FES HOME MAIL SEARCH HELP NEW
[DIGITALE BIBLIOTHEK DER FES]
TITELINFO / UEBERSICHT



TEILDOKUMENT:




80er Jahre

In diesen Jahren richten zahlreiche Fachvereine und Verbandszahlstellen Arbeitsnachweisbüros ein. In einigen Fällen verständigt man sich auch mit Unternehmern über gemeinsame Arbeitsnachweise.

1880

Der "Unterstützungsverein deutscher Hutmacher" wird gegründet.

Der Großindustrielle F. v. Stumm richtet einen Aufruf
"An die Arbeiter in Neunkirchen: Am hiesigen Orte soll sich ein Ableger jener berüchtigten Gewerkvereine gebildet haben, deren englische Vorbilder weit über das Maß der sozialdemokratischen Ausschreitungen hinaus nicht vor den gewalttätigen Verbrechen zur Erreichung ihrer Zwecke zurückgeschreckt sind. Wohl ließ der klägliche Erfolg, den der undeutsche Demagoge Hirsch bei uns erzielt hat, die Gewerkvereine diese blutigen Wege in Deutschland bis jetzt noch nicht wandeln. Aber auch in unserm Vaterlande haben die Gewerkvereine in ihrem beschränkten Kreise das Verhältnis der Arbeiter zu ihren Arbeitgebern vergiftet; sie haben hunderte bis dahin fleißige und solide Arbeiter in Not und Elend gestürzt und eine noch weit größere Zahl derselben dazu verleitet, ihre mühsam ersparten Groschen in Invalidenkassen abzuführen, welche keine Sicherheit für die Erfüllung der übernommenen Verpflichtungen gewähren. Unter diesen Umständen halte ich es für meine Pflicht, die bisher von meiner Firma gegen sozialdemokratische Organisationen gerichteten Bekanntmachungen auf die Hirsch'schen Gewerkvereine und alle diejenigen, welche dieselben direkt oder indirekt unterstützen, auszudehnen. Insbesondere fordere ich euch auf, folgende - namentlich genannte - Wirtschaften nicht zu besuchen, resp. mit folgenden Geschäftstreibenden den Verkehr zu vermeiden."

In seinem Buch "Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft" übt F. Hitze erneut heftige Kritik an der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung und zeigt sich, was die Konzentration des Kapitals und die Verelendung der Massen anlangt, von K. Marx beeinflußt, dennoch hält er an der Idee eines ständischen Gesellschaftsaufbaus fest.

Januar 1880

In München werden in einem Massenprozeß 120 Schuhmacher wegen Übertretung des Vereinsgesetzes angeklagt. Der Prozeß endet mit der Verurteilung von 106 Angeklagten zu Gefängnisstrafen von 8 Tagen bis zu 3,5 Monaten und mit der Freisprechung von 14 Angeklagten.

Mai 1880

Nachdem der Zentralverein deutscher Hutmacher Anfang 1879 in Sachsen aufgelöst worden war, wurde Anfang 1880 als Sitz der Zentralkrankenkasse Altenburg gewählt. Auf der konstituierenden Generalversammlung der "Kranken- und Sterbekasse der Hutmacher" wird als Unterabteilung der Hilfskasse ein "Unterstützungsverein deutscher Hutmacher" gegründet.

4. Mai 1880

Der Reichstag stimmt mit 191 - u.a. des rechten Flügels des Zentrums - gegen 94 Stimmen der Verlängerung des Sozialistengesetzes bis zum September 1884 zu. Das Verlangen der Regierung, das Gesetz bis zum 31. März 1886 auszudehnen, wird dagegen abgelehnt.

20. Mai 1880

In Aachen wird der Verband katholischer Industrieller und Arbeiterfreunde "Arbeiterwohl" gegründet. Zweck ist die "Verbesserung der Lage des Arbeiterstandes". Eine wirksame Bekämpfung der mit der Großindustrie verbundenen vielfachen Übelstände ist nur "auf dem Boden des Christentums" möglich. Nur Katholiken können stimmberechtigte Mitglieder werden. Das Statut sieht die Gründung von Arbeitervereinen vor.
"Nur eine energische soziale Betätigung kann uns eine christliche, eine sittliche und technisch tüchtige Arbeiterschaft sichern."
Politische Zwecke werden ausgeschlossen. Organ des Verbandes wird die Zeitschrift "Arbeiterwohl". Der Verband bereitet durch seine Arbeit die Gründung des "Volksvereins für das katholische Deutschland", die dann 10 Jahre später erfolgt, ganz entscheidend vor und vermittelt überdies unter den katholischen Unternehmern die Einsicht in die Notwendigkeit katholischer Arbeitervereine.
An der Spitze des Verbandes steht der Tuchfabrikant Franz Brandts. Generalsekretär wird 1881 F. Hitze.

20./23. August 1880

Im Schloß Wyden im Kanton Zürich findet der erste geheime Kongreß der Sozialdemokratie nach Erlaß des Sozialistengesetzes statt. Unter den Delegierten sind auch mehrere Gewerkschaftsfunktionäre. Der Kongreß beschließt das Wort "gesetzlich" aus dem "Gothaer Programm" zu streichen. Da die Partei rechtlos, gesetzliches Wirken ihr unmöglich gemacht worden sei, habe das Wort "gesetzlich" jeden Sinn verloren. Die Partei strebe nun mit allen Mitteln nach ihrem Ziel.
Den Parteigenossen wird empfohlen, sich aus agitatorischen und propagandistischen Rücksichten mit allen Kräften an den Reichstags- und Landtagswahlen zu beteiligen. Auf Antrag von I. Auer wird der Reichstagsfraktion die offizielle Parteivertretung übertragen: die Organisation an den einzelnen Orten bleibt den dort lebenden Parteimitgliedern überlassen. Der "Sozialdemokrat" wird als offizielles Parteiorgan anerkannt.

1. September 1880

Anstelle der Ende 1878 eingestellten "Allgemeinen Buchbinderzeitung" erscheint in Leipzig die "Deutsche Buchbinderzeitung" als Organ der Zentralkasse.

