelung und Streikunterstützung übertragen. Das Vorbild der Maurer ist sehr deutlich.
Zum Zentralorgan für alle deutschen Metallarbeiter und zum Publikumsorgan der Vertrauensmänner wird einstimmig die "Deutsche Metallarbeiterzeitung" bestimmt.

Ende 1888

Die Zentralorganisationen haben rund 89.700 Mitglieder.

1889 / 1890

Die Gründung von Unternehmervereinigungen erreicht einen Höhepunkt.

F. Hitze erkennt in mehreren Aufsätzen in der "Kölner Korrespondenz für die geistlichen Präsides katholischer Vereinigungen der arbeitenden Stände" Gewerkvereinen und Streiks die gleiche Berechtigung zu wie Kartellen und Konventionen der Arbeitgeber. Der Streik ist für ihn "Konsequenz des Manchestertums", das den Kampf legitimiert, den Arbeiter auf Selbsthilfe angewiesen habe. "Jeder Streik schärft die Klassengegensätze, stärkt das Klassenbewußtsein, fördert auch meistens die Klassenorganisation."
Von der wirtschaftlichen Interessenvertretung werden die selbständigen Zwecke der Arbeitervereine scharf abgegrenzt.
Während hier die Geistlichen ein erweitertes Feld ihrer seelsorglichen Betätigung sehen sollen, heißt es von den materiellen Auseinandersetzungen: "Diese Fragen und ihre Entscheidung müssen den Arbeitern selbst überlassen bleiben."
Mit der vollen Freiheit - so macht F. Hitze den Arbeitern klar - fällt ihnen aber auch die "volle eigene Verantwortlichkeit" zu.
Diese Distanzierung und der Verweis auf die eigene Verantwortung schließen nicht aus, daß im Arbeiterverein die Normen des sittlichen Verhaltens auch für den wirtschaftlichen Kampf gelehrt werden, das Maßhalten im Streik sowie der unbedingte Ausschluß aller Parteipolitik; endlich die Überwindung des apathischen Verhaltens zahlreicher Arbeiter, die sich nicht einmal an den Wahlen zur selbstverwalteten Sozialversicherung beteiligen.
"Die Arbeiterbewegung besteht, greift immer weiter um sich: wer wird die Führung bekommen? - das ist überhaupt die entscheidende Frage der Zukunft."

1889

In seinem "Arbeiter-Katechismus" spricht Friedrich Naumann von der Notwendigkeit, an allen Orten der Industriegebiete "christlich-patriotische Arbeitervereine" zu gründen. Diese Vereine sollen die Arbeiterfrage besprechen, christlich-soziale Forderungen vertreten und mit den Arbeitgebern verhandeln.
Als "gute Anfänge solcher allgemeinen Vereinsbildung" wertet der Verfasser die katholischen und evangelischen Arbeitervereine. Er hofft auf einen "großen Bruderbund", eine umfassende christliche Arbeiterbewegung, die sich unchristlichen und unpatriotischen Strömungen in der Arbeiterwelt entgegenstellen wird.
"O wenn ihr einig wäret, ihr Arbeiter, voll Vaterlandsliebe und Glauben, was könntet ihr schaffen!"
"Noch fühlt ihr euch schwach, weil ihr vereinzelt steht. Schließt euch zusammen!"

In Berlin gelingt es dem Bäckerverband mit einem Streik nicht, den Kost- und Logiszwang abzuschaffen.

Der Verband der Böttcher hat in 21 Orten die Arbeitsvermittlung ganz oder teilweise in der Hand.

Der Dachverband der Dachdecker wird gegründet.
Verbandsblatt wird die "Neue Deutsche Dachdeckerzeitung".

Der "Verband der Müllergesellen" wird gegründet.

In Deutschland bestehen 280 katholische Arbeitervereine mit 60-65.000 Mitgliedern.

Noch gehört nahezu jeder achte Versicherte den Eingeschriebenen Hilfskassen an, 1885 war es fast jeder sechste, obwohl die Versicherten ihre Beiträge selbst tragen müssen. Dafür werden die Hilfskassen von den Arbeitern unabhängig geführt. Zudem besteht freie Arztwahl und bei überlokalen Kassen der Fortbestand der Mitgliedschaft auch bei Ortswechsel des Mitglieds.

Der Berliner Polizeipräsident klagt: "Schon heute können Streikende auf die Solidarität und Unterstützung der gesamten Arbeiterschaft rechnen, sofern es sich um sogenannte Abwehr- oder Prinzipienstreiks handelt."

Der Herausgeber der Zeitschrift "Der Arbeiterfreund" stellt fest: "Wie soll ein Arbeitgeber Überschüsse verwenden, Fabrikfeste feiern und überhaupt für seine Arbeiter sorgen. Arbeiterferien sind vorläufig noch Zukunftsmusik, bestehen aber in bescheidener Weise doch schon in verschiedenen Buchdruckereien, nachdem Besitzer derselben durch Stiftungen diese Einrichtungen vorbereitet und die Arbeiter selbst durch jährliche Beiträge nachgeholfen haben." Als wichtigstes Beispiel führt er die Leipziger Buchdruckerei C. G. Naumann an, die allen Beschäftigten, die - ohne Anrechnung der Lehrzeit - drei Jahre ununterbrochen in der Firma beschäftigt waren, drei Tage Sommerurlaub "bei geschäftsstiller Zeit" bei vollem Lohnausgleich gewährt. 1888 kommen erstmalig auch die Hilfsarbeiter in den Genuß dieser Vergünstigung. Der Herausgeber schlägt vor, allgemein "wenigstens allen Arbeitern über 60 Jahre und solchen, die am längsten im Dienste sind oder die wegen Kränklichkeit oder Schwäche der Erholung besonders bedürfen, einen achttägigen Urlaub (zu) bewilligen". Eine besondere Ferienstiftung oder ein Vertrauensausschuß der Arbeiter solle in den Unternehmen die Regelung der Urlaubsgewährung, z.B. die Auswahl der in Frage kommenden Arbeiter, übernehmen.

