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1878

In einer veränderten und erweiterten Fassung der Musterstatuten der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine wird "die internationale Verbindung aller Gewerkvereine" aufgenommen.

In den "Christlich-sozialen Blättern" fordert Rudolf Meyer seine christlich-konservativ gesinnten Parteifreunde auf, die Bildung von Gewerkvereinen in Angriff zu nehmen, solange nicht die Regierung nach christlichen Grundsätzen ordnend in das Leben der Arbeiterwelt eingreift, d.h., "solange der Staat nicht wieder ein christlicher Staat geworden ist".
R. Meyer erhofft von diesem selbständigen Schritt, da er ohne parlamentarische Hilfe getan wird, keine restlose Klärung der Arbeiterfrage.
Von den Mitgliedern der Gewerkvereine wird das Bekenntnis zu einer christlichen Konfession gefordert. "Schleuderarbeiter" dürfen nicht aufgenommen werden; gute durchschnittliche Arbeitsfähigkeit ist unerläßliche Bedingung. Die einzelnen Gewerke sollen eine Stellenvermittlung anbahnen, das Wanderwesen fördern, Krankenkassen einrichten. Im Verein darf keine Politik getrieben werden; damit ist durchaus zu vereinbaren, daß jedes Mitglied seine staatsbürgerlichen Pflichten zu erfüllen hat. Den Streik will auch R. Meyer nicht grundsätzlich ausschließen.
"Solange das liberale Ökonomiesystem herrscht, ist er die einzige Waffe der Arbeiter, und es ist deshalb notwendig, daß diese Waffe auch der christlich-konservativen Gewerkvereine recht scharf geschliffen sei."
Die Gewerkvereine sollen aber keinen von Hause aus feindlichen Stand zum Arbeitgeber einnehmen. Sei dieser zu Verhandlungen bereit und unterbreite er annehmbare Vorschläge, so werde man in jedem Fall die friedliche Vereinbarung dem Streik vorziehen. R. Meyer schließt seinen Aufsatz mit den Worten: "Es ist ein Unglück, daß heute nur die unchristlichen und revolutionären Arbeiter Deutschlands organisiert sind, die loyalen und christlichen Arbeiter nicht. Tun wir dies in christlich-konservativen Gewerkvereinen!"

Der Präsident des 1876 gegründeten Reichsgesundheitsamtes legt dem Reichstag für die Haushaltsberatungen eine Denkschrift vor, die von dem Grundsatz ausgeht, daß es nicht mehr genüge, Krankheiten von Fall zu Fall heilen zu wollen, sondern daß "die mit der fortschreitenden Umgestaltung der sozialen Zustände der Menschen enge verbundene Verschlechterung der allgemeinen Gesundheitsverhältnisse dringend dazu auffordere, die Entstehungs- und Verbreitungsursachen der vermeidbaren Krankheiten möglichst genau zu erforschen und in möglichst wirksamer Weise zu bekämpfen". Die Ergebnisse der Forschungsarbeit müssen in die Praxis umgesetzt werden. Dazu müsse das Reichsgesundheitsamt eine zentrale Institution des Reiches werden, die die beschlossenen Maßnahmen einleiten, die Durchführung beaufsichtigen und damit Aufsichtsbehörde für sämtliche Einrichtungen des Gesundheitswesens werden müsse. Für die Reichsregierung solle das Reichsgesundheitsamt beratendes Organ bei der Abfassung von Gesetzen und Verordnungen werden. Grundvoraussetzung sei eine umfassende Medizinalstatistik. Auch die Rekrutierungsstatistiken sollten reformiert werden, um genaue Erkenntnisse des Gesundheitsstandes der Bevölkerung zu erhalten.
Zu diesem Programm veröffentlicht A. Bebel eine ausführliche Kritik, "Das Reichs-Gesundheitsamt und sein Programm vom socialistischen Standpunkt aus beleuchtet". A. Bebel stimmt dem Programm zu, bezweifelt aber, ob es jemals durchgeführt werde. Denn das Programm sei in seinen Auswirkungen revolutionär. Dies gelte vor allem für die Medizinalstatistik. So würden durch die Untersuchungen über die Ausbreitung der Volks- und Wanderseuchen, besonders der Cholera, "weittragende sociale Fragen angeregt, die eine förmliche Revolution in der Wohn-, Nähr-, Arbeits- und sonstigen Lebensweise der Menschen bedingen".
Indes hatte sich die Erkenntnis der Bedeutung sozialhygienischer Maßnahmen besonders in der Seuchenbekämpfung so weit durchgesetzt, daß das Programm im Reichstag angenommen wird. Bebels Vorschlag, daß das Reichsgesundheitsamt nicht nur beratendes Organ der Gesetzgebung sein dürfe, sondern sich zu einem umfassend organisierten Ministerium mit Verwaltungs- und Leitungsfunktionen entwickeln müsse, wird allerdings erst nach dem Ersten Weltkrieg in Ansätzen verwirklicht.

18. Januar 1878

Der Hofprediger Adolf Stöcker tritt zum ersten Mal mit seiner gegen die Sozialdemokratie gerichteten christlich-sozialen Arbeiterpartei hervor, der nur sehr mäßiger Erfolg beschieden ist. Sie ist nicht mehr als eine Wahlorganisation der Konservativen Partei für großstädtische Arbeiter. Sie bleibt im wesentlichen auf Berlin beschränkt.