Herbst 1880

Nachdem die Zentralkrankenkasse der Metallarbeiter in Stuttgart wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten aufgelöst worden war, wird in Hamburg die "Allgemeine Kranken- und Sterbekasse der Metallarbeiter" als eingeschriebene Hilfskasse gegründet.
Mit Ausnahme von Stuttgart schließen sich ihr bald alle größeren Filialen der "Zentralkrankenkasse" an.
Ende 1884 erreicht die neue Kasse mit rund 43.000 Mitgliedern ihren höchsten Bestand. Der Berliner Polizeipräsident bezeichnet sie - nach derjenigen der Tischler - als zweitwichtigste der zur Sozialdemokratie tendierenden Zentralkrankenkassen.

15. Oktober 1880

In Leipzig wird als reine Gehilfenunterstützungskasse ein Verein: "Arbeitsnachweis und Unterstützungskasse für durchreisende Buchbinder und verwandte Berufsgenossen" gegründet. Ein ähnlicher Verein - Anfang 1880 in Frankfurt a. Main entstanden - schließt auch Meister ein.
Auf der ersten Generalversammlung des Leipziger Vereins Anfang April 1881 wird ein Antrag, mit den Prinzipalen gemeinsam einen Arbeitsnachweis einzurichten, mit großer Mehrheit abgelehnt.
Auch in Dresden und Hannover werden Unterstützungskassen der Buchbinder gegründet.

24. Oktober 1880

Über Hamburg und Umgebung wird der "kleine Belagerungszustand" verhängt. Sofort werden 75 Personen ausgewiesen, unter denen sich I. Auer, W. Blos und J. H. W. Dietz befinden.

Ende 1880

Die Zahlr der Mitglieder der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine ist auf 21.000 in 540 Vereinen gestiegen.

Ende 1880 / 1881

Nach zwei Jahren vorherrschender "Kirchhofsruhe", einem sich abzeichnenden wirtschaftlichen Zwischenhoch und einer vorübergehenden "milderen Praxis" in der Handhabung des Sozialistengesetzes - die bis 1886 dauert - werden wieder verstärkt Fachvereine, Kranken- und Sterbekassen, Wanderunterstützungskassen zur Absicherung gegen die finanziellen Folgen von Streik und Arbeitslosigkeit und Arbeitsnachweise gegründet, so z.B. im November 1880 in Stuttgart ein Fachverein der Schreiner. Vorsitzender wird Karl Kloß, der schon vor dem Sozialistengesetz im Tischlerbund in Stuttgart aktiv war.
Oder nach einem erfolgreichen Streik der Tischler im Frühjahr 1880 in Berlin - es wird eine feste Arbeitszeit von etwa 10 Stunden erreicht - der "Verein zur Wahrung der Interessen der Tischler Berlins", um die erreichten Erfolge zu überwachen.
Unterstützungsverbände gründen 1881 die Bildhauer, 1882 die Tabakarbeiter, 1883 die Schuhmacher, 1884 die Bürstenmacher und Gerber sowie 1885 die Buchbinder, Böttcher, Mechaniker, Kupferschmiede und Zigarrensortierer. Diese Fachvereine und Hilfskassen werden zur bedeutendsten organisatorischen Basis der Gewerkschaften unter dem Sozialistengesetz. So gelingt es um 1885 den organisatorischen Stand von 1877/78 zu überschreiten.
In diesen Jahren übernehmen neue, junge Gewerkschafter Führungsfunktionen, die bereits zum "geborenen Proletariat" gehören. Ihre politischen Ansichten, ihre Stellung zu Staat und Gesellschaft werden entscheidend von den Erfahrungen des Sozialistengesetzes geprägt, was in den folgenden Jahrzehnten die Politik der Gewerkschaften stark beeinflußt hat. Zu diesen Funktionären gehören die Holzarbeiter Carl Legien und Theodor Leipart, der Tischler Carl Kloß, der Fabrikarbeiter August Brey und der Metallarbeiter Alexander Schlicke.
Die meisten der führenden Gewerkschafter hatten vor 1878 auch wichtige Funktionen in der Sozialdemokratie inne bzw. werden nach 1890 einflußreiche Tätigkeiten auch in der Sozialdemokratie ausüben.

1881

In seiner Schrift "Schutz dem Arbeiter" fordert F. Hitze gesetzliche Möglichkeiten, "daß die Arbeiter sich in ruhigen Zeiten organisieren, daß sie den Besten und Tüchtigsten ihres Standes mit ihrem Vertrauen auszeichnen und an die Spitze stellen können; man gebe ihnen die Möglichkeit einer regelmäßigen Verwaltung, Organe, um mit Umsicht und Besonnenheit über die Möglichkeit einer Lohnerhöhung zu beraten, mit dem Arbeitgeber resp. deren Vertretern in Unterhandlung zu treten."

Bei der Weberei Franz Brandts in Mönchen-Gladbach wird nach der 1873 gegründeten Krankenkasse ein "Ältestenkollegium" eingerichtet, in dessen Statut die Beschränkung der Unternehmergewalt und die Übertragung von betrieblichen Befugnissen auf die Betriebsvertretung, die aus vier Vertretern der Firma und acht von der Generalversammlung gewählten Arbeitermitgliedern besteht, festgelegt wird. Das Kollegium besitzt für die 280 vertretenen Arbeitnehmer eine ganze Reihe von verwaltenden, kontrollierenden und vermittelnden Rechten: Die Verwaltung der verschiedenen Unterstützungskassen, das Recht zum Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften sowie die Befugnis zur Änderung und Ergänzung der Fabrikordnung, wozu allerdings die Genehmigung von F. Brandts nötig ist. F. Hitze berichtet, daß der Vorstand jahrelang selbständig beraten und beschlossen und der Fabrikinhaber in keinem einzigen Fall einem Beschluß die Ausführung versagt habe. Damit ist auch die Gleichberechtigung der Arbeitervertretung bei der Festsetzung der Arbeitsordnung anerkannt. Auch weibliche Arbeitskräfte sitzen in dem Ältestenkollegium, und zur gutachtlichen Unterstützung dürfen besondere "Vertrauensmänner" aus den einzelnen Betriebsabteilungen zusätzlich gewählt werden. Diese Vertrauensmänner haben zusammen mit dem Ältestenkollegium auf die Einhaltung der fünf Paragraphen umfassenden "sittlichen Bestimmungen" zu achten. Für Trunkenheit, Schlägerei, unsittlichen Lebenswandel inner- und außerhalb des Werkes sind harte Strafen angedroht, die allein der Arbeitervorstand ausführen kann, wenn der Unternehmer sich das nicht selbst vorbehält. Die Lohnfrage soll ein für allemal vom Arbeitsgebiet der Ältestenkollegien ausgeschlossen werden. Die Belegschaft soll - das ist die Auffassung von F. Brandts - durch ideelle und nicht materielle Vorstellung gewonnen werden.
In diesen Jahren werden in zahlreichen Betrieben ähnliche Betriebsvertretungen geschaffen. Sie werden an der Kontrolle über die Fabrikordnungen, an den Verwaltungen der betrieblichen Sozialeinrichtungen beteiligt. Sie haben auch mit über die Sittlichkeit der Arbeiter zu wachen und werden in einigen Fällen in die Beratungen über Löhne und Arbeitszeiten mit einbezogen.
Dabei wird seitens der Unternehmer selbst darauf verwiesen, daß mit Hilfe dieser Institutionen der Sozialdemokratie der Boden für weitere Agitation in den Fabriken entzogen werden soll.