1. Januar 1889 / 30. April 1890

In Deutschland finden nach der Statistik des preußischen Handelsministers 1.131 Streiks (mindestens 10 Teilnehmer) mit insgesamt 394.000 Streikenden statt, davon 190.000 Berg-, 72.000 Bau-, 47.000 Textil- und 17.000 Metallarbeiter.
So stellen von Februar bis April 1889 nach- und nebeneinander im Wuppertal-Solinger Industriegebiet die Schleifer und Bandwirker, besonders dann die Riemendreher, später die Schlosser, Kettenscherer, Kutscher und Fuhrleute, die Maurer, Maler und Bierbrauer, schließlich die Fabrikarbeiter mehrerer chemischer und textilindustrieller Unternehmen die Arbeit ein.
In Hamburg streiken rund 1.000 Schneider von April bis Mai 1889 erfolgreich für die Einführung eines neuen Tarifs, für Lohnerhöhung, 10stündige Arbeitszeit und Abschaffung der Hausarbeit.
Mitte Juni 1889 streiken die Former in allen Eisengießereien Hannovers gegen den im Mai 1889 gegründeten "Verein der Metallindustriellen der Provinz Hannover und angrenzenden Gebiete".
Das ist der Höhepunkt der Streikkämpfe der deutschen Arbeiter im 19. Jahrhundert.

12. Januar 1889

Der "Sozialdemokrat" berichtet, daß zwei Streitpunkte die Arbeiter beschäftigten: Erstens die Frage, ob spezielle Facharbeiterorganisationen oder allgemeine Branchenorganisationen vorzuziehen, zweitens ob unter den bestehenden Verhältnissen die lokalen selbständigen Organisationen durch eine allgemeine gewerkschaftliche Zentralisation über ganz Deutschland zu ersetzen seien.

28. Februar 1889

In Dresden wird der "Allgemeine Deutsche Tapezierer-Verein" gegründet.

Frühjahr 1889

Nach polizeilichen Unterlagen bestehen 41 gewerkschaftliche Zentralverbände mit rund 170.000 Mitgliedern. Diese Verbände geben 34 Zeitungen mit einer Auflage von ca. 90.000 heraus.

25./29. März 1889

Der Kongreß der Maurer in Halle/Saale beschließt, anstelle der Agitationskommission eine Geschäftsleitung einzusetzen, zu deren Geschäftsführer A. Dammann gewählt wird.
Arbeitseinstellungen dürfen nur mit Genehmigung der Geschäftsleitung unternommen werden, wobei darauf zu achten ist, daß Arbeitseinstellungen in mehreren Orten zur gleichen Zeit vermieden werden müssen. Nicht genehmigte Arbeitseinstellungen dürfen von keiner Seite unterstützt werden.

27. März 1889

Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion bringt einen umfassenden, vor allem von A. Bebel ausgearbeiteten Antrag zur Abänderung des Gesetzentwurfes über die Invaliditäts- und Altersversicherung im Deutschen Reichstag ein. Der Antrag fordert u.a.: die Erweiterung des Kreises der Versicherten, die Senkung des Rentenalters auf 60 Jahre und der Wartezeit auf 20 Jahre, die Erhöhung des Reichszuschusses von vorgesehenen 50 auf 90 M und Erleichterungen zum Erwerb der Invalidenrente. Am 4. April wird der Antrag durch den Vorschlag erweitert, alle Einkommen über 3.000 M mit einer progressiven Reichseinkommenssteuer zu belegen, um den Reichszuschuß zur Invaliden- und Altersrente aufzubringen.

22./27. April 1889

Ein Tabakarbeiterkongreß in Erfurt fordert vom Reichstag ein gänzliches Verbot der Arbeit von Kindern unter 14 Jahren in der Tabakindustrie, er setzt sich für einen strengen Jugendschutz ein und verlangt vom Bundesrat die gesetzliche Einführung eines zehnstündigen Maximalarbeitstages, sowie das gänzliche Verbot der Sonntagsarbeit. Er spricht sich gegen jede indirekte Besteuerung der Verbrauchsartikel, insbesondere gegen jede weitere Erhöhung der Steuern und Zölle auf Tabak aus. Ebenso erklärt er sich entschieden gegen die Einführung eines Tabakmonopols, da dasselbe gleichbedeutend wäre mit der völligen Vernichtung eines der größten und lebensfähigsten Industriezweiges und die unbedingte materielle und politische Abhängigkeit großer Bevölkerungsgruppen von der Regierung in sich schließen würde.
Der Kongreß hält "ein gesetzliches Verbot oder auch nur eine Einschränkung der Frauenarbeit, soweit nicht eine solche nötig erscheint in Bezug auf den der verheirateten Frau zur Erfüllung ihrer häuslichen Pflichten notwendigen Schutz wie in Bezug auf diejenigen Beschäftigungen, welche der körperlichen Beschaffenheit der Frau widersprechen, nicht nur für vollständig unwirksam, sondern auch für eine nicht zu rechtfertigende Beeinträchtigung der auch von den Frauen zu beanpruchenden wirtschaftlichen Bewegungsfreiheit". Der Kongreß erklärt die politische und wirtschaftliche Gleichstellung der Frau mit dem Mann und fordert zur Erreichung dieses Ziele zunächst das unbeschränkte Koalitionsrecht auch für die Frauen und die Beseitigung aller dasselbe beschränkenden Gesetze und Verordnungen.

23./24. April 1889

In Berlin wird der "Allgemeine Deutsche Sattlerverein" gegründet, der zunächst hauptsächlich Militärsattler organisiert.