26. Januar 1878

Das Gewerkschaftsblatt "Pionier" veröffentlicht eine von A. Geib zusammengestellte Statistik, nach der 25 gewerkschaftliche Zentralverbände und fünf Lokalverbände bestehen, die in etwa 1.300 Orten mehr als 49.000 Mitglieder zählen. Von diesen 25 Verbänden gewähren alle Streik-, 17 eine Reise-, 5 eine Invaliditäts-, 3 eine Arbeitslosenunterstützung, 9 Verbände haben eine Kranken-, 8 eine Sterbeversicherung.
Daneben hat der Hutmacherverband, der zu den leistungsfähigsten Gewerkschaften gehört, eine Reise- und Krankenunterstützung, der Handschuhmacherverband eine Kranken- und Sterbekasse.
Beide Verbände sind in der Geib´schen Statistik nicht enthalten, da sie selbst keine Angaben zur Verfügung stellten.
16 der 25 Verbände haben eigene Hilfskassen eingerichtet, die hauptsächlich als Krankenversicherungen tätig sind.
In seinem Kommentar zu der von ihm zusammengestellten Übersicht äußert A. Geib die Hoffnung, daß die Gewerkschaften ihre Hilfskassen "mit etwas Geschick und Ausdauer zu Säulen der Gewerkschaftsbewegung" ausbauen könnten, weil nicht allein das Klasseninteresse, sondern vor allem materielle Erwartungen die Arbeiter an die Gewerkschaften bänden. Besonders eindringlich empfiehlt A. Geib die Ausweitung der Reiseunterstützung: "Erhöhen die Gewerkschaften hier ihre Leistungsfähigkeit, werden sie ihre Organisation entschieden beleben. Der Arbeiter muß eben fühlen, daß seine Verbindung überall hinter ihm steht, erst dann wird sie ihm als ein Stück seiner Existenz ans Herz wachsen."
A. Geib bedauert, daß es in den folgenden Gewerben keine der Sozialdemokratie nahestehenden Gewerkschaften gibt: Papierfabrikation, Talg- und Seifensiedereien, Mühlen, Bäckereien, Mälzereien, Brauereien und Bremereien, Barbiergeschäften, Geschäften der Dachdecker und Schornsteinfeger, Kunst- und Handelsgärtnereien, Schlächtereien. Was aber überhaupt fehlt, d.h. am meisten vermißt wird, ist eine starke Organisation unter den Fabrikarbeitern einer- und den Landarbeitern andererseits.

Februar 1878

Die erste Ausgabe des "Vereinsblatt der Weißgerber Deutschlands" erscheint.

2. Februar 1878

In Essen wird der politisch und religiös unabhängige "Verband rheinisch-westfälischer Bergleute" gegründet. Der grundlegende § 1 des Statuts lautet:
"Zweck des Verbandes ist, unter Ausschließung aller politischen, religiösen und öffentlichen Angelegenheiten die Ehre und die materiellen Interessen seiner Mitglieder lediglich durch gemeinschaftliches Handeln bei der Verwertung ihrer Arbeitskraft zu wahren und zu fördern."
Nach § 3 sind folgende Punkte zu erstreben:
1. ehrenhafte und anständige Behandlung derselben seitens der Vorgesetzten;
2. eine Arbeitszeit, das heißt eine Dauer der Schicht einschließlich des Ein- und Ausfahrens, von 8 Stunden;
3. Arbeitsruhe an den Sonntagen und kirchlichen Feiertagen;
4. möglichst günstige Löhne, den Produktionsverhältnissen entsprechend;
5. reguläre Lohntage.
Zur Erreichung dieser Ziele gewährt der Verband seinen Mitgliedern:
1. einen unentgeltlichen Arbeitsnachweis;
2. im Falle dieselben im Interesse des Verbandes und mit Bewilligung der Verbandsbehörde ihre Arbeit verlieren, ein den Verhältnissen entsprechendes Darlehen zur Bestreitung ihres Unterhaltes.
Das Statut enthält ein ähnliches Streikreglement, wie das im Jahre 1872 angenommene. Der Verband wird durch einen fünfgliedrigen Ausschuß geleitet, dem ein Kontrollausschuß zur Seite gestellt ist.
Versuche, einen eigenen christlich-sozialen Verband zu gründen, bleiben ohne Ergebnis. Bereits am 18. Februar beschließt der "Bergbauliche Verein", alle Bergleute zu entlassen, welche dem sozialdemokratischen oder christlich-sozialen Bergarbeiterverband beitreten. Die Reste der Organisation werden durch das Sozialistengesetz beseitigt.

24./25. Februar 1878

Eine Gewerkschaftskonferenz in Gotha - auf der 23 Delegierte 13 Zentralverbände und einige örtliche Organisationen vertreten - diskutiert erneut eine Zentralisierung der Gewerkschaften. Eine Neigung, eine Zentralisation lassalleanischem Muster zu befürworten, ist nirgends vorhanden.
Ein engeres Zusammengehen wird indessen gewünscht. Die Konferenz schlägt dafür vor, die Gewerkschaften sollen durch Kartellverträge in ein solidarisches Verhältnis zueinander treten, ohne daß ihre Unabhängigkeit und Selbständigkeit dadurch gefährdet werde.
Die Leitung soll in den Händen einer Kartellkommission liegen, deren Aufgaben sein sollen: 1. In allen Angelegenheiten der Kartellverträge zu beraten und zu beschließen; 2. die Agitation zu leiten; 3. die Presse zu überwachen; 4. alle Streitigkeiten zwischen den einzelnen Gewerkschaftsvorständen zu schlichten; 5. die Kasse zu überwachen und zu revidieren.
Die Schaffung eines Zentralorgans wird abgelehnt. Bei Arbeitseinstellungen und Aussperrungen muß ihre Gewerkschaftsverwaltung entscheiden, ob sie die Arbeitseinstellung bewilligt. Ist diese finanziell dazu nicht in der Lage, kann die Kartellkommission die finanzielle Unterstützung übernehmen. Dafür sollen die Gewerkschaften "Extrasteuern" aufbringen.
Reiseunterstützung soll von den Gewerkschaften gegenseitig gezahlt werden.
Arbeitsnachweise sollen als örtliche Einrichtungen angestrebt werden. An Orten, wo wegen der geringen Zahl der dort lebenden Berufsgenossen keine einzelnen Verbände errichtet werden können, sollen gemischte Mitgliedschaften zugelassen werden.

