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TITEL/INHALT

Chronologie der deutschen Gewerkschaftsbewegung von den Anfängen bis 1918 / Von Dieter Schuster. Mit einem Vorw. von Rüdiger Zimmermann und Registern von Hubert Woltering. - Bonn : Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung, 1999

Stichtag:
22. Juni 1889

Der Reichstag nimmt den Gesetzentwurf über die Invaliditäts- und Altersversicherung gegen die Stimmen der Sozialdemokratie, des Freisinns und der Mehrheit der Zentrumsfraktion an.
Mit dem Gesetz werden alle Arbeitnehmer - also auch Angestellte - über 16 Jahre, die nicht mehr als 2.000 DM jährlich verdienen, zum Eintritt in die Invaliditäts- und Altersversicherung verpflichtet. Von nun ab soll jeder, der ohne eigenes Verschulden nicht mehr in der Lage ist, "den dritten Teil desjenigen zu erwerben, was körperlich und geistig gesunde Personen mit ähnlicher Ausbildung in derselben Gegend zu verdienen pflegen", unbeschadet seines Alters eine Invalidenrente erhalten, während Arbeitnehmern "ohne Rücksicht auf die wirkliche Höhe ihres Einkommens" gesetzliche Altersrente zugestanden wird. Der Anspruch auf Bezug der Altersrente wird auf das vollendete 70. Lebensjahr festgelegt.
Die Beitragszahlung wird neben einem Reichszuschuß jeweils zur Hälfte von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht.
Invalidenrenten können nach einer Karenzzeit von 5 Beitragsjahren bei Altersrenten nach 30 Jahren in Anspruch genommen werden.
Als Träger der Versicherungen werden Landesversicherungesanstalten eingerichtet, die sich nach dem Territorialprinzip organisieren und ihre Arbeit als Selbstverwaltungsaufgaben realisieren.
Der Vorstand einer Versicherungsanstalt setzt sich paritätisch aus Vertretern der Arbeitnehmer und Arbeitgeber zusammen. Hinzu kommen Beamte, denen die Verwaltung der laufenden Geschäfte obliegt.
Das Gesetz tritt am 1. Januar 1891 in Kraft.

Nachdem durch die Sozialgesetzgebung, die Verwaltung und die Rechtsprechung die freien Hilfskassen zurückgedrängt werden, bieten die Einrichtungen der Sozialversicherungen den Vertretern der Arbeitnehmer eine wirksame, neue organisatorische Plattform.
Die Erfahrungen in der praktischen Arbeit der Selbstverwaltung, die Zehntausende von Arbeitern in den Organen der Sozialversicherung mit Vertretern anderer Bevölkerungsschichten teilen, haben die Klassenspannungen zweifellos gemildert, der gesellschaftlichen Isolierung der Arbeiter entgegengewirkt und reformistische Tendenzen in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gestärkt.
Die Gewerkvereine anerkennen die Alters- und Invalidenversicherung zwar als wünschenswert, lehnen aber auch hier die Zwangsversicherung ab. Den Arbeitern, welche der Alters- und Invalidenversicherung bedürfen, bieten die auf genossenschaftlicher Selbsthilfe beruhenden Kassen, zumal wenn durch ein Normativgesetz geschützt und gefördert, eine ausreichende, den Verhältnissen angepaßte Versorgung, die nicht auf Kosten ihres höchsten Gutes, der persönlichen Unabhängigkeit und Koalitionsfreiheit, erfolgt. Die Mißbilligung wird noch verstärkt durch den ungenügenden Betrag der Rente und die überaus schweren und strengen Bedingungen für die Erlangung, den gänzlichen Beitragsverlust beim Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, die tatsächliche Einführung der obligatorischen Arbeitsbücher, die höchst ungleiche und ungenügende Beteiligung der Arbeiter an der Organisation und Verwaltung der Versicherungsanstalten und den Ausschluß der freien Krankenkassen von der Wahl der Arbeitervertreter, den Ausschluß der freien Alters- und Invalidenkassen von dem Rechte der Konkurrenz mit den Zwangsanstalten.
Trotz aller Schwierigkeiten wird die Invalidenversicherung im Laufe der Jahre bei der Arbeiterbevölkerung akzeptiert. Denn ihre Rentenleistungen bremsen die alltägliche materielle Not doch etwas und bewahren in manchen Fällen tatsächlich auch vor dem Absinken in die Armut. Vor allem aber beteiligen sich die Invalidenversicherungsträger an der Bekämpfung der Volkskrankheiten, und zwar durch die Gründung von Heilstätten und durch die Finanzierung des Arbeiterwohnungsbaues. Vermutlich werden dadurch bis zum Ersten Weltkrieg 300.000 Wohnungen mehr gebaut.
Nach der Verabschiedung des Gesetzes über die Invalidenversicherung beschließt die Verbandsinvalidenkasse der Gewerkvereine am 8. September 1889 ihre Auflösung.



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