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TEILDOKUMENT:
1872 / 1874 In diesen Jahren werden eine Reihe von Berufsgewerkschaften gegründet, so z.B. von Sattlern, Schuhmachern, Schreinern, Holzarbeitern, Maurern, Formern, Stellmachern, Schiffszimmerern, Töpfern, Zimmerern, Buchbindern, Lithographen und Steindruckern sowie von Tabakarbeitern und auf einem Kongreß der Metallarbeiter Anfang April 1874 der "Allgemeine Deutsche Metallarbeiterverband".
In diesen Jahren werden in einzelnen Berufszweige lokale Tarifverträge vereinbart:
Der "Deutsche Gärtnerverband" wird gegründet. Er dient der Fachbildung und der Geselligkeit. In diesem Verband sind Arbeitgeber und Gehilfen organisiert. Gustav Schmoller erklärt, "daß man unter allen Umständen den Gewerkvereinen ihre Sterbe- und Krankenkassen, ihre Invalidenkassen lassen muß. Ohne diese Kassen fehlt den Gewerkvereinen die wichtigste äußere Funktion und Tätigkeit, ohne diese Kassen werden sie bloß Streikvereine, die Händel suchen, nur um etwas zu tun zu haben". 4. April 1872 Reichskanzler O. von Bismarck wendet sich in einem Schreiben an Kaiser Wilhelm I. Seine Absicht ist, dem Kaiser hinsichtlich der "sogenannten Internationalen als einer augenblicklich die ... ganze civilisierte Welt durchziehenden Krankheit", Mittel und Wege vorzuschlagen, die allein zur Überwindung der Auswirkungen dieser Krankheit erfolgversprechend genutzt werden könnten. Nach Darlegung der "Ursache" dieser Krankheit, "... daß die besitzlosen Massen in dem Maß als ihr Selbstgefühl und ihre Ansprüche am Lebensgenuß allmählich steigen, sich auf Kosten der Besitzenden Klassen die Mittel zur Befriedigung dieser Ansprüche zu verschaffen streben...", entwirft Bismarck ein Grundsatzprogramm, von dem er die Wirkung eines "Heilungsprozesses" erwartet. Statt in der Anwendung "repressiver Mittel" sieht er in einem "... sehr langsamen Werk teils der fortschreitenden Bildung und Erfahrung, teils einer Reihe, die verschiedensten Gebiete des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens berührender legislativer und administrativer Maßregeln" die Möglichkeit, "...die Hindernisse tunlichst zu beseitigen, die der Erwerbsfähigkeit der besitzlosen Klassen im Wege stehen". Darüber hinaus hält er Präventivmaßnahmen der Regierung für erforderlich, um "... die Gesellschaft gegen den Versuch eines gewaltsamen Angriffs auf den Bestand des Besitzes zu schützen...". April/Mai 1872 Die Streikbewegung gegen die ständige Erhöhung der Lebenshaltungskosten, für höhere Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit erreicht ihren Höhepunkt. Von den über 250 Streiks im Jahre 1872 beginnen etwa 85 im April und Mai, u.a. der vierwöchige Ausstand der 1.300 Schneider in Hamburg und Altona am 12. April, der Streik der 2.000 Hamburger Tischler am 16. April und der 6.000 Berliner Tischler am 28. April, der zehnwöchige Ausstand der rund 8.000 Berliner Maurer und Zimmerer am 20. April. Die Hamburger Former stehen ab 13. April im Ausstand, sie erreichen die Anerkennung ihrer Forderungen erst nach 19wöchigen erbittertem Kampf.
Mai 1872 Der Anfang Februar 1872 in Berlin gegründete "Verein der Maschinenfabrikanten, Eisengießereien- und Hüttenwerksbesitzer sowie verwandter Industrieller" empfiehlt seinen Mitgliedern als Kampfmittel gegen Streikende gekennzeichnete Abgangszeugnisse und schwarze Listen.
18./25. Mai 1872 Eine Generalversammlung der Tabakarbeiter in Hannover beschließt, daß nur Mitglieder bei Streiks unterstützt werden sollen. Prinzipiell erklärt sich die Generalversammlung gegen Streiks für Lohnerhöhungen, da sie nicht imstande seien, die Lage der Arbeiter durchgreifend und auf die Dauer zu verbessern. Die Gewerkschaft nennt sich nun "Deutscher Tabakarbeiterverein". 19./21. Mai 1872 In Berlin findet der zweite Webertag statt, auf dem u.a. auch der "Allgemeine Deutsche Weber- und Manufakturarbeiterbund" gegründet wird, der alle bestehenden und noch zu gründenden Vereine, Innungen und Mitgliedschaften aufnehmen will, welche in das Fach der Manufakturarbeiter einschlagen. Auch die Weberinnen sollen in den Verband aufgenommen werden. Der Bund, dem sich auch die "Gewerksgenossenschaft der Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeiter" anschließt, besteht nur bis 1873.