25. März 1878

Eine Versammlung Berliner Gewerkvereine erklärt, daß die Grundsätze und Bestrebungen der christlich-sozialen Arbeiterpartei im schroffen Widerspruch sowohl mit der politischen Wohlfahrt als insbesondere, mit den politischen Überzeugungen und Interessen der deutschen Arbeiter stehen.

Frühjahr 1878

Die Sozialdemokraten bringen im Reichstag folgenden Antrag ein: "Alle Einwohner des Deutschen Reiches haben das Recht, ohne polizeiliche Anmeldung oder Genehmigung zu jeder Zeit und in jedem Orte - unter freiem Himmel wie in geschlossenen Räumen - sich zu versammeln und Vereine zu politischen Zwecken zu gründen. Alle Vereins- und Versammlungsgesetze der deutschen Einzelstaaten sind aufgehoben."
Der Antrag wird im Reichstag nicht behandelt.

20. April 1878

Im "Pionier" werden Entwürfe für ein Statut und Muster von Kartellverträgen für deutsche Gewerkschaften abgedruckt. Sie entsprechen den Beschlüssen der Gothaer Gewerkschaftskonferenz.

11. Mai 1878

Der Klempnergeselle M. Hödel schießt in Berlin auf Kaiser Wilhelm I., ohne ihn zu treffen. Der Attentäter ist ein geistig und körperlich kranker Mensch, der einmal einem sozialdemokratischen Verein angehört hat, aber nach kurzer Zeit ausgeschlossen worden war. In Berlin war er auch der Partei A. Stöckers beigetreten. M. Hödel wird später hingerichtet. Nach dem Attentat fordert O. v. Bismarck sofort ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie. Bereits am 17. Mai wird dem Bundesrat ein Gesetzentwurf vorgelegt, dem dieser zustimmt.

23./24. Mai 1878

Der Reichstag berät den Entwurf des "Gesetzes zur Abwehr sozialdemokratischer Ausschreitungen". Das Ausnahmegesetz wird mit 251 gegen 57 Stimmen abgelehnt. Nur die beiden konservativen Fraktionen und drei nationalliberale Professoren, darunter der Historiker H. v. Treitschke, sprechen sich dafür aus. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erklärt: "Der Versuch, die Tat eines Wahnsinnigen, noch ehe die gerichtliche Untersuchung abgeschlossen ist, zur Ausführung eines lange vorbereiteten Reaktionsstreiches zu benutzen und die >moralische Urheberschaft< des noch unerwiesenen Mordattentates auf den deutschen Kaiser einer Partei aufzuwälzen, welche den Mord in jeder Form verurteilt und die wirtschaftliche und politische Entwicklung als von dem Willen einzelner Personen ganz unabhängig auffaßt, richtet sich selbst ... vollständig in den Augen jedes vorurteilslosen Menschen ..." Es sei mit der Würde der Sozialdemokraten nicht vereinbar, an der Debatte über das Gesetz teilzunehmen.

Juni 1878

Der "Deutsche Senefelderbund" streicht das "Streben nach materieller Besserstellung der Mitglieder" aus der Satzung. Er bezweckt nur noch die Unterstützung seiner Mitglieder, die auf Gegenseitigkeit beruhenden Hilfskassen.

2. Juni 1878

K. Nobiling verwundet "Unter den Linden" in Berlin mit einem Schuß den Kaiser schwer. Er selbst erliegt einige Zeit später einem Selbstmordversuch. Später wird behauptet, K. Nobiling habe noch gestanden, sozialistischen Tendenzen zu huldigen und sozialdemokratische Versammlungen besucht zu haben. Nach diesem Attentat beginnt in ganz Deutschland, besonders in Preußen, eine umfangreiche Hetze gegen die Sozialdemokraten und Gewerkschafter.

5. Juni 1878

Der "Vorwärts" stellt fest, daß der Vorwurf nicht ganz unbegründet sei, daß die deutschen Sozialdemokraten zum großen Teil die Gewerkschaftsbewegung nicht verständen. Es sei richtig, daß geäußert werde, daß die Gewerkschaften, wenn überhaupt nötig, nur ein notwendiges Übel und bloß als Anhängsel der politischen Bewegung als Rekrutierungsfeld der Sozialdemokratie zu dulden seien. Nichts könne verkehrter sein als diese Anschauung.
Beide Bewegungen seien nebeneinander notwendig. Der Sieg der politischen Bewegung sei nur möglich, wenn eine starke Gewerkschaftsbewegung hinter ihr stehe.
Die Gewerkschaften sind die Kristallisationsfäden der künftigen Arbeitsordnung, die in Gewerkschaften organisierten Arbeiter die Pioniere der neuen Gesellschaft.
Die Gewerkschaftsbewegung ist der erste Versuch, die chaotischen Produktionsverhältnisse zu regeln und ein "Arbeitsrecht" zu schaffen; sie bahnt den Weg aus der Mißwirtschaft der Bourgeoisie und legt die Fundamente einer vernünftigen Gesellschaftsorganisation.

11. Juni 1878

Der Reichstag wird aufgelöst, da O. v. Bismarck mit Stimmenverlusten der liberalen Parteien bei den kommenden Wahlen rechnet und damit die Freunde eines Ausnahmegesetzes gestärkt werden. Während des Wahlkampfes gehen Polizei und Gerichte äußerst scharf - Haussuchungen, Verhaftungen, Anklagen und Versammlungsauflösungen - gegen die Sozialdemokraten vor: Der nach Gotha einberufene Parteikongreß wird verboten. H. v. Treitschke fordert die Unternehmer auf, sozialdemokratische Arbeiter zu entlassen. Der "Vorwärts" veröffentlicht wochenlang das Motto: "Laßt Euch nicht provozieren! Man will schießen!"