15. Februar 1881

Zur Eröffnung des Reichstages erklärt Kaiser Wilhelm I., daß er
schon bei der Eröffnung des Reichstags im Februar 1879 im Hinblick auf das Gesetz vom 21. Oktober 1878 der Zuversicht Ausdruck gegeben habe, daß der Reichstag seine Mitwirkung zur Heilung sozialer Schäden im Wege der Gesetzgebung auch ferner nicht versagen werde. Diese Heilung wird nicht ausschließlich im Wege der Repression sozialistischer Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sein. In dieser Beziehung steht die Fürsorge für die Erwerbsunfähigen unter ihnen in erster Linie. Im Interesse dieser habe der Kaiser dem Bundesrath zunächst einen Gesetzentwurf über Versicherung der Arbeiter gegen die Folgen von Unfällen zugehen lassen, welcher einem in den Kreisen der Arbeiter wie der Unternehmer gleichmäßig empfundenen Bedürfnis zu entsprechen bezweckt. Der Kaiser hofft, daß er die Zustimmung der verbündeten Regierungen finden und dem Reichstag als eine Vervollständigung der Gesetzgebung zum Schutze gegen sozialdemokratische Bestrebungen willkommen sein werde. Die bisherigen Veranstaltungen, welche die Arbeiter vor der Gefahr sichern sollten, durch den Verlust ihrer Arbeitsfähigkeit in Folge von Unfällen oder des Alters, in eine hülflose Lage zu gerathen, haben sich als unzureichend erwiesen, und diese Unzulänglichkeit hat nicht wenig dazu beigetragen, Angehörige dieser Berufsklasse dahin zu führen, daß sie in der Mitwirkung zu sozialdemokratischen Bestrebungen den Weg zur Abhülfe suchten.

8. März 1881

Die Reichsregierung leitet ihren ersten Entwurf für ein Unfallversicherungsgesetz dem Reichstag zu.
Doch trotz eingehender, sehr kontroverser Debatten kommt es zunächst zu keiner Verabschiedung, trotz einer geänderten neuen Vorlage 1882.
Erst im Frühjahr 1884 werden die Beratungen wieder aufgenommen.

19./25. Juni 1881

Der 7. Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine in Stuttgart behandelt die Arbeitslöhne, die Verteuerung der Lebensmittel, einen besseren Schutz für die Arbeit und organisatorische Fragen. Die Delegierten fordern die Beseitigung der Lebensmittelzölle, da sich durch die Lebensmittelverteuerung und eine Lohnminderung die Lage der deutschen Arbeiter erheblich verschlechtert hat. Nach Auffassung der Delegierten ist die baldige Ausführung der Arbeitssicherheitsbestimmungen der Gewerbeordnung dringend zu wünschen: "Dies kann nur geschehen, wenn eine allgemeine Anzeigepflicht und eine Untersuchung aller derjenigen Verunglückungen, welche auf eine mangelhafte Beschaffenheit der Vorrichtungen in den Fabriken und anderen diesen gleichgestellten gewerblichen Anlagen hinzudeuten scheinen, vorgeschrieben wird."
In diesem Jahr werden die Gewerkvereine der Metallarbeiter, der Klempner und der Bildhauer neu gegründet.

27. Juni 1881

An diesem Tag tritt der von der sächsischen Regierung auf Drängen von Preußen über die Stadt und die Amtshauptmannschaft Leipzig verhängte kleine Belagerungszustand zunächst für ein Jahr in Kraft, doch wird dieser "Zustand" regelmäßig verlängert. A. Bebel, W. Liebknecht und weitere Mitglieder der Partei, darunter einige, die bereits Berlin verlassen mußten, werden sofort ausgewiesen.

29. Juli 1881

In Leipzig wird der "Verband Deutscher Handlungsgehilfen" gegründet. Er ist nach seinen Statuten "eine Vereinigung von Kaufleuten zu gegenseitiger Hilfe und zur Hebung des Kaufmannsstandes". "Der Verband fordert die sittlichen und sozialen Aufgaben des Kaufmannsstandes, insbesondere vertritt er die Interessen der Handlungsgehilfen in sozialpolitischer Beziehung." In wirtschaftlicher Hinsicht bezweckt er die "Sicherung seiner Mitglieder in den Notfällen des Lebens durch Stellenvermittlung, Unterstützung bei Stellenlosigkeit, Rechtsschutz, eine Kranken- und Begräbniskasse, eine Witwen- und Waisenkasse, eine Altersversorgungs- und Invalidenkasse, Errichtung von Genesungsheimen und sonstige Wohlfahrtseinrichtungen". Parteipolitische Bestrebungen sind ausgeschlossen.
Unternehmer können außerordentliche Mitglieder werden.
Der Verband legt das Hauptgewicht auf die Wohlfahrtseinrichtungen, insbesondere die Stellenvermittlung.