19./24. Mai 1872 In Hamburg wird der "Allgemeine deutsche Formerbund" gegründet, der zunächst zum ADAV tendiert. 22./25. Mai 1872 Die Generalversammlung des ADAV in Berlin ist der Auffassung, alle innerhalb des Vereins bestehenden Gewerkschaften so bald wie möglich aufzulösen und die Mitglieder dem ADAV zuzuführen: "Eine weitere Ausdehnung der Streikkassen ist als eine Störung der Zentralisation der Arbeiter nicht praktisch." 27. Mai 1872 In Kassel wird der "Verein der deutschen Zigarren- und Tabakfabrikanten" gegründet. Er schreibt die Führung schwarzer Listen vor. Daneben versucht er die Arbeiter zu gewinnen, indem er solchen Arbeitern, die längere Zeit in einer Fabrik gearbeitet haben, falls sie versehen sind "mit dem Zeugnis der Unbescholtenheit und durch Alter und Krankheit arbeitsunfähig werden", eine Unterstützung in Aussicht stellt, soweit es die Vereinsmittel erlauben. Der Verein der Fabrikanten in der Porzellan-, Ton- und Steingutindustrie ruft direkt "gelbe Vereine" ins Leben. Er zwingt die Arbeiter zur Bildung von Lokalvereinen und Lokalkassen mit Beteiligung der Fabrikanten. Die Arbeitgeber des Baugewerbes schlagen im Mai 1872 vor, ein Streikpostenverbot zu erlassen, um "den freien Willen des einzelnen vor der Tyrannei, Diktatur, Gewalttätigkeit der Masse zu schützen". 27./28. Mai 1872 Auf der Generalversammlung des Allgemeinen Arbeiterunterstützungsverbandes in Berlin vertreten 18 Delegierte rund 8.300 Mitglieder. Die Delegierten - obwohl weitgehend auch auf der Generalversammlung des ADAV anwesend - lassen den Auflösungsbeschluß unbeachtet.
2. Juni / 28. Juli 1872 Bergarbeiter im Ruhrgebiet fordern eine 25%ige Lohnerhöhung als Anteil an den enormen Gewinnen der Grubenbesitzer und die 8-Stunden-Schicht.
8. Juni 1872 In einem Artikel im "Volksstaat" führt A. Bebel das Daniederliegen der deutschen Gewerkschaften auf den Parteistreit zurück, der noch nicht einmal ein Streit um Grundsätze, sondern um Formeln und Worte sei. A. Bebel hofft, daß dieser Streit durch die Gewerkschaften beseitigt werde. "In den Gewerksgenossenschaften liegt das Mittel, die jetzt bestehende Spaltung unter den Arbeitern zu beseitigen. Sind die Arbeiter erst von der Notwendigkeit der Gewerksgenossenschaftsorganisationen überzeugt, so werden sie auch schnell einsehen, daß dann die politische Verhetzung nicht mehr fortdauern darf; das Bedürfnis nach Einigung und Verständigung wird rasch wachsen. In der Gewerksgenossenschaft beruht die Zukunft der Arbeiterklasse; sie ist es, in der die Massen zum Klassenbewußtsein kommen, den Kampf mit der Kapitalmacht führen lernen, und welche so naturgemäß die Arbeiter ohne äußeres Zutun zu Sozialisten macht".
15./17. Juni 1872 In Erfurt findet ein von Mitgliedern der "Eisenacher Partei" unter besonderer Aktivität von Th. Yorck organisierter Gewerkschaftskongreß statt, an dem 52 Delegierte teilnehmen. Sie vertreten rund 11.000 Gewerkschaftsmitglieder. Mehr als die Hälfte der auf dem Kongreß vertretenen Mitglieder der Internationalen Gewerksgenossenschaften lebt in Sachsen. Ein weiterer regionaler Schwerpunkt der Gewerkschaftsbewegung ist Süddeutschland, vor allem mit lokalen Fachvereinen.
