Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den
Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger
Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der
Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999
Von 42.000 vom Bäckerverband befragten Gesellen leben noch immer 59,1% zu Kost und Logis bei ihrem Arbeitgeber, weitere 38% haben dort Wohnung ohne Kost, nur 34,5% haben keine Wohnung und keine Kost bei ihrem Meister. Seit 1903 wurden über 10.500 Personen wegen Vergehens gegen den § 153 der Gewerbeordnung angeklagt. Von ihnen wurden rund 6.370 verurteilt. Das Strafmaß liegt zwischen weniger als vier Tage bis drei Monate. 80% der 30.000 Siemensarbeiter in Berlin gehören dem wirtschaftsfriedlichen Verband an; die Hüttenvereine des Röchling-Konzerns erfassen ca. 50% der Gesamtbelegschaft, die Werkvereine der Gutehoffnungshütte in Oberhausen und der Krupp-Werke in Essen haben mehr Berg- und Hüttenarbeiter organisiert als die freigewerkschaftlichen Verbände in diesen Orten. Adolf Levenstein veröffentlicht Protokolle über die Befragung von 5.000 Bergarbeitern, Textilarbeitern und Metallarbeitern, in denen die Bewußtseinslage der Industriearbeiter eindrucksvoll dokumentiert wird: Bei einer Untersuchung über die Arbeitsverhältnisse in der Textilindustrie stellt Marie Bernays fest, daß "in den langen, lärmerfüllten Spinnsälen nicht von einer wirklichen Arbeitsgemeinschaft zwischen den Menschen gesprochen werden kann". Sie seien zwar mit derselben Arbeit beschäftigt, aber "das stete Geräusch, das unaufhörliche Surren der vielen sich drehenden Spindeln" mache jede Unterhaltung unmöglich und schließe den einzelnen Arbeiter "durch eine undurchdringliche Mauer von Lärm" von allen Vorgängen im Fabriksaal ab, "diejenigen ausgenommen, zu deren Verständnis das Auge genügt". Alfred Weber stellt in einem Artikel im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik fest, das 40. Lebensjahr stelle "den entscheidenen Knick" im Berufsleben des Industriearbeiters dar: "Dann, wenn er auf der Höhe seiner geistigen Kräfte steht, dann bricht sein Berufsleben plötzlich vor ihm zusammen, dann sieht er einen Abgrund, in den er hinabstürzt, oder wenn es besser steht, eine schiefe Ebene, die ihn hoffnungslos schließlich doch da hinabführt ... Das Fürchterliche ist, daß das 'Avancieren' hier wie ein bloßer kurzer starker und verzehrender Rausch der Jugend eintritt und daß es, wenn der volle Lebensmittag da ist, durch die mageren Suppen, das Fasten und vielleicht das Hungern des Zerbrochenseins ersetzt wird." Die von dem Nationalökonom Ludwig Bernhard veröffentlichte Kampfschrift "Unerwünschte Folgen der deutschen Sozialpolitik" löst eine heftige kontroverse Diskussion zwischen Gegnern und Befürwortern der Sozialreform aus. So vertritt L. Bernhard die Thesen, das Genehmigungsverfahren gewerblicher Betriebe erschwere die deutsche Wettbewerbsfähigkeit, die staatliche Kontrolle und Regelung des Arbeiterschutzes in privaten Betrieben lähme die Unternehmerinitiative, die staatliche Arbeiterversicherung führe zu Simulation und Rentenhysterie. Liberale Sozial- und christliche Sozialreformer und ihre Zeitschriften kritisieren die Thesen L. Bernhards. So betont F. Hitze die "segensreichen Wirkungen unserer Sozialpolitik im Bereich der Arbeiterversicherung und des Arbeiterschutzes und für die wirtschaftliche und kulturelle Hebung unseres Volkes".
Stichtag:
1912
Im Bäckergewerbe besteht auch eine hohe Fluktuation.
Die Polizei greift 1912 bei 35,9% aller Streiks ein. Der Anteil der Streiks, die die Staatsanwaltschaft beschäftigen, liegt bei 22,4%.
Viele der befragten Arbeiter belastet die Gewißheit, lebenslänglich Lohnarbeiter sein zu müssen. Dazu kommt noch die bedrückende Vorstellung, daß - wie ein Textilarbeiter es drastisch formuliert - auch die Kinder als "Arbeitssklaven" zur Welt gekommen seien.
Die Bereitschaft, sich gewerkschaftlich zu engagieren, erwächst bei vielen Industriearbeitern aus der Erkenntnis der "Dauer und Erblichkeit" ihres Berufsschicksals und daß sie die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse als ungerecht und unsozial empfinden, wobei die Aussichten, durch die politische und gewerkschaftliche Arbeiterbewegung aus ihrer ökonomischen und sozialen Abhängigkeit befreit zu werden, von den durch Levenstein befragten Arbeitern zum Teil sehr skeptisch beurteilt wird: 43% der Befragten glauben nicht daran, daß ihre Lage durch die Arbeiterbewegung bald grundlegend verändert werde. Als Argument wurde immer wieder angeführt, daß die Macht des Kapitals zu groß sei, daß zu wenige Arbeiter organisiert seien, daß die Gewerkschaftsführer zu vorsichtig und zu ängstlich agieren. Immerhin habe aber die Arbeiterbewegung ihre Daseinsbedingungen erleichtert und verbessert.
Die Organisationsbereitschaft des Arbeiters ist noch immer sehr häufig eng an die berufliche Qualifikation gebunden und hängt mit seinem innerbetrieblichen Status und dem Stellenwert seiner Teilarbeit im Produktionsprozeß zusammen.
Ähnliche Verhältnisse wie in der Textilindustrie bestehen auch in anderen Produktionszweigen, etwa in der Stahlerzeugung und der Metallverarbeitung oder in den Großbetrieben der Holzindustrie, in denen die Arbeitsatmospähre von Maschinenlärm geprägt ist.
Daneben gibt es zahlreiche Produktionsformen, bei denen die Mechanisierung und die Lärmbelastung wesentlich geringer sind und bei denen eine Kommunikation zwischen den Arbeitnehmern während der Arbeitszeit möglich ist, wie z.B. in der Lederindustrie oder in den Kontroll-, Reparatur- oder Magazinabteilungen.