18. Juni 1878

Schon vor Inkrafttreten des Sozialistengesetzes wenden Unternehmer Unterdrückungsmaßnahmen an, wie z.B. die Bekanntmachung der Chemnitzer Aktienspinnerei zeigt:
"Dass die sozialdemokratischen Agitatoren nicht die Verbesserung des Loses der Arbeiter auf friedlichem Wege anbahnen, dass sie vielmehr durch Verbreitung falscher Irrlehren zu Gewalttaten und Verbrechen aufreizen, haben die beiden meuchelmörderischen Angriffe auf unsern deutschen Kaiser, dem wir so zu Dank für die Neuerrichtung des Deutschen Reiches verpflichtet sind, dargelegt und die dabei bekannt gewordenen Umrisse offenbart, welche hinter jenen Irrlehren verborgen waren. Es ist daher eines jeden Pflicht, dieser Agitation entgegenzuwirken, und wir erwarten von unserem Arbeitspersonal, dass es diese Ansicht teilt. Indem wir unsere Arbeiter auffordern, das Ihre dazu beizutragen, geben wir gleich bekannt, dass alle die, welche einem sozialistischen Verein angehören, willens sein sollten, zu demselben zu stoßen, deren Zeitungen lesen oder verbreiten, Versammlungen besuchen oder in sonstiger Weise die Zwecke der sozialdemokratischen Partei zu fördern suchen, werden ferner nicht mehr in unserer Fabrik beschäftigt werden können und vom 1. Juli aus derselben entlassen."

17. Juli 1878

Mit einer Novelle zur Reichsgewerbeordnung treten folgende Bestimmungen in Kraft: Die Fabrikgesetzgebung wird auf alle mit Dampfkraft arbeitenden Betriebe, auf Hüttenwerke, Bauhöfe und Werften ausgedehnt, Beschäftigung von Kindern unter zwölf Jahren, Frauenarbeit "unter Tage" und das Trucksystem werden verboten, für Minderjährige werden Arbeitsbücher eingeführt, das Lehrverhältnis wird strenger geregelt. Wöchnerinnen dürfen die ersten drei Wochen nach der Entbindung nicht beschäftigt werden.
Der Bundesrat hat die Möglichkeit, für einzelne Gewerbezweige Betriebsschutzauflagen verbindlich festzulegen und die Beschäftigung von Frauen und Jugendlichen aus Rücksicht auf Leben und Gesundheit in den Fabriken zu beschränken, und vor allem werden die Landesregierungen verpflichtet, Aufsichtsbeamte zur Kontrolle über die Beachtung der Bestimmungen der Fabrikgesetzgebung einzusetzen (obligatorische Fabrikinspektion). Der obligatorischen Fabrikinspektion stimmt der Bundesrat nur deshalb zu, weil er gleichzeitig die Befugnisse der Fabrikinspektoren von polizeilichen Exekutivorganen abgrenzt. Die Fabrikinspektion soll keine administrativen Zwangsverfügungen erlassen, sondern soll sich bemühen, "durch eine wohlwollend kontrollierende, beratende und vermittelnde Tätigkeit nicht nur den Arbeitern die Wohltaten des Gesetzes (zu) sichern, sondern auch die Arbeitgeber in der Erfüllung der Anforderungen, welche das Gesetz an die Einrichtung und den Betrieb ihrer Anlagen stellt, taktvoll zu unterstützen".

30. Juli 1878

Bei der Reichstagswahl werden für die Sozialdemokratie 437.158 Stimmen abgegeben, das sind nur 56.289 weniger als 1877. Immer noch sind es 7,6 Prozent der Gesamtstimmenzahl, die auf sie entfallen; sie ist damit die fünftstärkste Partei geworden. Nach der Hetze und den politischen Übergriffen während des Wahlkampfes ist das ein großer Erfolg.
Die Sozialdemokratie zieht mit neun Abgeordneten in den neuen Reichstag ein. Die Liberalen verlieren 39 Sitze.

August 1878

Trotz der weiter bestehenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten wird die fällige Tarifvertragsrevision bei den Buchdruckern durchgeführt und der Vertrag als "Rechtsform" bewahrt. Anstelle von Einigungsamt und Schiedsgerichten tritt die "Tarifrevisions-Commission". Gestrichen wird die Verpflichtung der Vertragsparteien zum Einhalten des Arbeitsfriedens. Zwar müssen die Arbeitervertreter einer Kürzung der Tariflöhne zustimmen, können aber einen mehrmals drohenden Abbruch der Verhandlungen verhindern. An der folgenden Urabstimmung beteiligen sich nur noch 270 Unternehmer und 3.369 Druckarbeiter, ein Zeichen für die gesunkene Bedeutung des Tarifvertrags gegenüber der letzten Abstimmung 1876.

13. August 1878

Ein neuer Entwurf eines Ausnahmegesetzes gegen die Sozialdemokratie wird von der Regierung dem Bundesrat vorgelegt, der ihn annimmt. Darauf wird er am 9. September im Reichstag eingebracht.

16. September 1878

Im Deutschen Reichstag beginnen die Verhandlungen über den vom Bundesrat eingebrachten Entwurf des "Gesetzes gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie". Der Stellvertreter des Reichskanzlers Graf zu Stolberg-Wernigerode bezeichnet es als Aufgabe des Gesetzes, dafür zu sorgen, daß nicht die sozialistische "Agitation unter irgendeinem Schein von Gesetzlichkeit künftig betrieben werden" kann.
A. Bebel wendet sich im Deutschen Reichstag gegen die Annahme des Sozialistengesetzes. Er weist nach, daß es O. v. Bismarck vor allem darum geht, die konsequenteste demokratische Kraft in Deutschland auszuschalten. A. Bebel sagt den Sieg der Sozialdemokratie über das Ausnahmegesetz voraus und erklärt, daß die Partei auch illegal kämpfen werde.