15. August 1881

Eine öffentliche Buchbinderversammlung in Stuttgart beschließt einen Fachverein zu gründen, dem als Aufgaben die Reiseunterstützung und ein Arbeitsnachweis übertragen werden. Er soll sich aber auch mit Mißständen im Buchbindergewerbe und mit berufsbildenden Fragen beschäftigen.

27. Oktober 1881

Bei den Reichstagswahlen erhält die Sozialdemokratie 311.961 Stimmen = 6,1%, das sind 125.197 Stimmen weniger als 1878. Dennoch ist es ein großer Erfolg für die Sozialdemokratie, da sie den Wahlkampf nur unter großen Behinderungen - polizeilichen Verboten, Verhaftungen und anderen Schikanen - führen konnte. Zwölf Sozialdemokraten kommen in den neuen Reichstag. Entscheidend wird das Zentrum im Reichstag mit 23,2% der abgegebenen Stimmen.

17. November 1881

Der Reichstag wird mit einer kaiserlichen Botschaft anstelle der üblichen Thronrede eröffnet, in der der Kaiser äußert: "Wir halten es für Unsere kaiserliche Pflicht, dem Reichstag die Förderung des Wohles der Arbeiter von Neuem ans Herz zu legen, und würden Wir mit um so größerer Befriedigung auf alle Erfolge, mit denen Gott Unsere Regierung sichtlich gesegnet hat, zurückblicken, wenn es Uns gelänge, dereinst das Bewußtsein mitzunehmen, dem Vaterlande neue und dauernde Bürgschaft seines inneren Friedens und den Hülfsbedüftigen größere Sicherheit und Ergiebigkeit des Beistandes, auf den sie Anspruch haben, zu hinterlassen. In diesem Sinne wird zunächst der Entwurf eines Gesetzes über die Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle vorbereitet. Ergänzend wird ihm eine Vorlage zur Seite treten, welche sich eine gleichmäßige Organisation des gewerblichen Krankenkassenwesens zur Aufgabe stellt. Aber auch diejenigen, welche durch Alter oder Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zu Theil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jedes Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Fundamenten des christlichen Volkslebens steht. Der engere Anschluß an die realen Kräfte dieses Volkslebens und das Zusammenfassen der letzteren in der Form korporativer Genossenschaften unter staatlichem Schutz und staatlicher Förderung werden, wie Wir hoffen, die Lösung von Aufgaben möglich machen, denen die Staatsgewalt allein in gleichem Umfange nicht gewachsen sein würde."
Hiernach sollen die Arbeiter in den durch Krankheit, Unfall, Invalidität und Altersschwäche herbeigeführten Nothlagen ein Anrecht auf eine standesgemäße, vor der Armenpflege bewahrende Fürsorge gesetzlich sichergestellt werden. Dies ließe sich nur durch allgemeine Zwangsversicherung auf öffentlich-rechtlicher Grundlage erreichen. Für die Durchführung der Versicherung ergeben sich als natürliche Grundlagen: Gegenseitigkeit und Selbstverwaltung.
Damit beginnt der Versuch der Regierung, durch eine Reihe sozialer Gesetze - Unfall-, Alters-, Invaliden- und Krankenversicherung - die Arbeiter stärker an den bestehenden Staat zu binden. Die Handhabung des Sozialistengesetzes jedoch führt nicht zu einer Versöhnung der Arbeiter gegenüber dem Staat, sondern zu wachsendem Mißtrauen und großer Erbitterung.

22. November 1881

Der Bundesrat verlängert den kleinen Belagerungszustand über Berlin wiederum um ein Jahr. Gleichzeitig gibt er bekannt, daß bis zu diesem Zeitpunkt insgesamt aus Berlin 155, aus Hamburg und Umgebung 195 und aus Leipzig und Umgebung 70 Sozialdemokraten ausgewiesen worden seien.

11. Dezember 1881

Der sozialpolitische Sprecher des Zentrums Georg v. Hertling verlangt vom Gesetzgeber, die Fabrikgesetzgebung zu verbessern, die Frauen- und Sonntagsarbeit zu beschränken, die Arbeitszeit für männliche Arbeiter zu regeln. Die gesetzliche Arbeitsschutzregelung wird in den kommenden Jahren in der sozialpolitischen Diskussion besonders vom Zentrum behandelt.

26. Dezember 1881

Eine Bergarbeiterversammlung in Essen beschließt, eine Petition an den Reichskanzler zu richten, in der sie eine gesetzliche Regelung der Arbeitszeit verlangt. Zugleich erhoffen sich die Bergarbeiter davon auch einen lohnerhöhenden Effekt.
Die Unzufriedenheit der Bergarbeiter über ihre Arbeitsverhältnisse werden vom Zentrumsabgeordneten und Bauernführer Burghard Freiherr von Schorlemer-Alst im Reichstag in einer aufsehenerregenden Rede am 10. Januar 1882 bestätigt. Er brandmarkt zahlreiche beklagenswerte Zustände auf den Gruben, so die beabsichtigte Ungenauigkeit der Lohnstatistik, die Bergbeamtengehälter einbeziehe, die Berechnung von Überstunden aber nicht sichtbar mache; den Zwang zu Überschichten. Lohnkürzungen durch Abzüge und Strafen trügen zur Auslieferung der Arbeiter an die Entscheidungsallmacht der Grubenherren bei und die Bergbehörden nähmen dabei keine unparteiische Position ein.
Diese Aktionen bleiben jedoch ohne Erfolg. In den folgenden Jahren konzentrieren sich die Diskussionen besonders auf Knappschaftsangelegenheiten, die auch in den christlichen Arbeiter- und Knappenvereinen lebhaft diskutiert werden. In Berlin wird 1882 der "Allgemeine Deutsche Knappschafts-Verband" gegründet, um die große Zersplitterung innerhalb der Knappschaften zu beseitigen. 1885 wird in Bochum ein "Rechtsschutzverein für die bergmännische Bevölkerung des Oberbergamtsbezirks Dortmund" gegründet, der den "Schutz wohlerworbener Rechte seiner Mitglieder" gegenüber der Knappschaftskasse und den Zechenverwaltungen bezweckt. Diesem Beispiel folgen weitere. Doch das Echo auf diese Bestrebungen bleibt gering.