3. Mai / 6. Juni 1889

Der größte deutsche Streik beginnt im Ruhrgebiet ohne Mitwirkung der Gewerkschaften. Die Bergleute fordern die Achtstundenschicht, 15 Prozent Lohnerhöhung, Beseitigung der Lohnabzugssysteme und Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Der Streik beginnt am 3. Mai mit Teilstreiks in Essen und dem Ausstand der Gelsenkirchener Bergarbeiter am 4. Mai und erfaßt nach staatlichen Beschwichtigungsversuchen trotz brutalen Vorgehens des Militärs im Streikgebiet ab 5. Mai - wobei es Tote und Verwundete gibt - und nach Ablehnung der Forderungen durch den Unternehmerverband am 11. Mai rund 90 Prozent aller Ruhrbergarbeiter. Die noch unorganisierten Bergarbeiter stehen teilweise unter kirchlichem, zum geringeren Teil unter Einfluß sozialdemokratischer Bergarbeiter. Der Streik greift ab 10. Mai auf die schlesischen Reviere und am 13. Mai auf das Aachener Revier über, so daß Mitte Mai rund 115.000 Bergarbeiter gleichzeitig streiken. Am 20. Mai beginnen rund 8.000 sächsische Bergarbeiter den Streik.
Wilhelm II. empfängt, trotz gegensätzlicher Auffassung O. von Bismarcks, am 14. Mai eine Delegation streikender Ruhrbergarbeiter und am 15. Mai eine Grubendelegation. Verhandlungen beider Deputationen führen zur Unterzeichnung des unverbindlichen Berliner Protokolls vom 15. Mai, das nicht die Billigung der Grubenherren findet. Der Unternehmerverband des Ruhrreviers sieht sich am 18. Mai zu einem Kompromißangebot gezwungen. Die Belegschaftsdelegierten beschließen am 19. Mai, auf der Grundlage des Kompromißangebots, den Streik zu beenden. Nach Wiederaufnahme der Arbeit am 21. Mai weisen die Unternehmer jegliche Forderungen zurück; ein Teil der Belegschaftsdelegierten beschließt darum am 24. Mai mit 69 zu 48 Stimmen die Fortsetzung des Streiks. Zugleich mit 40.000 erneut ausständigen Ruhrbergarbeitern beginnen am 25. Mai 11.000 Saarbergarbeiter zu streiken. Am 21. Mai beenden die niederschlesischen, am 25. Mai die sächsischen, am 27. Mai die oberschlesischen, Anfang Juni die Aachener und am 6. Juni die Saarbergarbeiter den Streik. Der Ruhrbergarbeiterstreik zerbröckelt Ende Mai infolge Verhaftung der Streikleitungen und mangelnder Einmütigkeit, wird aber erst am 31. Mai durch Beschluß der Dortmunder Delegierten beendet, nachdem eine teilweise Erfüllung der Forderungen zugesichert ist. Dieser Bergarbeiterstreik bezieht bisher noch nicht organisierte Arbeiter in den gewerkschaftlichen Kampf ein. Der Streik trägt wesentlich dazu bei, daß das Sozialistengesetz aufgehoben und Reichskanzler O. von Bismarck gestürzt wird.
Denn auch die bürgerliche Presse kritisiert heftig das Eingreifen des Militärs gegen die Streikenden.
Dieser Streik hat aber auch zweifellos zu einer verstärkten Gründung von Gewerkschaften und zu einem beachtlichen Anwachsen der Zahl von Gewerkschaftsmitgliedern geführt. Innerhalb eines Jahres steigt die Zahl der Gewerkschaftsverbände von 41 auf 59 und die der Mitglieder auf rund 240.000. Mehr als bisher rücken die Industriearbeiter aus den Großbetrieben neben die Handwerker bzw. die Arbeiter aus den Klein- und Mittelbetrieben.

13./14. Mai 1889

Der erste Kongreß der Bauarbeitsleute Deutschlands in Magdeburg entscheidet sich für eine "lose" Zentralisation nach Vorbild der Maurer.
Der Kongreß beschließt, eine eigene Zeitung herauszugeben, die dann ab 6. Juli 1889 mit dem Titel "Der Bauarbeiter", Wochenblatt für alle Bau- und Straßenarbeiter sowie deren freie Vereinigungen für ein Jahr erscheint. "Der Bauarbeiter" wird vom "Arbeiter" abgelöst, der dann ab April 1890 mit dem Untertitel "Organ der sämtlichen Bau- und gewerblichen Hilfsarbeiter Deutschlands, deren Hilfskassen und freien Vereinigungen" veröffentlicht wird.

14. Mai 1889

In seiner Ansprache an die drei Deputierten der streikenden Bergarbeiter droht Kaiser Wilhelm II.: "Sollte sich ein Zusammenhang der Bewegung mit sozialdemokratischen Kreisen herausstellen, so würde ich nicht imstande sein, eure Wünsche mit meinem königlichen Wohlwollen zu erwägen, denn für mich ist jeder Sozialdemokrat gleichbedeutend mit einem Reichs- und Vaterlandsfeind."

16./18. Mai 1889

Auf dem Töpferkongreß in Breslau wird über die Organisationsform heftig gestritten. Zwar wird eine "Zentralisation" als "im Prinzip" erstrebenswert bezeichnet, da sie am effektivsten die Interessen der "Berufsarbeiter" vertreten könne. Der Kongreß nehme aber von der Gründung einer "zentralen Organisation" Abstand "in Rücksicht auf die bestehenden sehr guten und genügenden lokalen Organisationen". Dieser Beschluß ist ein wichtiger Schritt zu "lokalistisch" orientierten Gewerkschaften.
Die Gründung einer eigenen Zeitung wird abgelehnt. Die Zeitung für die Töpfer bleibt das "Vereinsblatt".