17. September 1878

Nach Beendigung der ersten Lesung des Gesetzes beraten in Hamburg, Fraktion und Parteiausschuß über die nach Inkrafttreten des Gesetzes zu ergreifenden Maßnahmen. A. Geib schlägt die Auflösung der Partei vor, noch bevor das Gesetz in Kraft getreten sei, was nach lebhaften Auseinandersetzungen beschlossen wird.

29. September / 1. Oktober 1878

Die Generalversammlung des "Allgemeinen deutschen Schneidervereins" - die letzte der später aufgrund des Sozialistengesetzes verbotenen gewerkschaftlichen Zentralorganisationen - in Braunschweig ändert das Statut, um es dem bevorstehenden Sozialistengesetz anzupassen.
Neben einer Veränderung der Organisationsstruktur, wird vor allem die Zielsetzung des Vereins neu bestimmt. Bislang war sein "Zweck" die "Wahrung der Ehre und der materiellen Interessen der Mitglieder den Übergriffen des Kapitals gegenüber". Durch die Streichung der Zielrichtung des gewerkschaftlichen Kampfes, "den Übergriffen des Kapitals gegenüber", erhält der "Zweck" des Vereins zwar einen weniger kämpferischen Charakter, umfaßt jedoch noch immer alle wichtigen gewerkschaftlichen Ziele wie Regelung der Arbeitsverhältnisse, Unterstützung streikender, ausgesperrter und gemaßregelter Mitglieder.
Anders als im alten Statut werden nun wichtige Einzelziele im Statut genannt:
Beihilfe in der theoretischen und praktischen Ausbildung;
Errichtung von Fremdenverkehrs- und Arbeitsnachweisstellen;
Unterstützung der reisenden Mitglieder mit Reisegeld;
Unterstützung in Sterbefällen;
Errichtung resp. Förderung einer eingeschriebenen Krankenunterstützungskasse;
Förderung von Produktionsassoziationen.
Die Generalversammlung beschließt auch, daß künftig Politik aus der Zeitung "Fortschritt" fernzuhalten, mehr fachliche Artikel zu bringen und die bislang üblichen "Verwarnungen" beitragsrückständiger Lokalorganisationen wegzulassen sind.
Bereits auf der Generalversammlung 1877 war die formelle Bindung der Zeitung "Fortschritt" zum Verein gelockert worden, indem der Untertitel von "Organ des Allgemeinen Deutschen Schneidervereins" in "Organ der Schneider" geändert worden war.

6. Oktober 1878

In Leipzig wird der "Allgemeine Deutsche Schriftsteller-Verband" (ADSV) gegründet, dessen Zwecke die "energische Vertretung der Interessen des Schriftstellerstandes nach innen und außen auf gesetzlichem Wege und die Veranstaltung eines jährlichen Schriftstellertages" sind.

9. Oktober 1878

Zehn Tage vor Verabschiedung des Sozialistengesetzes erklärt O. von Bismarck im Reichstag, er werde persönlich jede Bestrebung fördern, die "positiv auf die Verbesserung der Lage der Arbeiter gerichtet ist, also auch einen Verein, der sich den Zweck gesetzt, die Lage der Arbeiter zu bessern, den Arbeitern einen höheren Anteil der Erträgnisse der Industrie zu gewähren und die Arbeitszeit möglichst zu verkürzen".

13./14. Oktober 1878

Der zweite Deutsche Arbeiterkongreß in Dresden verläuft ergebnislos. Das Sozialistengesetz verhindert die weitere Entwicklung.

19. Oktober 1878

Der Reichstag nimmt nach langen Debatten mit 221 gegen 149 Stimmen der Sozialdemokraten, des Zentrums und der Fortschrittspartei das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" an.

21. Oktober 1878

Das Ausnahmegesetz wird im "Reichsanzeiger" veröffentlicht und damit rechtskräftig, nachdem der Bundesrat das Gesetz gegen die Stimme von Reuß ä.L. angenommen hat.
Der entscheidende Paragraph 1 des Gesetzes lautet:
"Vereine, welche durch sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische Bestrebungen den Umsturz der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung bezwecken, sind zu verbieten. Dasselbe gilt von Vereinen, in welchen sozialdemokratische, sozialistische oder kommunistische auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise zutage treten. Den Vereinen stehen gleich Verbindungen jeder Art."
Diese Möglichkeit von Vereinsverboten wird dann auf Versammlungen sowie periodische und nichtperiodische Druckschriften ausgedehnt. Bei periodischen Druckschriften kann das "fernere Erscheinen" untersagt werden, sobald nur eine einzelne Nummer aufgrund des Gesetzes verboten wird. Für die betroffenen Vereine bzw. Druckschriften wird zwar eine Beschwerdeinstanz, die "Reichskommission", eingerichtet. Doch ähnlich wie bei den einzelstaatlichen Vereinsgesetzes setzt die Beschwerde das Verbot nicht außer Kraft.
Weiter bietet das Gesetz noch mehrere Möglichkeiten zur Verfolgung. Die weitere Tätigkeit für einen verbotenen Verein oder eine verbotene Zeitung und die Beteiligung an einer verbotenen Versammlung werden mit Strafen bis zu einem Jahr Gefängnis bedroht. Den wegen Übertretungen des Sozialistengesetzes rechtskräftig zu Freiheitsstrafen Verurteilten kann der Aufenthalt an bestimmten Orten verboten werden, falls es sich nicht um ihren Heimatort handelt. Nicht nur diesen, sondern auch "Personen, welche es sich zum Geschäft machen, die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen zu fördern" - so z.B. Gastwirten, Buchdruckern, Buchhändlern - kann die Gewerbefreiheit beschränkt und der Handel mit Druckerzeugnissen untersagt werden.
Schließlich kann noch für "Bezirke und Ortschaften, welche durch die im § 1 Abs. 2 bezeichneten Bestrebungen mit Gefahr für die öffentliche Sicherheit bedroht sind", durch die Zentralbehörden der Bundesstaaten mit Zustimmung des Bundesrates der sog. Kleine Belagerungszustand verhängt werden. Dies kann Beschränkungen der Versammlungsfreiheit, der Verbreitung von Druckschriften sowie des Tragens von Waffen zur Folge haben. Vor allem bietet der "kleine Belagerungszustand" die Möglichkeit, die Repräsentanten der lokalen bzw. regionalen Sozialdemokratie und der Gewerkschaften aus ihrem Wohnort und dessen benachbarten Gebieten auszuweisen. Dies führt bis 1890 zu fast 900 Ausweisungen. Die Dauer des Gesetzes wird zunächst bis zum 31. März 1881 festgesetzt, kann aber verlängert werden.
Sofort nach Inkrafttreten beginnt eine heftige Verfolgung der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften und ihrer Presse. Die Führung der Partei wird auf die Reichstagsfraktion übertragen. O. v. Bismarcks Versuch, den Sozialdemokraten das aktive und passive Wahlrecht zu entziehen, war am Widerstand des Reichstages gescheitert. So bietet der Reichstag während der Dauer des "Sozialistengesetzes" die einzige Möglichkeit, legal sozialdemokratische Auffassungen zu vertreten.
In den kommenden 12 Jahren bildet das Sozialistengesetz nicht die einzige Rechtsgrundlage behördlich-polizeilicher und richterlicher Maßnahmen. Auch das Verbot des Koalitionszwanges und die engen Bestimmungen des Vereinsrechtes werden von den Behörden häufig gegen die Arbeiterbewegung angewendet.
Die Verfolgung der Arbeiterbewegung zeigt sich in den folgenden Jahren auch in der Anzahl der Streiks. Für die Zeit bis 1882 lassen sich kaum ein paar Dutzend Streiks pro Jahr nachweisen. Mehr werden es mit dem kurzen wirtschaftlichen Aufschwung 1885. Erst 1888 setzt wieder eine starke Streikbewegung ein.