30. Juni 1872 In Berlin wird der "Allgemeine Deutsche Sattlerverein" gegründet und Ignaz Auer zum Vorsitzenden gewählt. Der Sattlerverband schließt sich keiner der beiden politischen Richtungen an und wählt deshalb sowohl den "Volksstaat" wie den "Neuen Social-Demokraten" zu seinen Publikationsorganen. 2. August 1872 Der "Allgemeine Weißgerberverband Deutschlands" wird in Berlin gegründet. 11. September 1872 In Mainz findet eine Konferenz der unter dem Einfluß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei stehenden Gewerkschaften statt. Th. Yorck berichtet, daß die Konstituierung der vom Erfurter Gewerkschaftskongreß im Juni beschlossenen Gewerkschaftsunion durch Polizeischikanen verhindert wurde. Die Konferenz beauftragt Th. Yorck, in Hamburg ein provisorisches Komitee zu bilden, das die Verbindung der Gewerkschaften zur gegenseitigen Unterstützung organisieren soll. Doch auch dieses Komitee kommt nicht zustande. Nach dem Ruhrbergarbeiterstreik werden die Behörden durch einen Ministerialerlaß darauf hingewiesen, bei Streiks auf den Schutz der Arbeitswilligen zu achten und "Exzesse, wie sie bei Arbeitseinstellungen in der Regel vorzukommen pflegen", strafrechtlich zu verfolgen. 12. September 1872 In Berlin wird der "Allgemeine Deutsche Musiker-Verband" gegründet. Der Verband erstrebt die "Hebung und Sicherung der materiellen Lage" sowie der gesellschaftlichen Stellung des Musikerstandes durch Förderung und Pflege der geistigen Interessen seiner Mitglieder und des öffentlichen Musiklebens. 15./16. September 1872 Auf ihrer Generalversammlung in Erlangen verlangen die Handschuhmacher, daß pro Handschuhmacher nur jeweils ein Lehrling arbeiten darf. 6./10. Oktober 1872 Der "Allgemeine Tischlerverein" wird gegründet. Der Verein steht zunächst dem ADAV nahe. 7./8. Oktober 1872 Die "Kathedersozialisten" sprechen sich auf einer Tagung in Eisenach für die Koalitionsfreiheit und die Einrichtung von Einigungsämtern und Schiedsgerichten aus.
November 1872 Auf einer geheimen Konferenz österreichischer und preußischer Ministerialbeamter sind sich diese darin einig, daß Einigungsämter nur dann "segensreich wirken würden, wenn sie aus der freien Initiative der Interessenten hervorgingen. Die Gesetzgebung könne später nachhelfen". 12. November 1872 Die "Dresdner Bank" wird gegründet. 17./20. November 1872 In Berlin wird der "Allgemeine Schuhmacherverein" gegründet, der dem ADAV nahesteht, sich aber nicht dem Arbeiterunterstützungsverband anschließt. Der Vorstand wird beauftragt, für alle Provinzen einen Musterlohntarif auszuarbeiten. Am 25. August 1874 wird der Verein "gerichtlich geschlossen". 23./26. November 1872 Der Kongreß des "Deutschen Tabakarbeitervereins" in Leipzig beschließt, daß die Vereinigung aller sozialdemokratischen Arbeiter in einer starken politischen Organisation die Grundbedingung der Einigung in den Gewerkschaften sei. Dezember 1872 Der "Verein der deutschen Steinmetzen" wird gegründet. Er tendiert zur Sozialistischen Arbeiterpartei. 8. Dezember 1872 Der "Allgemeine deutsche Schiffszimmererverein" wird gegründet.
Aus der "Vierteljahresschrift für öffentliche Gesundheitspflege" entsteht der "Deutsche Verein für öffentliche Gesundheitspflege", dessen nachhaltige Wirksamkeit in zunehmendem Maße auch von der Arbeiterbewegung anerkannt wird. Die Tätigkeit des Vereins umfaßt Städte- und Wohnungsbau ebenso wie Arbeitsplatzsicherung, Kindermedizin, Bekämpfung der Ursachen von Seuchen, Alkoholismus, Prostitution, statistisch-wissenschaftliche Erhebungen und legislativ-administrative Anregungen in den unterschiedlichsten Bereichen. In einer vom Deutschen Handelstag veranstalteten Enquete über die Arbeitseinstellungen in Deutschland klagen die Unternehmer über die in Folge der zahlreichen Streiks "immer mehr zunehmende Demoralisation des Arbeiterstandes", die eine "Steigerung und Vergiftung des Klassenzwiespaltes" bewirken müsse. In dem Entwurf eines politischen Programms "Die Katholiken im Deutschen Reich" fordert Bischof W. E. v. Ketteler u.a.: Verbot der Arbeit für Kinder unter 14 Jahren sowie der verheirateten Frauen, der Sonntagsarbeit, einen Normalarbeitstag von 10 oder höchstens 11 Stunden und eine Fabrikaufsicht. 8./11. Januar 1873 In Hamburg wird der "Verband der Schiffszimmerer" gegründet. Verbandsorgane werden der "Volksstaat" und der "Neue Social-Demokrat".