19. Mai 1889

In Berlin wird der "Kaufmännische Hilfsverein für weibliche Angestellte" gegründet.
Der Verein ist zunächst eine Selbsthilfeorganisation für weibliche Arbeitnehmer - mit Ausnahme der gewerblichen Arbeitnehmerinnen - bei Krankheit, Stellenlosigkeit und unverschuldeter Not, entwickelt sich aber bald zur beruflichen Interessenvertretung.
Die in Handel und Industrie beschäftigten Frauen sind gezwungen, einen eigenen Verband zu gründen, weil keiner der Berufsverbände für Angestellte bereit ist, Frauen als Mitglieder aufzunehmen.

20. Mai / 3. Juli 1889

20.000 Berliner Maurer streiken für den Neunstundentag. Am 3. Juli wird der Streik abgebrochen. Zugleich streiken die Berliner Zimmerer sowie Gruppen der Maler, Tischler, Schlosser, Glaser, Bauarbeiter u.a. Der Polizeipräsident droht mit strafrechtlicher Verfolgung und Schließung sämtlicher Streikbüros. Auf rund 200 Baustellen wird vorübergehend der Neunstundentag erkämpft. Bis 1890 schließen die Maurer acht lokale Tarifverträge ab.

Juni 1889

Auf ihrem Verbandstag in Hannover nennen sich die Buchbinder um in "Unterstützungsverband der Vereine der in Buchbindereien und verwandten Geschäftszweigen beschäftigten Arbeiter".
Die Delegierten erklären sich "im Prinzip für die Zulassung der Frauen zum Verband", halten jedoch "den gegenwärtigen Zeitpunkt für nicht geeignet, dieses zur Durchführung zu bringen" und empfehlen "möglichst selbständige Organisationen für Frauen zu gründen".
Darauf entstehen im gleichen Jahr selbständige Arbeiterinnenvereine der Buchbinder u.a. in Berlin, Leipzig und Stuttgart, 1890 in Dresden, Fürth und Nürnberg.

9./10. Juni 1889

Ein Kongreß der Müllergesellen in Eisenach beschließt, den "deutschen Müllergesellen-Verband" zu gründen. Die Hauptaufgabe des Verbandes ist die geistige und materielle Hebung der Mitglieder. Der Verband gewährt Reise- und Notfallunterstützung und Rechtsschutz.
Sitz des Verbandes wird Eisenach, Verbandsorgan die "Deutsche Müller-Gesellen Zeitung".

9./11. Juni 1889

Der Handwerkertag der Zimmerer in Weimar beschließt ein neues "lediglich gewerkschaftliches Blatt" herauszugeben: "Der Zimmerer" - Organ des Verbandes der deutschen Zimmerer und Publikationsorgan der Kranken- und Sterbeunterstützungskasse der Zimmerer - erscheint ab 1. Juli wöchentlich.

10./16. Juni 1889

In seinem Rechenschaftsbericht vor dem 10. Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine in Düsseldorf gibt M. Hirsch offen zu, daß die sozialdemokratischen Gewerkschaften schneller wachsen als die Gewerkvereine. Er versucht, diese Tatsache mit der höheren Qualität der "Gewerkvereinsidee" zu erklären, deren Verbreitung größerer erzieherischer Anstrengungen bedürfe als die Propagierung sozialdemokratischer "Schlagwörter". Er ruft deshalb zu noch intensiveren Bemühungen für eine Ausbreitung der Gewerkvereine auf. Eine Notwendigkeit, die bisherigen Ziele oder die Taktik des Verbandes zu ändern, sieht er nicht. Bei der Beratung des ersten Tagungsordnungspunktes, der "Regelung der Löhne und Arbeitszeiten" wird jedoch deutlich, daß die Ansichten über die künftige Taktik sehr differenzieren. Drei Referenten stellen fest, daß bei den unbefriedigenden Zuständen - vor allem der ungenügenden Höhe der Löhne und der zweckmäßigen Dauer der Arbeitszeit - die bisherige Zurückhaltung gegenüber Streiks nicht mehr haltbar sei und auch der Gesetzgebung ein weitergehender Einfluß gewährt werden müsse. Sie verlangen den zehnstündigen Arbeitstag und eine energischere Lohnbewegung.
M. Hirsch wendet sich dagegen, da nichts übereilt werden dürfe, vor allem dürfe man nicht so tun, als ob man die Sozialdemokratie übertrumpfen wolle, insbesondere aber dürfe der Einfluß der Gesetzgebung nicht mehr als notwendig ausgedehnt werden. Der Verbandstag empfiehlt daraufhin den Gewerkvereinen, unablässig auf die Verbesserung der sozialen Lage ihrer Mitglieder "durch Belehrung über die dazu gehörenden Fragen und Vervollkommnung ihrer Einrichtungen hinzuwirken. Eine Hauptaufgabe gerade der nationalen Gewerkvereine bildet aber auch die Ausgleichung der höchst ungleichen Löhne und Arbeitszeiten in den verschiedenen Gegenden und Orten durch Verbesserung dieser Verhältnisse für die schlecht gestellten Arbeiter."
Die Gewerkvereine verlangen das Verbot der Sonntagsarbeit für alle Arbeiter, das Verbot jeder gewerblichen Arbeit von Kindern unter 14 Jahren und das der Nachtarbeit, sowie der Arbeit in besonders gesundheitsschädlichen Betrieben, und Festsetzung einer höchstens zehnstündigen Arbeitszeit für jugendliche Arbeiter und Arbeiterinnen in Fabriken, eine möglichste Trennung der Geschlechter, frühere Entlassung verheirateter Frauen und Verbot der Beschäftigung während insgesamt acht Wochen vor und nach der Entbindung, die Zahl der Fabrikinspektoren zu vermehren, ständige paritätische Ausschüsse, Fabrik-, Werk- und Arbeitsordnungen dürfen nur nach Anhörung der Arbeiter und mit Genehmigung der Fabrikinspektoren erlassen und abgeändert werden.
Mit Ausnahme des Vorsitzenden M. Hirsch werden künftig die Vorstandsmitglieder von den Verbandstagen gewählt.
Im Zentralrat sind die Gewerkvereine künftig nach ihrer Mitgliederzahl vertreten.
Die Gewerkvereine haben 59.000 Mitglieder in 1.272 Ortsvereinen.