Das Zentralwahlkomitee der SPD erläßt einen Aufruf: "An die Parteigenossen", den der "Vorwärts" veröffentlicht und indem es u.a. heißt: "Nicht gewillt, erst die polizeiliche Auslegung des Wortes 'Umsturz' abzuwarten, da der alte Begriff Umsturz hinreichend 'untergraben' ist, um jede Auslegung desselben zu ermöglichen, haben wir beschlossen, das Zentralwahlkomitee selbst aufzulösen. Mit dem heutigen Tage erfolgt dessen Abmeldung bei der Behörde und ist folglich der Rest einer centralistischen Parteiorganisation in Deutschland verschwunden... Einig in der Taktik auch zur Zeit der Bedrängnis, das ist Gewähr für eine bessere Zukunft!"

23. Oktober 1878

Als erste Gewerkschaften werden der "Deutsche Tabakarbeiterverein", seine Zentralkrankenkasse sowie der "Verband deutscher Schmiede" verboten. Bis zum 31. Dezember erleiden u.a. noch folgende Gewerkschaften und Zeitschriften das gleiche Schicksal:
Bund der Glasarbeiter (25.10.),
Verein für Sattler (25.10.),
Deutscher Stellmacherverein (25.10.),
Metallarbeitergewerksgenossenschaft und Klempnerverband (26.10.),
Bund der Tischler (28.10.),
Deutsches Zimmerergewerk (28.10.),
Ortsverein des Buchdruckerverbandes in Darmstadt + 3 weitere Gewerkschaftsmitgliedschaften (28.10.),
Allgemeiner deutscher Schneiderverein + die Zeitung "Der Fortschritt" (29.10.),
Fachverein der Berliner Knopfarbeiter (30.10.),
Verein der Vorrichter und Stepper Berlins (30.10.),
die Zeitung "Das Panier" (31.10.),
Gewerkschaft der Schuhmacher (4.11.),
die Zeitung "Der Wecker" (4.11.),
Verband der deutschen Maler (6.11.),
die Zeitung "Der Pionier" (9.11.),
Gewerkverein der deutschen Gold- und Silberarbeiter (Gmünd) (16.11.),
Allgemeiner deutscher Töpferverein (30.11),
Gewerkschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter, Crimmitschau + Zentralkranken- und Sterbekasse (e.H.) verbunden mit der Gewerkschaft (10.12.),
Verband der Buchbinder (18.12.),
Zentralkranken- und Sterbekasse der Gewerkschaften der Schuhmacher (28.12.).

Einige Verbände lösen sich selbst auf, um einem Verbot zuvorzukommen; so z.B. die Verbände der Maurer, der Tapezierer und der Böttcher. Verschont bleiben die Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine, der "Senefelder-Bund", der Verband der Lithographen und Steindrucker, der Schiffszimmererverband, der "Deutsche Xylographenverband", der "Deutsche Weißgerberverband", der "Verband Sächsischer Berg- und Hüttenarbeiter" sowie deren Zeitungen. Diese Verbände hatten sich schon vorher zur parteipolitischen Neutralität bekannt oder tun es jetzt und verzichten auf gewerkschaftliche Ziele und Aktionsformen, um ihre Organisationen zu sichern.