13./17. Januar 1873 In Leipzig tagt zum ersten Mal eine "Delegierten-Tarifkonfernz" der Buchdrucker. Sie entwickelt den Vorentwurf eines für das gesamte deutsche Staatsgebiet geltenden Tarifvertrags. 28. Februar 1873 Die Berliner Arbeiterfrauen Berta Hahn, Pauline Staegmann und Johanna Schackow gründen den "Berliner Arbeiterfrauen- und Mädchenverein". Sie erklären, daß die Lage des weiblichen Geschlechts nur durch eine vollständige soziale Umwälzung der heutigen Gesellschaft verbessert werden könne. 13./15. April 1873 Vertreter von fünfzehn Buchbindervereinen gründen in Nürnberg den "Verband der Buchbinder und verwandter Geschäftszweige" als Dachorganisation. Die Konferenz beschließt die Herausgabe einer Verbandszeitung. Die Schaffung einer Reiseunterstützungs- und einer Invalidenkasse soll geklärt werden.
16./21. April 1873 Der 2. Verbandstag der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine in Berlin behandelt die Stellung der Gewerkvereine zur Politik.
Mai 1873 Im "Volksstaat" erscheinen mehrere nicht gezeichnete Artikel "Praktische Emanzipationswinke", die sich mit der Zweckmäßigkeit der Gewerkschaften beschäftigen. Diese Artikel wollen beweisen, daß es ein verhängnisvoller Irrtum sei, die Gewerkschaften der rein politischen Bewegung direkt unterzuordnen. Klar sei allerdings, daß es die politische Bewegung sei, durch die sich die Arbeiter die volle Gleichberechtigung und die Abschaffung der Klassenherrschaft zu erkämpfen habe. Aber klar sei auch, daß die Befreiung des Arbeiterstandes nicht das Werk eines Jahrzehnts sein könne. Es nutze nichts, die Massen auf die soziale Revolution zu vertrösten. Der Trieb des Arbeiterstandes nach Befreiung sei tatsächlich vorhanden und er betätige sich auch. Sei es in politischer Agitation oder in gewerkschaftlicher Tätigkeit, immer gehe das Bestreben darauf hinaus, sich Unabhängigkeit zu erkämpfen. Es sei aber stets so gewesen, daß sich die Unterdrückten zunächst gegen die drückendsten Fesseln gewehrt hätten, und darum sei es verständlich, daß sich der Arbeiter zunächst bemühe, widerliche Fabrikordnungen zu beseitigen, kurze Arbeitszeit, geregelte Löhne und dergleichen zu erkämpfen. Das sei die Vorschule des Proletariats, die es an Erfahrungen bereichere, von Irrwegen ablenke und die festen Positionspunkte schaffe, von denen aus die Arbeiter endlich die wirkliche Ursache ihrer Knechtschaft erkennen und an ihrer Beseitigung arbeiten könnten. Es müsse sich nun darum handeln, dieser Erkenntnis Vorschub zu leisten, damit die Arbeiter den Kampf mit dem Bewußtsein führen lernten, daß es gelte, die Ursachen des wirtschaftlichen Kampfes zu beseitigen. Da zeige sich nun, daß die gewerkschaftlichen Bestrebungen den Gedanken an die Emanzipation der Arbeiterklasse zum Reifen bringe, und deshalb müßten diese sich natürlicherweise bildenden Organisationen den rein politischen gleichgestellt werden.
5. Mai 1873 Nach zahlreichen Streiks und der Aussperrung aller Gewerkschaftsmitglieder, an der sich jedoch nicht alle Buchdruckereibesitzer beteiligen, beginnen am 1. Mai gemeinsame Beratungen über einen gesamtdeutschen Tarifvertrag. Nach vier Tagen wird einstimmig ein Reichstarifvertrag angenommen, der als wesentlichen Erfolg für die Gehilfen neben der Festsetzung einer ohne Pausen neuneinhalbstündigen Arbeitszeit, die Einführung der Alphabetberechnung und eine differenzierte Berechnung der Akkordarbeit enthält und der bis 8. Mai 1876 in "unanfechtbarer Gültigkeit" in Kraft bleiben soll. Der erste gesamtdeutsche Tarifvertrag überhaupt tritt am 9. Mai in Kraft. Eine der wichtigsten Abmachungen, die in dem nachträglich angegliederten "Tarifanhang" getroffen werden, ist die Verpflichtung beider Parteien zur Wahrung des Arbeitsfriedens während der Laufzeit des Tarifvertrags. "So lange der Tarif besteht, verpflichten sich Principale wie Gehülfen, nicht durch Strike, resp. Aussperrung eine Änderung des Tarifs zu erzwingen, vielmehr alle Differenzen über Handhabung und Auslegung desselben durch Schiedsgerichte, resp. durch das Einigungsamt entscheiden zu lassen, deren Ansprüchen unweigerlich Folge zu leisten ist." Dieser Tarifabschluß ist zweifellos nicht durch eine generelle Verhandlungsbereitschaft der Prinzipale zustandegekommen, sondern durch den Druck einer gut organisierten Gehilfenschaft unter besonderen, für die Arbeiterseite äußerst günstigen Arbeitsmarktbedingungen erzwungen worden.