22. Juni 1889

Der Reichstag nimmt den Gesetzentwurf über die Invaliditäts- und Altersversicherung gegen die Stimmen der Sozialdemokratie, des Freisinns und der Mehrheit der Zentrumsfraktion an.
Mit dem Gesetz werden alle Arbeitnehmer - also auch Angestellte - über 16 Jahre, die nicht mehr als 2.000 DM jährlich verdienen, zum Eintritt in die Invaliditäts- und Altersversicherung verpflichtet. Von nun ab soll jeder, der ohne eigenes Verschulden nicht mehr in der Lage ist, "den dritten Teil desjenigen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend zu verdienen pflegen", unbeschadet seines Alters eine Invalidenrente erhalten, während Arbeitnehmern "ohne Rücksicht auf die wirkliche Höhe ihres Einkommens" gesetzliche Altersrente zugestanden wird. Der Anspruch auf Bezug der Altersrente wird auf das vollendete 70. Lebensjahr festgelegt.
Die Beitragszahlung wird neben einem Reichszuschuß jeweils zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht.
Invalidenrenten können nach einer Karenzzeit von 5 Beitragsjahren bei Altersrenten nach 30 Jahren in Anspruch genommen werden.
Als Träger der Versicherungen werden Landesversicherungesanstalten eingerichtet, die sich nach dem Territorialprinzip organisieren und ihre Arbeit als Selbstverwaltungsaufgaben realisieren.
Der Vorstand einer Versicherungsanstalt setzt sich paritätisch aus Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammen. Hinzu kommen Beamte, denen die Verwaltung der laufenden Geschäfte obliegt.
Das Gesetz tritt am 1. Januar 1891 in Kraft.

Nachdem durch die Sozialgesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung die freien Hilfskassen zurückgedrängt werden, bieten die Einrichtungen der Sozialversicherungen den Vertretern der Arbeitnehmer eine wirksame, neue organisatorische Plattform.
Die Erfahrungen in der praktischen Arbeit der Selbstverwaltung, die Zehntausende von Arbeitern in den Organen der Sozialversicherung mit Vertretern anderer Bevölkerungsschichten teilen, haben die Klassenspannungen zweifellos gemildert, der gesellschaftlichen Isolierung der Arbeiter entgegengewirkt und reformistische Tendenzen in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gestärkt.
Die Gewerkvereine anerkennen die Alters- und Invalidenversicherung zwar als wünschenswert, lehnen aber auch hier die Zwangsversicherung ab. Den Arbeitern, welche der Alters- und Invalidenversicherung bedürfen, bieten die auf genossenschaftlicher Selbsthilfe beruhenden Kassen, zumal wenn durch ein Normativgesetz geschützt und gefördert, eine ausreichende, den Verhältnissen angepaßte Versorgung, die nicht auf Kosten ihres höchsten Gutes, der persönlichen Unabhängigkeit und Koalitionsfreiheit, erfolgt. Die Mißbilligung wird noch verstärkt durch den ungenügenden Betrag der Rente und die überaus schweren und strengen Bedingungen für die Erlangung, den gänzlichen Beitragsverlust beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, die tatsächliche Einführung der obligatorischen Arbeitsbücher, die höchst ungleiche und ungenügende Beteiligung der Arbeiter an der Organisation und Verwaltung der Versicherungsanstalten und den Ausschluß der freien Krankenkassen von der Wahl der Arbeitervertreter, den Ausschluß der freien Alters- und Invalidenkassen von dem Rechte der Konkurrenz mit den Zwangsanstalten.
Trotz aller Schwierigkeiten wird die Invalidenversicherung im Laufe der Jahre bei der Arbeiterbevölkerung akzeptiert. Denn ihre Rentenleistungen bremsen die alltägliche materielle Not doch etwas und bewahren in manchen Fällen tatsächlich auch vor dem Absinken in die Armut. Vor allem aber beteiligen sich die Invalidenversicherungsträger an der Bekämpfung der Volkskrankheiten, und zwar durch die Gründung von Heilstätten und durch die Finanzierung des Arbeiterwohnungsbaues. Vermutlich werden dadurch bis zum Ersten Weltkrieg 300.000 Wohnungen mehr gebaut.
Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Invalidenversicherung beschließt die Verbandsinvalidenkasse der Gewerkvereine am 8. September 1889 ihre Auflösung.

27./28. Juni 1889

Der Bäckerkongreß in Berlin hält für die Erlangung möglichst günstiger Arbeits- und Lohnbedingungen die zentralisierte Organisation für die beste. Von der Regierung wird verlangt, das Bäckergewerbe unter die Kontrolle der Fabrikinspektion zu stellen.

Juli 1889

17 Delegierte von Buchdruckergewerkschaften aus Frankreich, Spanien, Italien, Deutschland, den Vereinigten Staaten, England, Belgien und sechs anderen Ländern kommen zu einer Konferenz in Paris zusammen.

Der "Verband der vereinigten Dachdeckergesellen Deutschlands" wird gegründet. Der Sitz wird Berlin. Publikumsorgan ist die "Dachdecker-Zeitung".