1882

43% aller Berufstätigen sind noch in der Land- und Forstwirtschaft, Tierhaltung und Fischerei beschäftigt, im produzierenden Gewerbe sind es 33,6%, in Handel und Verkehr 8,3% und im Dienstleistungsbereich 14,8%. 28% der Erwerbspersonen sind als Selbständige, 10,2% als mithelfende Familienangehörige, 6,1% als Beamte und Angestellte und 55,8% als Arbeiter tätig.
Die Erwerbsquote der Bevölkerung beträgt 41,9 Prozent.
In den achtziger Jahren werden auch beachtliche Strukturveränderungen innerhalb des Handwerks deutlicher. Die umfangreiche Entwicklung von Produktions- zum Zulieferergewerbe, das Aneignen neuer Produktionsformen wie das Entstehen neuer Berufszweige und eine starke Expansion der Gewerbe im Ernährungs-, Verkehrs- und Dienstleistungssektor verändern die Zusammensetzung der handwerklichen Arbeiterschaft und beeinflussen ihr weiteres sozialpolitisches Verhalten stark.

15. Mai 1882

Im Reichstag findet die erste Beratung der Krankenversicherungsvorlage statt.

29. Mai 1882

In Gelsenkirchen wird der erste "Evangelische Arbeiterverein" gegründet, dem bald an anderen Orten weitere folgen.
Der Paragraph 1 der Satzung des Vereins bestimmt: "Der Verein steht auf dem Boden des evangelischen Bekenntnisses und hat den Zweck:
1. Unter den Glaubensgenossen das evangelische Bewußtsein zu wecken und zu fördern.
2. Sittliche Hebung und allgemeine Bildung seiner Mitglieder.
3. Wahrung und Pflege eines friedlichen Verhältnisses zwischen Arbeitern und Arbeitgebern.
4. Unterstützung seiner Mitglieder in außergewöhnlichen und unverschuldeten Notfällen.
Von der evangelischen Geistlichkeit patriarchalisch geleitet ist das Ziel der Arbeitervereine die "Pflege des freundschaftlichen Verhältnisses zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern".
Dieser harmonische Interessenausgleich wird zudem durch das Eintreten für Kaiser und Vaterland ergänzt.
Die Bewegung ist zunächst auf Rheinland-Westfalen beschränkt, dehnt sich aber bald auf die übrigen Teile des Deutschen Reiches aus.

5. Juli 1882

In Berlin bestehen wieder 15 Fachvereine. Vertreter dieser Vereine arbeiten eine Petition aus, die am 5. Juli auf einer öffentlichen Arbeiterversammlung verabschiedet wird, in der neben dem 9stündigen Normalarbeitstag u.a. gefordert wird: die Abschaffung der industriellen Sonn- und Feiertagsarbeit, der industriellen Gefängnis- und Zuchthausarbeit, der industriellen Arbeit verheirateter Frauen und von Kindern unter 14 Jahren; die Beschränkung der industriellen Arbeit für unverheiratete Frauen; die schärfere Überwachung industrieller Fabrikräume usw. in "sanitärer und sittlicher Beziehung"; die gesetzliche Regelung des Submissionswesens; die gesetzliche Sicherstellung des Arbeitslohnes und des Handwerkszeuges der Gesellen gegen Diebstahl und Feuer.
Die Redaktionskommission bezeichnet sich als "Zentralkomitee der Vereinigten Gewerkschaften, Corporationen p.p. Berlins". Wegen des preußischen Vereinsgesetzes wird von der formellen Gründung eines Dachverbandes abgesehen, aber die Herausgabe einer Zeitung vorbereitet. Diese "Berliner Arbeiterzeitung" erscheint nur vom 31. Dezember 1882 bis 26. Januar 1883.
Seit Spätherbst verbietet die Berliner Polizei alle weiteren Vorständekonferenzen. Am 15. Februar 1883 wird gegen 30 Vorstandsmitglieder der Berliner Fachvereine Anklage wegen Beteiligung an einer verbotenen Verbindung politischer Vereine erhoben. Acht Gewerkschafter werden in diesem "Monsterprozeß" zu Geldstrafen verurteilt, die Organisationen der Klempner, Putzer, Vergolder und Zimmerer zu politischen Vereinen erklärt.

Herbst 1882

Die bereits durch einen Kartellvertrag miteinander verbundenen 9 Lokalvereine der Buchbinder bilden einen Kartellverband in Stuttgart, um die bestehenden Reiseunterstützungskassen besser organisieren zu können.

November 1882

In einer öffentlichen Versammlung der Bremer Zigarrenarbeiter wird eine zentrale Unterstützungskasse gegründet.
Der Vereinszweck beschränkt sich auf die Gewährung von Unterstützungen und die Arbeitsvermittlung für "reisende arbeitslose Mitglieder".

In Chemnitz wird ein gemischter "Verein der Metallarbeiter für Chemnitz und Umgebung" gegründet.
Wenige Wochen später auch in Dresden.
1883 folgen Gründungen von Berufsgruppenverbänden - Schmiede, Klempner, Schlosser - u.a. in Fürth, Ludwigshafen, Mainz und Mannheim, 1884 in Berlin, Braunschweig, Hannover, Magdeburg, Mainz, München, und Leipzig. Zwischen den Branchen- und Berufsorganisationen kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen über die bessere Organisationsform.

Ende 1882 / Januar 1883

In Hamburg sind bis Ende 1882 folgende Gewerkschaften, die 1878 verboten worden waren, als Fachvereine wieder hervorgetreten: Schiffszimmerer, Schmiede (beide 1880); Vergolder, Zigarrensortierer (beide 1881); Bildhauer, Bürstenmacher, Korb- und Stellmacher, Maurer, Schuhmacher, Seiler und Reepschläger, Tapezierer, Werftarbeiter und Zigarrenarbeiter (alle 1882). Um den Behörden keinen Anlaß zum Einschreiten zu geben, müssen die Fachvereine ihren eigentlichen Zweck in den Statuten tarnen. Der im Januar 1883 gegründete Fachverein der Hamburger Töpfer gibt im Paragraph 1 seines Statuts folgende Ziele an: "Hebung der moralischen sowohl als auch der materiellen Lage der Töpfer; Gründung eines Arbeitsnachweisbüros; Errichtung einer Unterstützungskasse für Durchreisende."