9. Mai 1873 Mit Kursstürzen an der Wiener Börse beginnt eine schwere Wirtschaftskrise, die ihren Tiefpunkt 1878/1879 erreicht und sich mit kurzen Unterbrechungen - 1879-1882 und 1887-1890 - bis 1894 hinzieht. Die Krise führt in den meisten Industriezweigen zu einem erheblichen Rückgang bzw. einer längeren Stagnation der Produktion und der Investitionen. Unter dem Druck großer Arbeitslosigkeit müssen die Arbeiter und Arbeiterinnen starke Lohneinbußen und Arbeitszeitverlängerungen hinnehmen. Arbeitslosigkeit bedeutet rasch Existenznot, da es noch kaum Ansätze einer Erwerbslosenversicherung gibt. Die Hauptlast wird von der Armenfürsorge der Gemeinden und Städte getragen.
18./24. Mai 1873 Die Generalversammlung des ADAV in Berlin erkennt Streiks nun als berechtigte, wenn auch unzureichende Akte der Notwehr der Arbeiterklasse innerhalb des heutigen Gesellschaftszustandes an. Die endgültige Befreiung der Arbeit vom Druck des Kapitals könne aber nur durch den Sozialismus, also durch die politische Agitation und die feste Organisation des ADAV erreicht werden. 25. Mai 1873 Die Generalversammlung des "Allgemeinen Arbeiter-Unterstützungsverbandes" in Frankfurt a. Main erklärt:
Juni 1873 Wilhelm Bock wird Vorsitzender der bisherigen Gewerksgenossenschaft der Schuhmacher, sie nennt sich nun "Internationale Gewerkschaft der Schuhmacher". Der "Deutsche Zimmererbund" wird gegründet, der sich dem Arbeiterunterstützungsverband anschließt. In einem Streikreglement wird festgelegt, daß Streikunterstützung nur an Mitglieder gezahlt werden darf, daß jeder Streik zuvor durch den Ausschuß genehmigt sein muß und daß der Ausschuß die aufgestellten Forderungen zu prüfen und nur soweit zu genehmigen habe, als sie "den Verhältnissen entsprechen und vernünftig begründet sind". Der Bund wird bereits im September 1874 wieder verboten. Der Sitz der Schuhmachergewerkschaft wird nach Gotha verlegt, Wilhelm Bock wird Vorsitzender. Er warnt vor dem "grassierenden Streikfieber" der Schuhmacher. Die Gewerkschaft nennt sich nun "Gewerkschaft der Schuhmacher". 1./3. Juni 1873 In Berlin wird der "Allgemeine Böttcher- (Küfer-) Verein gegründet. Publikationsorgane werden der "Volksstaat" und der "Neue Sozialdemokrat". Der Kongreß beschließt: "Die Mitglieder dürfen sich in den Vereinsorganen nicht gegenseitig befehden, auch sind die Vereinsorgane gehalten, keine derartigen Anfeindungen aufzunehmen." 4./6. Juni 1873 Der "Allgemeine deutsche Maurerverein" nennt sich auf dem ersten Maurer- und Steinhauerkongreß in Berlin nun "Allgemeiner deutscher Maurer- und Steinhauerverein". Mit rund 10.000 Mitgliedern in 38 Orten gehört der Verein zu den größten Gewerkschaften in dieser Zeit
13. Juni 1873 Der Bergbauverein richtet eine Eingabe an den Reichstag, worin die Absicherung zivilrechtlicher Ansprüche gegen kontraktbrüchige Arbeiter, eine Strafbestimmung in der Gewerbeordnung gegen den Kontraktbruch und eine Verschärfung der Strafen gegen den Koalitionszwang verlangt wird. 9. Juli 1873 Das Münzgesetz für das Deutsche Reich wird erlassen. Es führt die Goldwährung ein und schafft ein einheitliches Münzsystem. August 1873 Auf der Generalversammlung in Offenbach ändert der Sattlerverein seinen Namen in "Verein der Sattler und verw. Berufsgenossen".