14./20. Juli 1889

An dem von der deutschen Sozialdemokratie unterstützten internationalen Arbeiterkongreß am 100. Jahrestag des Sturms auf die Bastille in Paris nehmen rund 400 Delegierte, darunter 82 Deutsche, teil, darunter sind etwa 30 Gewerkschaftsfunktionäre. Zu diesen gehören 10 Verbandsvorsitzende, u.a. C. Legien, "Vertrauensmänner" bzw. Leiter von Kontrollkommissionen.
In den Debatten spielt die deutsche Fachvereins- bzw. Gewerkschaftsbewegung eine große Rolle. In seinem längeren Bericht über die deutsche Arbeiterbewegung betont A. Bebel, daß der anfänglich in Parteikreisen vorhandene Irrtum, die gewerkschaftliche Bewegung sei für die Entwicklung des Sozialismus ein Hindernis, überwunden sei. Nur durch das Eintreten für praktische Maßregeln zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen könne bei der Masse der Arbeiter das Klassenbewußtsein geweckt werden. Zu den mündlich vorgetragenen "Spezialberichten" gehören auch zwei von deutschen Gewerkschaftsführern: Der Delegierte der westfälischen Bergarbeiter, Dieckmann, berichtet über den Bergarbeiterstreik und der Vertreter der deutschen Glasarbeiter, Horn, über die Lage der deutschen Glasarbeiter. Und in der Debatte über den "achtstündigen Normalarbeitstag" setzt sich K. Kloß als "Delegierter der deutschen Tischler" sehr vehement für die Forderung nach gesetzlichen Arbeiterschutzbestimmungen ein. Gerade in Deutschland, wo die Arbeiterklasse in ihrer politischen Wirksamkeit sehr behindert werde, könne das Eintreten für Arbeiterschutzgesetze wie auch für die Bildung von Fachvereinen sehr erzieherisch wirken und das "Klassenbewußtsein wachrufen".
Emma Ihrer bringt in ihrer Rede zum Ausdruck, "daß die Organisation der Arbeiterinnen eine unumgängliche Vorbedingung zur Verbesserung der Lage der Arbeiter und Arbeiterinnen ist". Sie weist darauf hin, daß allein die Organisation den Arbeiterinnen die Möglichkeit gibt, das Ziel gleicher Lohn für gleiche Arbeit zu erreichen. Leider seien noch viel zu wenig Frauen organisiert. "Es ist also Pflicht aller Socialisten, den Frauen bei dem Werk ihrer Organisation zu helfen. Der Einwurf, daß die Frauen noch zu saumselig sind, um die Wichtigkeit eines Zusammengehens zu begreifen, ist nicht stichhaltig. Auch die Arbeiter waren nicht überall auf der Höhe der Entwicklung, die sie heute bekunden; auch für sie hat es vieler Anstrengungen bedurft, damit sie zur politischen Reife und zur Organisation gelangten. Die Arbeiterinnen allerwärts zeigen die besten Anlagen, um in dem Lauf der Arbeiterbewegung einzutreten, aber es muß der Boden besät werden." Vom Kongreß erhofft sie sich, "daß dieser... das Resultat haben wird, an der Organisation der Proletarier-Frauen mitzuwirken und in allen größeren Städten gewerbliche Gruppen von Arbeiterinnen entstehen zu lassen".
Für Clara Zetkin ist bei der gegenwärtigen wirtschaftlichen Entwicklung Frauenarbeit notwendig. Die Unterdrückung der Frau könne nur durch ihre wirtschaftliche Unabhängigkeit beseitigt werden. Unerläßliche Bedingung dafür aber ist die Arbeit.
Auf Antrag des Franzosen R. F. Lavigne nimmt der Kongreß eine Resolution an: "Es ist für einen bestimmten Zeitpunkt eine große internationale Manifestation zu organisieren, und zwar dergestalt, daß gleichzeitig in allen Ländern und in allen Städten an einem Tag die Arbeiter an die öffentlichen Gewalten die Forderung richten, den Arbeitstag auf acht Stunden festzusetzen. In Anbetracht der Tatsache, daß eine solche Kundgebung bereits von der amerikanischen Federation of Labor auf seinem im Dezember 1888 zu St. Louis abgehaltenen Kongreß für den 1. Mai 1890 beschlossen worden ist, wird dieser Zeitpunkt als Tag der internationalen Kundgebung angenommen. Die Arbeiter der verschiedenen Nationen haben die Kundgebung in der Art und Weise, wie sie ihnen durch die Verhältnisse ihres Landes vorgeschrieben wird, ins Werk zu setzen."
Der Kongreß stimmt einer umfangreichen Resolution zum Arbeiterschutz zu, in der es u.a. heißt, "daß die Emanzipation der Arbeit und der Menschheit nur ausgehen kann von dem als Klasse und international organisierten Proletariat, welches sich die politische Macht erringt, um die Expropriation des Kapitalismus und die gesellschaftliche Besitzergreifung der Produktionsmittel ins Werk zu setzen". Die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und die damit verbundene immer intensivere Ausbeutung verursache "die politische Unterdrückung, ökonomische Unterjochung und physische wie moralische Degeneration der Arbeiterklasse". Die Resolution unterstreicht die Pflicht der Arbeiter aller Länder, "mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln eine soziale Organisation zu bekämpfen, welche sie erdrückt und überhaupt jede freie Entwicklung der Menschheit bedroht", und "den zerstörenden Wirkungen der gegenwärtigen ökonomischen Ordnung tätigen Widerstand entgegenzusetzen".
Die Arbeiter müssen sich überall organisieren und für das "uneingeschränkte, vollkommen freie Vereins- und Koalitionsrecht eintreten".
Der Kongreß faßt in zwölf Punkten die wichtigsten Forderungen des Proletariats für einen wirksamen Arbeiterschutz zusammen:
"a) Festsetzung eines höchstens 8 Stunden betragenden Arbeitstages für jugendliche Arbeiter,
b) Verbot der Arbeit der Kinder unter 14 Jahren und Herabsetzung des Arbeitstages auf 6 Stunden für beide Geschlechter,
c) Verbot der Nachtarbeit, außer für bestimmte Industriezweige, deren Natur einen ununterbrochenen Betrieb erfordert,
d) Verbot der Frauenarbeit in allen Industriezweigen, deren Betriebsweise besonders schädlich auf den Organismus der Frauen einwirkt,
e) Verbot der Nachtarbeit für Frauen und jugendliche Arbeiter unter 18 Jahren,
f) ununterbrochene Ruhepause von wenigstens 36 Stunden die Woche für alle Arbeiter,
g) Verbot derjenigen Industriezweige und Betriebsweisen, deren Gesundheitsschädlichkeit für die Arbeiter vorauszusehen ist,
h) Verbot des Trucksystems,
i) Verbot der Lohnzahlung in Lebensmitteln sowie der Unternehmer-Kramladen (Kantinen usw.),
k) Verbot der Zwischenunternehmer (Schwitzsystem),
l) Verbot der privaten Arbeits-Nachweis-Büros,
m) Überwachung aller Werkstätten und industriellen Etablissements mit Einschluß der Hausindustrie durch vom Staat besoldete und mindestens zur Hälfte von den Arbeitern gewählte Fabrikinspektoren."
Außerdem erklärt der Kongreß: "Es ist Pflicht aller Arbeiter, die Arbeiterinnen als gleichberechtigte Mitkämpferinnen anzusehen und dem Grundsatz, gleicher Lohn für gleiche Leistungen - auch in bezug auf die Arbeiterinnen - zur Geltung zu verhelfen."
Die Delegierten erklären den Frieden als die erste und unerläßliche Bedingung jeder Arbeiterbewegung.
Die Abstimmung auf den internationalen Kongressen erfolgt nach Ländern.
Mit dem Kongreß beginnt die Geschichte der II. Internationale.