1883

In diesem Jahr wird der "Fachverein der Weber und deren verwandter Berufsgenossen beiderlei Geschlechts" gegründet. Er wird 1887 wieder aufgelöst.

Der "Allgemeine Deutsche Weißgerberverband" beschließt auf seinem Kongreß in Hanau, eine zentrale Reiseunterstützung einzuführen.

In Berlin wird die "Freie Organisation junger Kaufleute zu Berlin" gegründet. Sie geht aus einem 1882 gebildeten Komitee zur Herbeiführung des Geschäftsschlusses an Sonntagen hervor.
Als Zweck wird in der Satzung u.a. angegeben: "Die Gesamtinteressen der deutschen Handlungsgehilfen wahrzunehmen und zur Hebung ihres Standes in sittlicher und materieller Beziehung beizutragen." Dieses Ziel soll erreicht werden durch "Regelung der kaufmännischen Kündigungsfristen und des Lehrlingswesens, der Arbeitszeit und der Sonntagsarbeit; durch Alters- und Invaliditätsversorgung und Versicherung gegen Stellenlosigkeit; durch Regelung der Gehaltsfrage und Stellungnahme zu allen, die kaufmännische Gehilfenschaft berührenden, Tagesfragen".
Jeder Angestellte, der in dieser Zeit im Verdacht steht, dieser Organisation anzugehören, ist zweifellos in seiner wirtschaftlichen Existenz bedroht. Der stark ausgeprägte Standesdünkel der Handlungsgehilfen, die Anfeindungen der "Prinzipale", die das Programm als Hetzereien und Störung des guten Einvernehmens zwischen Prinzipal und Angestellten bezeichnen, sind der Grund, daß sich nur wenige Angestellte der Organisation anschließen und die Ursache, daß die "Freie Organisation" ihre Tätigkeit Ende 1887 einstellt.

29. März / 2. April 1883

In Kopenhagen findet ein Parteikongreß der Sozialdemokratie statt, an dem auch wieder mehrere Gewerkschaftsfunktionäre als Delegierte teilnehmen.
Der Kongreß erklärt, bei der sogenannten Sozialreform könne man nach den bisherigen Erfahrungen weder an die ehrlichen Absichten noch an die Fähigkeiten der herrschenden Klasse nach deren bisherigen Verhalten glauben, sondern sei überzeugt, daß die sogenannte Sozialreform nur als taktisches Mittel benutzt werde, um die Arbeiter vom wahren Weg abzulenken. Es sei aber Pflicht der Parteivertreter in den Parlamenten, bei allen auf die ökonomische Lage der Volkes gerichteten Bestrebungen, gleich welchen Motiven sie entsprängen, die Interessen der Arbeiterklasse wahrzunehmen, ohne auf die Gesamtheit der sozialistischen Forderungen zu verzichten.