28. Oktober 1878

Das Verbot der beiden in Hamburg ansässigen Gewerkschaften, des Tischlerbundes und des Zimmerergewerks gilt nicht für die "Zentralkranken- und Sterbekasse des Bundes der Tischler", die sich auf der Generalversammlung der Tischler im Juni 1878 organisatorisch von der Gewerkschaft getrennt hatte.
Die Tischlerkrankenkasse entwickelt sich bald zur größten deutschen Hilfskasse. Ende 1883 hat sie 24.200 Mitglieder.
Da, wo die Zentralkrankenkassen ebenfalls verboten werden, bemühen sich die Mitglieder, lokale Kassen aufzubauen, z.B. bei den Schuhmachern.
Diese und eine Reihe anderer Krankenkassen von Gewerkschaften, die dem Verbot entgehen, wie z.B. die der Buchbinder und der Hutmacher, bilden für die folgende Zeit das organisatorische Band innerhalb der jeweiligen Branchen, in dem der Gewerkschaftsgedanke aufrecht erhalten wird. Insgesamt bietet aber die Gewerkschaftsbewegung der Jahre 1878-1880 das Bild völliger "Kirchhofsruhe".
In einigen Berufszweigen gelingt es allerdings bald, neue Zeitungen herauszugeben, die ihre Existenz nur als reine Fachblätter sichern können, so z.B. die Schneider mit der "Neuen Schneiderzeitung" und die Schuhmacher mit der Zeitung "Der Schuhmacher", die ab Ende November 1878 erscheint. "Der Schuhmacher" betont, daß er nur der fachlichen Bildung der Schuhmacher dienen wolle und keine "politischen" und "Tagesfragen" behandeln werde. Zwar werden in diesen Zeitungen hauptsächlich rein gewerbliche Fragen behandelt, wie z.B. technische Vorgänge oder fachgewerbliche Bildungsfragen, doch bald berichten sie auch über Arbeitsverhältnisse und Lebenslagen und Forderungen zur Verbesserung dieser Situationen.
Neben den Unterstützungskasse, sind es die neuen Zeitungen, die organisatorische Verbindungen nicht verschwinden lassen.

November 1878

Eine Zusammenstellung der bis zu diesem Zeitpunkt auf Grund des Sozialistengesetzes erlassenen Verbote ergibt: 153 Vereine, 40 periodische und 213 nicht-periodische Druckschriften. Davon fallen allein auf Preußen 44 Vereine, 15 periodische und 91 nicht-periodische Druckschriften, auf Bayern 4 Vereine, 2 periodische, 15 nicht-periodische Druckschriften; auf Sachsen 39 Vereine, 13 periodische, 15 nicht-periodische Druckschriften; auf Hessen 33 Vereine.

20. November 1878

Nach dem Verbot von "Der Wecker" gibt W. Bock als Fachzeitung "Der Schuhmacher" heraus.

29. November 1878

Die Berliner Polizei weist auf Grund des am 28. November über Berlin verhängten Belagerungszustandes 67 Sozialdemokraten aus. In einem Aufruf mahnen sie ihre Parteigenossen: "Keine Gewalttätigkeiten, achtet die Gesetze, verteidigt aber innerhalb des Rahmens derselben Eure Rechte! Laßt Euch nicht provozieren!"

1. Dezember 1878

Der "Deutsche Buchdruckerverband" wird vom Vorstand aufgelöst und in den "Unterstützungsverein deutscher Buchdruckergehilfen" mit dem Sitz in Leipzig - ab Frühjahr 1879 in Stuttgart - umgewandelt. Die Verbandszeitung "Correspondent für Deutschlands Buchdrucker und Schriftgießer" kann weiter erscheinen.
Damit gelingt es, die Gesamtorganisation der deutschen Buchdrucker - trotz einiger internen Auseinandersetzungen in den folgenden Jahren - über die Dauer des Sozialistengesetzes zu bewahren.

28. Dezember 1878

Papst Leo XIII. empfiehlt in seiner Enzyklika "Quod Apostolici muneris" die Handwerker- und Arbeitervereine zu fördern, die "unter dem Schutze der Religion alle ihre Mitglieder zufrieden mit ihrem Lose und geduldig in der Arbeit machen und zu einem ruhigen und friedsamen Leben anleiten."

Ende 1878

Die Mitgliederzahl der H.-D.-Gewerkvereine ist auf 16.525 in 14 Gewerkvereinen und 12 Ortsvereinen mit zusammen 385 Vereinen, zurückgegangen.

1879

A. Bebels "Die Frau und der Sozialismus" erscheint wegen des Sozialistengesetzes in der Schweiz. Es übt großen Einfluß auf die Arbeiterbewegung aus. Im Vorwort schreibt A. Bebel: "Eine volle und ganze Lösung der Frauenfrage - worunter ich verstehe, daß die Frau dem Manne gegenüber nicht nur von Gesetzes wegen gleichsteht, sondern auch ökonomisch frei und unabhängig von ihm und in geistiger Ausbildung ihm möglichst ebenbürtig sei - ist unter den gegenwärtigen gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen ebenso unmöglich wie die Lösung der Arbeiterfrage."

11. Januar 1879

Mit der in Leipzig erscheinenden Zeitung "Der Wanderer" versucht F. W. Fritzsche, den überregionalen Zusammenhalt der Tabakarbeiter aufrechtzuerhalten.
Am 21. August 1879 wird das weitere Erscheinen verboten. Bald darauf erscheint dann in Leipzig "Der Gewerkschafter", Wochenschrift für Handwerker, Gesellen, Gehilfen und andere Arbeiter. Obwohl F. W. Fritzsche sich bemüht, mit beiden Zeitungen ein gesamtgewerkschaftliches Mandat zu beanspruchen, bleiben sie weitgehend auf die Tabakarbeiter beschränkt.
Die Zeitung steht 1886 mit einer Auflage von 8.800 Exemplaren an der Spitze der gewerkschaftlichen Fachblätter.

12. Juli 1879

Der Reichstag beschließt mit Mehrheit die Einführung von Schutzzöllen. Das führt zur Verteuerung der Getreideeinfuhren und damit zum Anstieg der Lebenshaltungskosten und bis 1881/82 auch zum Sinken der Reallöhne.

