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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
25./26. Januar 1908

Eine Konferenz des Zentralrates mit den Generalräten nimmt einstimmig Leitsätze an:
"Wir erstreben die Hebung der Arbeiterklasse zur Selbständigkeit und Gleichberechtigung auf dem Boden der bestehenden Gesellschaftsordnung. Zu diesem Zwecke arbeiten wir mit an einer organischen Reform dieser Ordnung durch Selbsthilfe und Staatshilfe.
Wir gehen dabei von der Erkenntnis aus, daß der Arbeiterstand sich in einer unerfreulichen Lage befindet durch seine unsichere und unselbständige Existenz als Lohnarbeiter. Wir wollen dem Arbeiter innerhalb des Lohnverhältnisses eine gesicherte Existenz erkämpfen.
Wir scheiden uns von den sozialdemokratischen Gewerkschaften durch den Grundsatz der parteipolitischen Neutralität und dadurch, daß wir an Stelle des grundsätzlichen Klassenkampfes und der marxistischen Forderung des Kollektiveigentums in erster Linie die Vereinbarung mit den Arbeitgebern in Form von Tarifverträgen setzen und uns auf nationalen Boden stellen.
Wir scheiden uns von den christlichen Gewerkschaften durch den Grundsatz der religiösen Neutralität, den wir unverändert hochhalten. Wir scheiden uns von ihnen, indem wir glauben, daß nur auf dem Boden politischer und geistiger Freiheit der Kampf der Arbeiter für Selbständigkeit und Gleichberechtigung zum Erfolge führen kann.
Wir scheiden uns von allen Organisationen gelben Charakters durch die Erkenntnis, daß beide Produktionsfaktoren sich getrennt und in voller Unabhängigkeit voneinander organisieren müssen.
Wir sind der Überzeugung, daß die Arbeiterfrage nicht nur eine Magenfrage ist, sondern weit mehr von großen Zeitidealen getragen wird, deren Weckung in jedem Arbeiter erste Pflicht der Organisationen ist. Als diese Ideale betrachten wir: 1. Das nationale Ideal. 2. Das Ideal sozialer Gerechtigkeit in der Gesellschaft, des Schutzes der Schwachen gegen die Starken. 3. Das Ideal geistiger und politischer Freiheit und Selbstverwaltung. 4. Das Ideal ethischer Erziehung und Hebung des Einzelmenschen zu wirksamerer Mitarbeit in der Gesamtheit.
Wir fordern von den Unternehmern:
Die Anerkennung der vollen Gleichberechtigung der Arbeiter bei der Regelung der Festsetzung der Arbeitsbedingungen durch den Abschluß von Tarifverträgen mit Sicherung eines Mindestverdienstes, gleichberechtigte Mitwirkung bei Errichtung von Tarif- und Einigungsämtern, fortschreitende Aufbesserung der Löhne und Verkürzung der Arbeitszeit bis auf längstens 8 Stunden, wirksamen Schutz für Leben, Gesundheit und Sittlichkeit der Arbeiter und Angestellten beiderlei Geschlechts.
Gleiche Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit.
Jährlichen Urlaub aller Arbeiter und Angestellten unter Fortzahlung des Lohnes.
Wir fordern zunächst vom Staat:
Zehnstündigen Maximalarbeitstag für alle Industrie- und Verkehrsarbeiter, achtstündigen Maximalarbeitstag für alle Arbeiter der schweren Industrie (Eisen, Hütten, Bergbau), sowie der chemischen Industrie, Glas- und Spiegelfabrikation und für alle Kontorangestellten.
Schutz der Frauenarbeit und Verbot der Kinderarbeit.
Ausbau der Arbeiterversicherung, insbesondere Ausdehnung auf die Hausindustrie. Errichtung einer Witwen- und Waisenversicherung. Ausbau der Arbeitslosenversicherung durch die Gewerkvereine unter Mitwirkung der Gemeinden nach dem Genter System.
Volle politische Selbstverwaltung aller Versicherungseinrichtungen. Freies Koalitionsrecht, freies Vereins- und Versammlungsrecht, Arbeitskammern und Reichsarbeitsamt, Rechtsfähigkeit der Berufsvereine. Obligatorische Schiedsgerichte für alle Arbeitsstreitigkeiten mit Verhandlungszwang.
Ausdehnung der Gewerbe- und Kaufmannsgerichte auf alle Gemeinden. Gesetzliche Einführung des Verhältniswahlsystems zu allen sozialen Wahlen.
Rechtliche Regelung des Tarifvertragswesens.
Verbesserung der Volksschule. Erleichterung des Besuchs höherer Schulen für Unbemittelte.
Politische Gleichberechtigung in Reich, Staat und Gemeinde.
Beseitigung aller indirekten Steuern auf Lebensmittel und Verbrauchsgegenstände."
Im Programm wurde 1907 noch erklärt, daß die Gewerkvereine in dem Verhältnis zwischen Unternehmern und Arbeitern "grundsätzlich dem Wege der Verständigung den Vorzug geben, scheuen aber auch den Kampf nicht, wo ihren berechtigten Forderungen die Anerkennung versagt wird, oder ihre Rechte und Interessen verletzt werden".
Diese Feststellung fehlt nun in den Leitsätzen.



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