22. Mai 1883

Der Reichstag nimmt gegen die Stimmen der Sozialdemokratie und der Linksliberalen den Gesetzentwurf über die Krankenversicherung der Arbeiter an. Das Gesetz tritt am 15. Juni 1883 in Kraft.
Alle Arbeiter, Handlungsgehilfen und "Betriebsbeamte" ab dem 16. Lebensjahr mit Ausnahme der in der Land- und Forstwirtschaft Beschäftigten - diese werden erst 1911 in die Versicherung einbezogen - unterliegen nun der Versicherungspflicht für den Krankheitsfall, wenn ihr Lohn, bzw. ihr Gehalt eine bestimmte Summe nicht übersteigt. Das Gesetz läßt aber dafür Gemeinde-, Fabrik-, Bau-, Innungs- und Knappschaftskassen sowie eingeschriebene oder auf der Grundlage landesrechtlicher Vorschriften gebildete Hilfskassen zu. Die Beiträge werden zu zwei Drittel von den Arbeitern, zu einem Drittel von den Unternehmern erhoben. In Gemeinden, in denen mindestens 100 Personen wohnen und arbeiten, müssen Ortskrankenkassen eingerichtet werden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber wählen unabhängig von einander die Mitglieder des Kassenvorstandes und der Generalversammlung, die sich zu zwei Dritteln aus Arbeitnehmern und zu einem Drittel aus Arbeitgebern zusammensetzen. Auch jeder Unternehmer muß, wenn er mehr als 50 versicherungspflichtige Personen in seinem Betrieb beschäftigt, eine Betriebskrankenkasse errichten, falls er nicht 5% des Lohnes seiner versicherungspflichtigen Arbeiter an die Ortskrankenkasse zahlt. Die Versicherung gewährt freie ärztliche Behandlung, bei schwerer Krankheit den Krankenhausaufenthalt und den Angehörigen Beihilfe, freie Arznei und Hilfsmittel. Bei Arbeitsunfähigkeit wird vom 3. Tag nach Beginn der Krankheit ein Krankengeld gewährt, das sich allerdings nicht, wie heute selbstverständlich, am Einkommen des Kranken orientiert, sondern "in Höhe der Hälfte des ortsüblichen Taglohns gewöhnlicher Tagearbeiter" liegt. Die Krankenunterstützung wird höchstens bis zu 26 Wochen - nach Einführung des Unfallgesetzes - bis zur 14. Woche gezahlt. Zusätzlich haben die Zwangskassen folgende Leistungen zu erbringen: - ein Sterbegeld in Höhe des 20fachen Lohnes, nach dem die Beiträge bemessen werden, - Wöchnerinnenunterstützung bis zu mindestens drei Wochen nach der Geburt eines Kindes. Darüber hinaus wird den einzelnen Kassen freigestellt, beispielsweise über eine Zusatzversicherung auch noch weitergehende Leistungen zu übernehmen, etwa die ärztlichen Behandlungskosten für erkrankte Familienmitglieder. Gemeinden und Kommunalverbände können die Versicherungspflicht auf andere Personengruppen beschließen. Alle zugelassenen Krankenkassen werden staatlicher Aufsicht unterstellt.
Die Sozialdemokratie hat - ohne Erfolg - die Ausdehnung der Versicherungspflicht auf alle Arbeiter einschließlich der im Reich beschäftigten ausländischen Arbeiter ab dem 15. Lebensjahr, Krankenunterstützung ohne Karenzzeit für die gesamte Dauer der Erwerbsunfähigkeit in Höhe des ortsüblichen Tagelohnes und die Auflösung der Fabrikkrankenkassen gefordert.
In zahlreichen sozialdemokratischen Versammlungen werden nun die Arbeiter aufgefordert, den freien, selbstverwalteten Hilfskassen beizutreten. Diese Bewegung für die Hilfskassen hat den gewerkschaftlichen Organisationsprozeß eine Zeitlang beachtlich gefördert.
Ende 1885 bestehen 18.942 Krankenkassen mit rund 4.295.000 Mitgliedern. Von diesen sind 13,7% in Gemeindekassen, 35,7% in Ortskrankenkassen, 29,4% in Betriebskrankenkassen und 17% in Hilfskassen versichert. Ende 1889 betragen die Anteile 16,5%, 40,4%, 26,4% und 13,1%. Von den Krankenkassen erstrecken sich nur etwa 100 über ganz Deutschland. Ein Drittel von ihnen sind gewerkschaftliche Hilfskassen.
Auf die gesetzliche Regelung der Krankenversicherung in den 80er Jahren reagiert man in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung zunächst mit mißtrauischer Reserviertheit, da diese Politik in den Augen der Partei- und Gewerkschaftsführer nichts anderes als der Versuch des Obrigkeitsstaates ist, die Arbeiter durch sozialpolitische Gesetze für sich zu gewinnen. Doch auf die Dauer können diese Maßnahmen von der Arbeiterbewegung nicht ignoriert werden, zumal die gewerkschaftlichen Kranken- und Sterbekassen mit den Orts- und Betriebskrankenkassen, welche die eigentlichen institutionellen Träger der staatlichen Krankenversicherung sind, bald nicht mehr konkurrieren können. Vom Zwangsbeitritt zu einer Orts- und Betriebskrankenkasse werden nämlich nur diejenigen Arbeiter befreit, die einer eingeschriebenen Hilfskasse angehören, deren Versicherungsleistungen ebenso hoch sind, wie die der beiden anderen Kassenformen, was zu einer zusätzlichen finanziellen Belastung der Arbeiter führt. Außerdem müssen diese Hilfskassen auch noch auf den Finanzierungsanteil der Arbeitgeber verzichten. Die Anpassung ihrer Kassen an die veränderten Gegebenheiten vollziehen die Verbände, die eine eigene Krankenunterstützung haben, erst dann, als sie erkennen, welche Machtpositionen der organisierten Arbeiterschaft in den Selbstverwaltungsorganen der Ortskrankenkassen offenstehen. Die allmähliche Abkehr vom Versicherungsmodell der eingeschriebenen Hilfskassen erfolgt aber auch unter dem Druck der Behörden, die, vor allem in Preußen, dazu übergehen, die Gewerkschaften rechtlich als Versicherungsanstalten zu behandeln und ihre Unterstützungseinrichtungen einer strengen Staatsaufsicht zu unterwerfen.
Mit der Stabilisierung der lokalen und regionalen Gewerkschaftszusammenschlüsse verlagern sich deren Aktivitäten auch wieder stärker auf offensive Aufgaben, und die Bedeutung der sozialen Selbsthilfeeinrichtungen, die Ausgangspunkt des gewerkschaftlichen Wiederaufbau waren, tritt in den Hintergrund.

26. Mai / 2. Juni 1883

Die Generalversammlung der Handschuhmacher in Altenburg beschließt, daß das Vorschußwesen mit allen Kräften zu bekämpfen ist und die "Fremdenkasse" in eine "Reiseunterstützungs- und Arbeitslosenkasse" zu erweitern.

23./29. Juni 1883

Auf dem 8. Vereinstag der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine in Stralsund berichtet der Vorsitzende M. Hirsch, daß der Großindustrielle von Stumm sein schon früheres gegen die Sozialdemokratie gerichtetes Verbot der Unterstützung auf die Gewerkvereine ausgedehnt hat, weil "die Gewerkvereine das Verhältnis der Arbeiter zu ihren Arbeitgebern vergiftet" hätten. Aber auch die Arbeitgeber, die "sich zu den Liberalen zählen", hätten ihre Arbeiter unter Androhung der Entlassung gezwungen, aus den Gewerkvereinen auszutreten.
M. Hirsch betont, daß die Gewerkvereine keine politische, "wie selbst die wachsame Polizei es ständig bezeugt", sondern eine wirtschaftlich-soziale Vereinigung seien. Die Gewerkvereine betreiben überhaupt keine Politik, geschweige Parteipolitik, und speziell die Fortschrittspartei sei weit entfernt, sich mit den Gewerkvereinen zu identifizieren. "Eine Partei schließen wir von unserer Vereinigung aus, die Sozialdemokraten; selbst diese aber nicht aus Intoleranz, sondern weil sich durch vielfache Erfahrung die Mitgliedschaft von Sozialdemokraten, wegen des fanatischen Hasses derselben gegen die Gewerkvereine als verderblich herausgestellt hat. Sollte die genannte Richtung Bürgschaft einer veränderten Gesinnung gegenüber unserer Organisation geben, so würden wir sie so wenig zurückstoßen wie die Mitglieder irgend einer anderen Partei."
Seit dem letzten Verbandstag wurde eine Arbeitslosenversicherung eingeführt.
Nach Inkrafttreten des Krankenversicherungsgesetzes müßten die Gewerkvereine alles aufbieten, den Arbeitern die Vorteile eigener freier Kassen klar zumachen.
Der Verbandstag soll künftig nur alle drei Jahre stattfinden. Ende 1882 betrug die Mitgliederzahl der Gewerkvereine rund 24.560 in 611 Vereinen.