16./18. August 1873 Auf dem ersten Töpferkongreß in Dresden wird der "Allgemeine deutsche Töpferverein" gegründet, der auch Mitglieder in Deutsch-Österreich und der Schweiz organisiert. 23./27. August 1873 Der Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, der für Nürnberg verboten wurde, tagt in Eisenach. Der Kongreß empfiehlt den Parteimitgliedern, die Parteiprinzipien nach Kräften durch Wort und Schrift unter der Landbevölkerung zu verbreiten, um dadurch möglichst auch einer gewerkschaftlichen Organisation der Landarbeiter Bahn zu brechen. 20./22. September 1873 Auf dem Kongreß der Klempner in Frankfurt/Main wird der "Verband der deutschen Klempner (Spengler) und verwandten Berufsgenossen" gegründet. Sein Sitz ist Hamburg. An seiner Spitze steht Theodor Metzner. 28. September 1873 In der SDAP tritt erneut das Bemühen hervor, die Gewerkschaften in einer übergeordneten Organisation fest zusammenzuschließen. Mit dieser Frage befaßt sich in Braunschweig eine Konferenz der Vorsitzenden der Internationalen Gewerksgenossenschaften. Wiederum spielt Th. Yorck eine führende Rolle bei der Verwirklichung dieses Anliegens. Oktober 1873 Die Generalversammlung der "Gewerkschaften der Holzarbeiter" in Nürnberg sieht es als wichtigste Zukunftsaufgabe an "die Mitglieder der Fachvereine für die gemeinsame Agitation und einheitliche Organisation zu gewinnen". 1. Oktober 1873 Die "Allgemeine Buchbinder-Zeitung" erscheint zum ersten Mal in Leipzig als Wochenzeitung. 29. November / 1. Dezember 1873 In Würzburg wird der "Deutsche Senefelder-Bund" als Vereinigung der Gauverbände der Lithographen und Steindrucker gegründet. Ihm sind auch Österreicher angeschlossen.
1./3. Dezember 1873 Ein "Kongreß der christlichen Arbeiter von Rheinland und Westfalen" in Aachen hat das Ziel, einen Allgemeinen christlichen Arbeiterverein für ganz Deutschland zu gründen. Der Kongreß beschließt: 1. den Arbeitern die Gründung von Bezirksvereinen zu empfehlen, "damit auf diese Weise die Verbindung aller christlichen Arbeiter Deutschlands zu einem Vereine möglich werde"; 2. ein Komitee zur Ausführung dieses Beschlusses einzusetzen. Andere Resolutionen fordern unbeschränkte Koalitionsfreiheit der Arbeiter, einen Normalarbeitstag von höchstens zehn Stunden in Fabriken und acht Stunden für unterirdische Arbeit, angemessene Löhne, Abschaffung der industriellen Arbeit für Frauen und möglichste Einschränkung für Mädchen, Teilnahme der Arbeiter bei Aufstellung der Fabrikordnung und Verwendung der Strafgelder, gewerbliche Schiedsgerichte. Schließlich wird die Begründung von "Erwerbsgemeinden" (Produktivgenossenschaften) und Baugenossenschaften, sowie Bekämpfung des Wohnungswuchers empfohlen. Durch interne Differenzen und den Kulturkampf scheitert dieser Versuch.
Buchbindereibesitzer der großen Städte koordinieren ihre Bemühungen, den jungen Buchbinderverband zu zerschlagen: durch Maßregelungen führender Gewerkschafter, durch die Erstellung "schwarzer Listen" und durch Aussperrung wegen Verbandsmitgliedschaft. In seinem Buch "Emanzipationskampf des vierten Standes" weist Rudolf Meyer darauf hin, daß es in Deutschland - im Gegensatz zu Großbritannien - noch nicht gelungen ist, die Arbeiter zu regelmäßiger Zahlung selbst geringer Beiträge anzuhalten. Zweifellos ist dies häufig durch Beschäftigungsschwankungen bedingt. Die oft erhebliche finanzielle Unterstützung von Streikenden werden nicht durch die Mitgliederbeiträge, sondern durch improvisierte Sammlungen aufgebracht.
Am Widerstand auch der Nationalliberalen scheitert eine Ende 1873 auf Druck des gewerblichen Mittelstandes von O. v. Bismarck eingereichte Kontraktbruchvorlage.