September 1879

Auf seiner ersten Generalversammlung des "Unterstützungsvereins der deutschen Buchdrucker" in Hannover wird ein Statut beschlossen, das nicht nur Unterstützungsaufgaben, sondern auch wieder gewerkschaftliche Forderungen aufnimmt. So heißt es im § 1:
"Der 'Unterstützungsverein Deutscher Buchdrucker' hat zum Zweck die allseitige Vertretung der Interessen der Angehörigen des Buchdruckergewerbes. Zur Erreichung dieses Zweckes dienen insbesondere: a) Die Unterstützung für Arbeitslose, Kranke und Arbeitsunfähige (Invaliden); b) Erzielung möglichst günstiger Arbeitsbedingungen auf gesetzlichem Wege; c) Strenge Aufrechterhaltung der mit den Prinzipalen getroffenen Vereinbarungen in Bezug auf Arbeitspreise und Arbeitszeit."
Von 1871 bis 1878 lautete die Zielsetzung der Buchdrucker in ihrem Statut noch:
"Der Verband erstrebt die materielle Besserstellung und geistige Hebung seiner Mitglieder sowie der Buchdrucker und Schriftgießer überhaupt.
Der Gesetzgebung des Verbandes unterliegen bis auf Weiteres:
a) Arbeitspreise;
b) Arbeitszeit, besonders Sonntagsarbeit;
c) Lehrlingswesen;
d) Unterstützungskassenwesen durch Aufstellung von Normativbestimmungen und Gründung neuer Kassen;
e) Produktivgenossenschaften;
f) statistische Erhebung über Höhe der Löhne, Arbeitszeit, Lebensmittelpreise, Kassenwesen u. dgl.;
g) Vertretung der deutschen Buchdrucker und Schriftgießer in außerdeutschen Ländern."
Sitz des Vereins ist nun Stuttgart.

28. September 1879

Die erste Probenummer des "Sozialdemokrat" - Internationales Organ der Sozialdemokratie deutscher Zunge - erscheint in Zürich, wo zu dieser Zeit sehr viele Sozialdemokraten wohnen. Während des Sozialistengesetzes wird der "Sozialdemokrat", der einmal wöchentlich erscheint, in immer größerer Auflage - Anfang 1879 ca. 3.600, Mitte der achtziger Jahre 12.000 Exemplare - nach Deutschland geschmuggelt und geschickt, in den letzten Jahren sogar zum Teil in Deutschland gedruckt, ohne daß es der Polizei trotz größter Anstrengung gelingt, die Verteilung des Blattes zu verhindern. Der "Sozialdemokrat" ist auch ein wichtiges Organ für gewerkschaftliche Informationen während des Sozialistengesetzes.

September / Oktober 1879

In Leipzig wird ein "Fachverein der Schuhmacher" gegründet. Im Musterstatut heißt es: "Der Verein bezweckt, durch Erteilung von theoretischem und praktischem Unterricht in der Schuhmacherei, durch Zeichenunterricht, Rechnen und Buchführen, sowie durch lehrreiche und gesellige Unterhaltung das geistige und leibliche Wohlergehen seiner Mitglieder zu fördern." Der Fachunterricht ist also der Hauptzweck des Fachvereins, doch unter der Förderung des "leiblichen Wohlergehens" sind auch andere Zweckbestimmungen versteckt, die aus vereinsrechtlichen Gründen nicht ausdrücklich genannt werden. Ende 1882 bestehen an etwa 30 Orten wieder Fachvereine.

12./17. Oktober 1879

Der sechste Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen-Gewerkvereine in Nürnberg lehnt den vom Freiherrn von Stumm im Reichstage eingebrachten Antrag auf Einführung einer obligatorischer Alters- und Invalidenversicherung wegen der Beschränkung der persönlichen Freiheit grundsätzlich ab. Denn: "In Erwägung, daß die von konservativer Seite geplante Einführung obligatorischer Altersversorgungs- und Invalidenkassen für Fabrikarbeiter die verfassungsgemäße Gleichberechtigung aller Staatsbürger durch ausschließliche Mehrbelastung einer einzelnen Klasse aufs schwerste verletzt wird; daß wirtschaftlich diese Mehrbelastung den größten Teil der Fabrik-Industrie und insbesondere deren Arbeiterbevölkerung geradezu erdrücken würde; daß der Pensionskassenzwang für Fabrikarbeiter nirgends in der Welt besteht und, während die als Muster hingestellten Knappschaftskassen höchst mangelhaft sind, dagegen auch in Deutschland die freien Altersversorgungs- und Invalidenkassen, insbesondere der deutschen Gewerkvereine, sich bewährt haben; daß endlich die Ausführbarkeit des Zwangsprojektes vom wirtschaftlichen und sachverständigen Standpunkte mindestens höchst zweifelhaft und eine noch größere Verbitterung der Arbeiter gegen die bestehende Gesellschaft sicher ist." Die Delegierten sprechen sich auch ganz entschieden gegen alle auf Wiedereinführung des alten Zunft- und Innungswesens gerichteten Bestrebungen aus.
Beschlossen wird die Einführung einer Arbeitsstatistik und eines Arbeitsnachweises, sowie einer Beitragsversicherungs- und Arbeitslosen-Unterstützungskasse. Bei den Verhandlungen wird die Beteiligung an dem antisozialdemokratischen deutschen Arbeiterkongreß von verschiedenen Seiten lebhaft getadelt. Doch der Austritt wird verworfen. Die zeitweilig drohende Gefahr, vom Sozialistengesetz betroffen zu werden, ist "nicht wenig den entschieden liberalen Reichstags-Abgeordneten zu verdanken, die für die Gewerkvereine eintraten", heißt es im Protokoll.

21. Oktober 1879

Im ersten Jahr des Sozialistengesetzes werden 244 Vereine, 184 periodische und 307 nicht-periodische Zeitungen und Zeitschriften verboten. Zu den verbotenen Organisationen gehören auch zwei zentrale und 14 örtliche gewerkschaftliche Unterstützungsvereine.


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