15. Juli / 21. Juli 1889

Die Handschuhmacher rücken auf ihrer Generalversammlung in Stuttgart endgültig von noch vorhandenen wirtschaftsfriedlichen Anschauungen ab.

28. Juli 1889

Unter Mitwirkung des Zentrums und katholischer Geistlicher wird der "Rechtsschutzverein für die bergmännische Bevölkerung des Oberbergamtsbezirkes Bonn", der die Bergleute des Saargebiets umfaßt, gegründet. Sein Statut ist dem des Rechtsschutzvereins in Dortmund nachgebildet. Sitz des Vereins ist Bildstock bei Neunkirchen (Saar). Er zählt bald 24.000 Mitglieder.

5. August 1889

Ein Kongreß von Stukkateuren in Halle/Saale beschließt die Gründung von Lokalvereinen. Das "Vereinsblatt" wird offizielles Fachblatt.

18. August 1889

200 Delegierte beschließen in Dorstfeld die Gründung des "Verbandes zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen in Rheinland und Westfalen". Aus ihm entwickelt sich der Deutsche Bergarbeiterverband.
Nach § 1 des Statuts sind zwar "Religion und Politik in jeder Hinsicht total ausgeschlossen", doch in der Praxis kommt es bald zu internen Auseinandersetzungen, worauf die christliche Minorität den Verband verläßt. Der am 4. Mai 1890 gegründete christlich beeinflußte "Rheinisch-Westfälische Bergarbeiterverein Glückauf zur Wahrung und Förderung der bergmännischen Interessen im Oberbergamtsbezirk Dortmund", dem jeder "patriotisch und christlich gesinnte Bergarbeiter" beitreten kann, besteht kaum ein Jahr.
Aber auch der Verband, nachdem er 1890 mit 58.000 Mitgliedern die größte Gewerkschaft ist, verliert durch eine gezielte Verbotspolitik der Behörden, Verfolgung durch Unternehmer sowie interne Probleme bald wieder zahlreiche Mitglieder.

25./29. August 1889

Auf dem Katholikentag in Bochum wird bekannt, daß es 282 Arbeiter- und Arbeiterinnenvereine gibt, 232 von ihnen zählen 52.239 Mitglieder. Der regionale Schwerpunkt spiegelt sich darin, daß 51 dieser Vereine Knappenvereine sind.

1./6. September 1889

Die Generalversammlung des Unterstützungsvereins der Tabakarbeiter in Magdeburg beschließt, auch ferner, da wo es nötig ist, Streiks und Aussperrungen zu unterstützen, wünscht aber, daß die Mitglieder sich streng an die dafür gegebenen Vorschriften halten. Eine Arbeitslosenunterstützung wird erneut abgelehnt.

12. September 1889

In Berlin wird die "Freie Vereinigung der Kaufleute in Berlin" gegründet. Auf der Gründungsversammlung wird die Forderung aufgestellt, die Regelung der Gehälter durch die Macht der Organisation, eventuell durch Arbeitsausstand zu erringen.
Die gleiche Forderung wird von den im gleichen und den folgenden Jahren in Braunschweig, Chemnitz, Dresden, Frankfurt a.M., Fürth, Halberstadt, Hamburg, Hannover, Kiel, Leipzig, Mannheim, Minden, Nürnberg und Stuttgart gegründeten lokalen "Freien Vereinigungen" vertreten. Obwohl diese Vereinigungen voneinander völlig unabhängig sind, wird durch Korrespondenzen und den Austausch von Rednern die Verbindung hergestellt und durch die Zeitschrift der Berliner Vereinigung "Der Handelsangestellte" aufrecht erhalten.
Fast ausnahmslos schließen sich die örtlichen Vereinigungen den Gewerkschaftskartellen der Arbeitergewerkschaften an.