19./22. August 1883

Nach einer Diskussion über einen fast ergebnislosen vierwöchigen Streik der Zimmerleute im Frühjahr in Berlin, findet dort ein "Handwerkstag deutscher Zimmerleute" statt. Die Teilnehmer beschließen die Gründung des "Verbands deutscher Zimmerleute", die auf Grund des preußischen Vereinsgesetzes jedoch erst auf einer Generalversammlung der Zimmerleute am 16. September erfolgen kann. Der Sitz wird Berlin.
Die Entwicklung des Verbandes stagniert sehr bald.
Der Konstituierung des Zimmererverbandes war seit Juli das Erscheinen der "Zeitschrift der Zimmerkunst" - Organ für Zimmerleute - vorausgegangen. Ab Nr. 3 (September 1883) ändert sie ihren Untertitel in: "Organ des Verbandes deutscher Zimmerleute".

26./27. August 1883

In Gotha findet ein Schuhmacherkongreß statt, auf dem 24 Delegierte 24 Fachvereine vertreten. Auf diesem Kongreß wird ein "Unterstützungsverein deutscher Schuhmacher" gegründet, der als seinen "Zweck" zunächst die Gewährung von Unterstützungen an reisende und arbeitslose Mitglieder, dann aber auch die Förderung der "geistigen und fachlichen Interessen der Mitglieder" im Statut festlegt. Die Arbeitslosenunterstützung betrifft zwar zunächst eine konjunkturell bedingte Arbeitslosigkeit, wird dann jedoch verklausuliert auch auf eine durch Arbeitskämpfe bedingte Arbeitslosigkeit ausgedehnt. Der "Unterstützungsverein" wird streng zentralisiert, zum Vereins- und Verwaltungssitz wird Nürnberg gewählt.
Wegen der unsicheren Rechtslage werden im Statut keine Arbeitsmarktforderungen oder eine Verpflichtung der Mitglieder, sich um solche zu kümmern, aufgenommen. Angenommen werden Resolutionen, in denen die Unterstützung der Forderung nach dem 10stündigen Normalarbeitstag durch Petitionen an den Reichstag und die "moralische" Unterstützung der Gründung von Produktionsgenossenschaften verlangt wird. Die Errichtung einer besonderen zentralen Streikkasse wird zwar abgelehnt, aber mit der Warnung vor unüberlegten Streiks und der Forderung nach statistischen Erhebungen über die Arbeitsverhältnisse nimmt der Kongreß das Mandat für sich in Anspruch, an der effektiveren Ausnutzung des wichtigsten gewerkschaftlichen Kampfmittels mitzuwirken.

1./2. September 1883

Auf der ersten Generalversammlung des "Reiseunterstützungsvereins der Tabakarbeiter" in Dessau wird nicht nur die Unterstützung um eine Hinterbliebenenrente erweitert. In die Satzung wird nun auch aufgenommen Arbeitsvermittlungen und "Vorträge über gewerbliche und wirtschaftliche Gegenstände in den Vereinsversammlungen" und als "Zweck des Vereins" die "Hebung der materiellen und intellektuellen Lage seiner Mitglieder" hinzugefügt.
Der Gefahr, damit zu einem politischen Verein erklärt zu werden, begegnen die Delegierten mit einer strafferen Zentralisierung der Organisationsstruktur. Die relativ selbständigen Vorstände der einzelnen Mitgliedschaften werden durch vom Zentralvorstand ernannte "Bevollmächtigte" ersetzt.
Da die Aufnahme der "Vorträge" für einige Mitgliedschaften existenzbedrohend wird, wird dieser Satz vom Bremer Vorstand eigenmächtig gestrichen.

15. September 1883

Als erste - Berufsgrenzen überschreitende - Gewerkschaftszeitung erscheint die "Deutsche Metallarbeiterzeitung", "Fachblatt für die Metallarbeiter aller Branchen" und "Organ für die Interessen der Allgemeinen Kranken- und Sterbekasse der Metallarbeiter" in Nürnberg.

Herbst 1883

In Stuttgart werden die Tischler ausgesperrt. Gestützt auf ihre Unterstützungskassen und die Solidarität ihrer Berufskollegen in anderen Städten, vermögen die ausgesperrten Tischler ihre Forderung nach höheren Löhnen durchzusetzen. Der erfolgreiche Verlauf stärkt unter den Arbeitern das Streben, die Fachvereine enger zusammenzuschließen.

25. Oktober 1883

In einem Artikel im "Sozialdemokrat" über das "Recht auf Arbeit" wird hervorgehoben, daß "dieses Recht in der heutigen privaten kapitalistischen Gesellschaft nur ein toter Buchstabe sein kann, daß seine Verwirklichung vielmehr die Abschaffung dieser Gesellschaft voraussetzen würde". Im übrigen sei die notwendige Folge des Rechts auf Arbeit die "Pflicht zur Annahme der nachgewiesenen Arbeit" und erweise sich damit als "Recht auf Ausgebeutetwerden".

Oktober / November 1883

In Hamburg und in Berlin wird der kleine Belagerungszustand um ein weiteres Jahr verlängert.

27./29. Dezember 1883

Nach mehreren Streikbewegungen im Frühjahr und Sommer 1883 gründen Delegierte von 39 Lokalorganisationen und Fachvereinen der Tischler in Mainz den "Zentralverband der Vereine der Tischler (Schreiner) Deutschlands". Zweck des Verbandes ist die "gegenseitige Unterstützung der demselben angehörenden Vereine in ihren Bestrebungen zur Hebung des Gewerbes und der materiellen Lage der Mitglieder". Der Verband stellt sich folgende Aufgaben: eine Reiseunterstützungskasse, die im wesentlichen der Arbeitsmarktregulierung dienen soll. Eine Arbeitslosenunterstützung wird für später in Aussicht gestellt, ein unentgeltlicher Rechtsschutz bei "gewerblichen Streitigkeiten" versprochen. Der Verband soll sich um die Regelung des Arbeitslohnes, der Arbeitszeit, der Arbeitsnachweise, des Herbergswesens sowie um eine mögliche Beseitigung der Akkordarbeit kümmern.
Zur Regelung des Streikwesens wird eine Kommission eingesetzt.
Sitz wird Stuttgart, K. Kloß wird zum Vorsitzenden gewählt.
Die Organisationsfrage bleibt ein dauernder Zankapfel im Verband und verhindert eine kontinuierliche Entwicklung.


© Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000

Previous Page TOC Next Page