Januar 1874 Nach Versetzung des Staatsanwaltes H. v. Tessendorff nach Berlin nehmen die Prozesse gegen Parteimitglieder beider Parteien stark zu. So werden allein in Preußen in den ersten sieben Monaten 87 Mitglieder des ADAV zu insgesamt 211 Monaten und drei Wochen Gefängnis verurteilt. Das schärfere polizeiliche Vorgehen gegen Parteimitglieder trägt wesentlich dazu bei, die Einigung beider Parteien zu beschleunigen. 15. Januar 1874 Th. Yorck gibt in Hamburg das Blatt "Die Union" - Organ für die Holzarbeiter Deutschlands - heraus und nimmt maßgeblichen Einfluß auf das Zustandekommen von Abmachungen zwischen den Gewerkschaftsverbänden als wesentliche Schritte zur Bildung einer neuen Gewerkschaftsunion. So vereinbaren die Gewerkschaft der Holzarbeiter und die Internationale Metallarbeiterschaft, daß jeweils die Gewerkschaft an Orten, an denen nur eine Gewerkschaft vertreten ist, den Mitgliedern der anderen Gewerkschaften Reiseunterstützung zahlt.
2. März 1874 Der preußische Minister des Innern weist die Behörden in einem Zirkular an, verschärft gegen die Sozialdemokratie vorzugehen und insbesondere den § 130 ("Klassenhaßparagraph") des Reichsstrafgesetzbuches, der Strafverfolgung gegen die sozialdemokratische Agitation und Propaganda androht, in verstärktem Maße anzuwenden. 15. März 1874 Die "Union" schreibt: "Klassengesetzgebung, Klassenjustiz lautet jetzt die Parole, Ausnahmegesetze gegen die Arbeiter ist das Feldgeschrei, durch welches der Krieg gegen die Emanzipationsbestrebungen des vierten Standes, des Proletariats, auf der ganzen Linie eröffnet werden soll." 5./9. April 1874 Die von dem Eisen- und Metallarbeiterkongreß in Hannover ausgehenden Bestrebungen, eine einheitliche Metallarbeitergewerkschaft zu gründen, bleiben erfolglos. 15. Mai 1874 Th. Yorck behandelt in der "Union" und im "Volksstaat" in mehreren Artikeln die Frage "Wollen wir eine Gewerkschaftsunion oder nicht?". Die Delegierten, denen Zentralisationsbestrebungen ein Greuel gewesen seien, hätten in Erfurt zu viel Einfluß gehabt und die Beschlüsse würden deshalb zugunsten der Fachvereine gewirkt haben, anstatt die Zentralverbände zu Eckpfeilern der Union zu machen. Den Fachvereinen spricht Th. Yorck jede Existenzberechtigung ab.
26. Mai / 5. Juni 1874 Auf der Generalversammlung des ADAV in Hannover wird erneut heftig über die Notwendigkeit von Gewerkschaften diskutiert. Ein Antrag verlangt, die Generalversammlung solle erklären, die Gewerkschaften seien nicht geeignet, die Arbeiter gegen die Unterdrückung des Kapitals zu schützen. Die Gewerkschaften gefährdeten vielmehr, da sie auf der unmöglichen Selbsthilfe der Arbeiter beruhten, nicht nur deren Widerstandskraft, sondern auch die radikalen, sozialpolitischen Bestrebungen des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins. Die Forderung, die Generalversammlung soll weiter beschließen, daß alle Gewerkschaften, deren Mitglieder angeblich der Lehre Lassalles huldigten, binnen Jahresfrist aufzulösen und die Mitglieder dem Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein zuzuführen seien, wird zurückgezogen.
Ende Mai 1874 Die Generalversammlung des "Allgemeinen Tischler-Vereins" in Frankfurt a. Main lehnt die vom Allgemeinen Deutschen Arbeiterverein gewünschte Auflösung ab. 4. Juni 1874 Die Firma Siemens verfügt, daß jedem "Beamten" (Angestellten) des Unternehmens ein 14-tägiger Erholungsurlaub zusteht. Die Arbeiter müssen darauf noch 35 Jahre warten. 5. Juni 1874 Die Generalversammlung des Allgemeinen Deutschen Arbeiterunterstützungsverbandes in Hannover diskutiert die Wiedereinführung des alten Statuts des Arbeiterschaftsverbandes. Das wird nicht erreicht. Doch die Gewerkschaften sollen bewogen werden, dem Unterstützungsverband beizutreten - ohne ihre Selbständigkeit aufzugeben -, "um dadurch eine bessere Zentralisation und ein planmäßiges Vorgehen innerhalb der heutigen Streikbewegung zu ermöglichen, und zwar in der Form, daß die einzelnen Gewerkschaften einen gewissen monatlichen Beitrag an die Hauptkasse des Unterstützungsverbandes zahlen, wofür ihren streikenden oder von der Arbeit ausgeschlossenen Mitgliedern Unterstützung nach Beschluß des Zentralausschusses geleistet werden muß.