24./28. September 1889

Ein "Internationaler Kongreß für die Sonntagsruhe" vorwiegend bürgerlicher Sozialpolitiker aus fast allen europäischen Industriestaaten und den USA spricht sich für eine allgemeine Einführung der Sonntagsruhe aus, die nach § 1 der Schlußresolution "mit verschiedenen Abstufungen in allen Industrien möglich (sei)". Wenn aus z.B. technischen Gründen die Sonntagsruhe nicht voll verwirklicht werden könne, dann müsse sie durch einen anderen Ruhetag in der Woche ersetzt werden, denn, "diese Pause gestattet dem Menschen mehr und bessere Arbeit zu liefern, da sie dazu beiträgt, seine Arbeitslust zu unterhalten und seine physischen Kräfte zu stärken". In Grußadressen an den Kongreß betonen der amerikanische Präsident und der englische Premierminister, daß die Frage der Sonntagsruhe eine Volksfrage ersten Ranges sei.

12. Oktober 1889

G. Schmoller erklärt in einem Vortrag, "die leitenden, kapitalbesitzenden Kräfte haben nur die Wahl zwischen der kommenden sozialen Revolution, welche unsere ganze wirtschaftliche Kultur begraben kann, und zwischen einem Mitreden der Arbeiter in Form der englischen Gewerkvereine und in Form der bescheidenen Arbeiterausschüsse. Ein dritter Weg ist unmöglich." G. Schmoller erblickt in statuarisch geregelten innerbetrieblichen Arbeiterausschüssen die unerläßliche Ergänzung zu den Gewerkschaften, überbetrieblichen Schiedsgerichten, Einigungsämtern und Arbeitskammern. Den entscheidenden Vorzug der Ausschüsse sieht G. Schmoller in ihrer "Doppelfunktion": "Sie sollen Vertrauens- und Amtsorgane des Werkes sein und sind daneben zugleich Interessenvertretung der Arbeiter", diese doppelte Loyalität mildere den "Egoismus der Interessenvertretung".

23. Oktober 1889

Das Wahlprogramm der Sozialdemokraten für die kommenden Reichstagswahlen wird veröffentlicht. U.a. werde die Fraktion die Regierungen und herrschenden Klassen drängen, im Sinne der Beschlüsse des internationalen Arbeiterkongresses einzutreten.

19. Dezember 1889

Auf einer öffentlichen Kundgebung der Hamburger Metall- und Werftarbeiter wird für den 1. Mai 1890 ein Demonstrationsstreik angekündigt. Eine Reihe lokaler Zentren der Gewerkschaftsbewegung schließen sich diesem Beschluß an.

30. Dezember 1889

Von 87 wegen Geheimbündelei zum Zwecke der Verbreitung des "Sozialdemokrat" angeklagten Elberfelder Sozialdemokraten werden 44 zu Gefängnisstrafen von durchschnittlich drei Monaten verurteilt.

Ende 1889

Die Zentralorganisationen haben rund 121.650 Mitglieder.

Ende der 80er Jahre

Bald nach der Mitte des 19. Jahrhunderts wird der Trend zur Verlängerung der Arbeitszeit gebrochen. In den Jahren von 1860 bis 1880 geht die tägliche Arbeitszeit in der Industrie auf etwa zwölf Stunden zurück, in den 1880er Jahren dann auf elf Stunden; nur vereinzelt gibt es schon die zehnstündige Arbeitszeit. In etwa parallel verläuft der Rückgang der wöchentlichen Arbeitszeit von 78 Stunden (1860) auf 66 Stunden Ende der 1880er Jahre.
Seit den 1870er Jahren setzt sich die Sonntagsruhe wieder stärker durch, wobei der "blaue Montag" mehr und mehr abgeschafft wird. 1885 arbeiten aber noch 29,8 Prozent der Arbeiter in der Großindustrie in Unternehmen mit kontinuierlichem Betrieb auch sonntags. Eine Verkürzung des Arbeitstages am Samstag gibt es nur in seltenen Ausnahmefällen.
Die Arbeitszeitverkürzung verläuft innerhalb der Industrie nach Branche und Beruf sehr unterschiedlich: Im Druckereigewerbe herrscht bereits um 1850 der 10-Stunden-Tag bzw. die 60-Stunden-Woche vor; der Steinkohlenbergbau kennt um 1860 allgemein die 9-Stunden-Schicht (einschließlich Ein- und Ausfahrt), muß diese aber - nach zwischenzeitlicher Verlängerung durch Überschichten und Überstunden - Ende der 1880er Jahre wieder erneut erkämpfen. Im Baugewerbe sind in den 1870er Jahren erste Erfolge der Arbeitszeitverkürzung auf zehn bzw. elf Stunden zu verzeichnen. Relativ lang bleibt die Arbeitszeit in der Textilindustrie, in der in den 1880er Jahren 69 Stunden pro Woche gearbeitet werden. Auch in der chemischen und in der Hüttenindustrie stockt die Entwicklung: Es bleibt bei der 12-Stunden-Schicht. In der Metallverarbeitung wird etwa elf Stunden pro Tag bzw. 65/66 Stunden pro Woche gearbeitet. Allenfalls durch Pausenregelungen wird die effektive Arbeitszeit verkürzt.
Insgesamt lassen sich Unterschiede von drei bis vier Tages- und bis zu 18 Wochenstunden zwischen einzelnen Industriezweigen nachweisen.
Außerdem sind die Unterschiede in der Dauer der Arbeitszeit zwischen städtischen und ländlichen Gebieten und zwischen Ost und West erheblich. So ist z.B. die industrielle Arbeitszeit in den ländlich geprägten Gebieten Ostdeutschlands um ein bis zwei Stunden täglich länger als im Westen.


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