21./26. Juni 1874 Der Buchdruckertag in Dresden macht es - nach zahlreichen Maßnahmen von Prinzipalen, den Tarifvertrag nicht einzuhalten - für Verbandsmitglieder obligatorisch, nur zu tariflichen Bedingungen zu arbeiten. Er appelliert an den Unternehmensverband, seine Mitglieder ebenfalls zur Einhaltung des Tarifvertrages zu verpflichten. 23./25. Juni 1874 Am Gewerkschaftskongreß in Magdeburg nehmen 30 Delegierte teil, die die Internationale Metallgewerkschaft, die Gewerkschaft der Holzarbeiter, die Maurer- und Zimmerergewerksgenossenschaft, den Allgemeinen Deutschen Schneiderverein, die Internationale Gewerkschaft der Schuhmacher und den Allgemeinen Deutschen Sattlerverein vertreten. Die Tagung wird ständig von der Magdeburger Polizei behindert, indem sie die Sitzungen am 24. Mai untersagt und am 25. Mai erst nachmittags zuläßt.
6. Juli 1874 In Berlin wird der "Allgemeine Maurer- und Steinhauerverein" gegründet. 18./21 Juli 1874 Der Kongreß der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Coburg anerkennt die Solidarität der industriellen und ländlichen Arbeiter und will durch planmäßige Agitation die sozialistischen Grundsätze unter der Landbevölkerung verbreiten. 1. August 1874 Die erste Ausgabe des "Pionier", Organ der sozialistischen Gewerkschaften, erscheint in Berlin. 25. August 1874 Das Stadtgericht Berlin ordnet die vorläufige Schließung des "Allgemeinen Schuhmachervereins" nach § 8 des preußischen Vereinsgesetzes an. 4. September 1874 Der "Deutsche Zimmererbund" in Berlin wird verboten. 8. September 1874 Das Präsidium des "Allgemeinen Deutschen Arbeiterunterstützungsverbandes" beschließt, in Anbetracht der wachsenden polizeilichen Verfolgungen, den Verband selbst aufzulösen:
Oktober 1874 "Die Union", die nun als "Organ der deutschen Gewerksgenossenschaften" erscheint, hat außerhalb der Gewerkschaft der Holzarbeiter, deren Organ sie weiterhin bleibt, erst 350 Abonnenten. "Die Ameise", wöchentliches Verbandsorgan des Gewerkvereins der Porzellanarbeiter, erscheint zum ersten Mal. 21. Oktober 1874 Der "Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller" wird in Berlin gegründet. Ziele der Unternehmerorganisation sind die Durchsetzung des Schutzzollsystems und der gemeinsame Kampf gegen die Forderungen der Arbeiterbewegung, insbesondere der Sozialdemokratie. 2. November 1874 Nach einer "Verordnung über einen Urlaub der Reichsbeamten" soll der "Urlaub zur Wiederherstellung der Gesundheit" den Reichsbeamten nur auf Antrag gewährt werden, wenn eine ärztliche Bescheinigung über die Notwendigkeit beigefügt ist. Beurlaubungen von Beamten können auf Grund der bestehenden Beamtenreglements in Ausnahmefällen bewilligt werden. Auf diese Bescheinigung kann die entscheidungsberechtigte Dienststelle jedoch "ausnahmsweise" verzichten. In der Folgezeit setzt sich der unwidersprochene Standpunkt mehr und mehr durch, die Erholungsbedürftigkeit des Beamten sei grundsätzlich einmal im Jahr gegeben. Schon 1871 war bei einer allgemeinen Postkonferenz in Berlin der Gedanke aufgetaucht, Erholungsurlaub regelmäßig allen etatmäßig angestellten Reichspostbeamten einschließlich der Unterbeamten auch ohne besondere ärztliche Bescheinigung unter Fortzahlung der Dienstbezüge zu gewähren. Ein solcher allgemeiner Urlaub wird 1873 versuchsweise und 1875 für dauernd vom Reichspostamt eingeführt und beträgt - allerdings ohne jeden Rechtsanspruch - z.B. für die Postunterbeamten 8 Tage im Jahr. Seit 1894 kann er auf Antrag auf 10 Tage verlängert werden. Außerdem ist es von diesem Jahre an auch den nicht etatmäßig angestellten Unterbeamten möglich, "in begründeten Fällen" bis zu 7 Tage Urlaub zu erhalten. 3. Dezember 1874 Der "Allgemeine deutsche Maurer- und Steinhauerbund" wird gegründet. Er tritt an die Stelle des "Allgemeinen deutschen Maurer- und Steinhauervereins", ohne sich wie dieser auf den ADAV festzulegen. © Friedrich Ebert Stiftung | technical support | net edition fes-library | Februar 2000 |